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GULAG-Inseln im Abansker Bezirk

(Forschungsarbeit aus der Geschichte)

Projektleiterin: N.W. Kaljakina
Mitautoren: Mitglieder des Klubs „Landsleute“ – W.S. Belskaja, Olga Beljakowa, Jelena Denisowa, Anna Djundina, Anna Posoch, Julia Jodasewitsch, Galina Markewitsch, Lisa Semkina (Abansker Allgemeinbildende Mittelschule N° 1).

Die Geschichte des Abansker Bezirks ist Teil der russischen Geschichte, und auch die stalinistischen Repressionen spiegel sich in ihr deutlich wider.
Wir haben das in einer ganzen Reihe von Jahren von den Mitgliedern des Heimatkundeklubs „Landsleute“gesammelte Material über die die Denisowsker Kolonie und die politisch Verfolgten systematisiert, haben uns bemüht die Ströme der Sonderkontingente und ihre Rolle in der Geschichte des Abansker Bezirks genauer zu definieren. Angesichts des Fehlens, aber auch der Unzugänglichkeit von Archiv-Materialien, haben wir versucht, die Geschichte der Denisowkser Kolonie anhand der Erinnerung von alteingesessenen Bewohnern zu rekonstruieren.

Denisowka (die kleine Heimat von N.W. Kaljakina und Lena Denisowa) erhielt seinen Namen von den Brüdern Denisow, die dort ein Stück Land mit einem Einzelgehöft besaßen. Kopaj-Gorod (wörtl. „grab’ die Stadt aus“; Anm. d. Übers.) – eine der Straßen des Dörfchens, heißt möglicherweise deswegen so, weil sich an dieser Stelle einmal die ersten Erdhütten der Brüder Denisow befanden. Die Geschichte des Dorfes hängt auch mit der stalinistischen Epoche zusammen, der Zeit der politischen Verfolgungen und Verbannung. Davon zeugen die Straßennamen: deutsche Straße, Konvoistraße (so nennen die Alteingesessenen mitunter die Hauptstraße). Während die Kolonie dort existierte, hatten sich in Kopaj-Gorod Konvoi-Soldaten mit ihren Familien niedergelassen.

Der Abansker Bezirk – Ort der Verbannung

Der Abansker Bezirk enstand während der Stolypinschen Agrarreform als ein aus zahlreichen Nationalitäten bestehender Bezirk. Aber ein Zuwachs der Bevölkerung wurde auch in den Jahren der stalinistischen Repressionen beobachtet, als Deutsche aus dem Wolgagebiet und Finnen aus der Umgebung von Leningrad und auch ein Zug mit pontischen Griechen aus Krasnojarsk hierher deportiert wurden. Während der Chruschtschowschen Tauwetterperiode wurden Letten, Esten und West-Ukrainer, die zwischen 1939 und 1949 als „Volksfeinde“ hierher verschleppt worden waren, rehabilitiert. Auf den örtlichen Friedhöfen lenken eine ungewöhnliche Kreuzesform, Aufschriften in gotischer Schrift oder Nachnamen mit einem für diese gegend ungewöhnlichen Klang die Blicke der Besucher auf sich. Aber bei den meisten der im Abansker Bezirk aus den Zügen ausgeladenen Menschen handelt es sich um „Fünfjährige“, Familienmitglieder von „Vaterlandsverrätern“, die nach §58 (Pkt. 16) verurteilt worden waren, sowie „Achtjährige“ des Jahres 1948 „wegen Arbeitsverweigerung in der Kolchose“ (sie wurden übrigens nicht rehabilitiert, weil sie nicht zu den politisch repressierten Personen zählten). Nach dem Krieg gründeten viele hier ihre Familien. Manch einer blieb auch nach seiner Rehabilitierung noch im Bezirk wohnen.

In den 1960er Jahren wurde Aban zum Verbannungsort für Personen „gemäß Ukas des Jahres 1961“ (aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, Tagediebe und Trunkenbolde), die man aus den Großstädten ausgewiesen hatte. Die Anwendung des Ukas wurde äußerst einfach gehandhabt – unbequeme Mitarbeiter wurden aus der Fabrik entlassen und sogleich als Faulpelze verschleppt. Und jede beliebige Person konnte im Nu zu einem werden, der „sich in böser Absicht seinen Pflichten in der Kolchose entzog“; der Kontingentplan jedenfalls konnte jederzeit von einem beliebigen Leiter aus den Reihen der „Abweichler“ und auf Kosten von Müttern mit Säuglingen aufgefüllt werden – und sogar vor ehemaligen Frontsoldaten, die zu Invaliden geworden waren, schreckte man nicht zurück. Gemäß diesem Ukas gelangten Aktivisten religiöser Gemeinden, Freiberufler wie Poeten, Musiker, Künstler, Sänger und Schauspieler als „Dauer-Arbeitsscheue“ in unseren Bezirk. 8 Jahre ohne das Recht auf Rehabilitation! In den 1990er Jahren legte die Generalstaatsanwaltschaft fest, daß der Ukas von 1961 sich nicht auf „politische Verfolgungen“ bezog. Die letzte Massen“anfrage“ nach einem Sonderkontingent wurde während der „Olympiade 1980“ umgesetzt, als man aus Moskau „unzuverlässige und nicht vertrauenswürdige Personen zweifelhaften Benehmens
auswies.

Das Sonderkontingent wurde in den Dörfern und Waldrevieren untergebracht. Nach den Erinnerungen von Petr Leontewitsch Podoljak, der ab Ende der 1940er Jahre bis 1963 in der Abansker Kommandantur arbeitete, arbeitete das Haupt-Sonderkontingent in der Ona-Tschinsker Waldwirtschaft. In den Revieren lebten die Neuankömmlinge in Gemeinschaftsbaracken. Die Einhaltung des Lagerregimes wurde von den jeweiligen Kommandanten kontrolliert. Es war streng verboten, die Reviere zu verlassen, auch nicht vorübergehend. Bei ein oder zwei Verletzungen oder Übertretungen schrieb der Kommandant eine Eingabe ans Gericht, das die Verbannungsdauer entsprechend heraufsetzen konnte. Gleichzeitig konnte man bei Gericht aber auch erwirken, daß gut arbeitende Verbannte vor Ablauf der eigentlichen Frist entlassen wurden, sogar schon nach der Hälfte der Haftzeit. „Die Leute im Sonderkontingent waren sehr verschiedenartig, - erinnert sich Petr Leontewitsch, - aber es gab sehr viele fleißige und ordentliche Menschen unter ihnen. Ich bemühte mich, entsprechend viele, ausführliche Entlassungsgesuche für solche Leute zu schreiben, woraufhin Richter Rafejtschik und Staatsanwalt Belkin meinten: „Wenn man dir recht geben würde, müßte man denen den Lenin-Orden verleihen!“ In den 1960er Jahren veränderte sich die soziale Zusammensetzung der Verbannten erheblich. Waren unter ihnen in den 1930er und 1940er Jahren noch viele gebildete, intelligente Menschen, so schickte man in den 1960er Jahren eher Leute hierher, die tatsächlich nicht arbeiten wollten; sie wurden in den Forstrevieren durch harte Arbeit „umerzogen““.

Damals gab es im Abaner Bezirk 5 Kommandanten. Sie sollten ständig die Einhaltung des Regimes in den Waldrevieren kontrollieren. Eine besondere Stellung nahm der Kommandant in Beresowka – Semjon Archipowitsch Odinzow – ein. Er sollte die Deportierten unter Beobachtung halten. In den Dörfern Matschino, Tagaschi, Noschino und Beresowka waren die Deutschen kompakt angesiedelt worden. Die Deportierten mußten sich zweimal im Monat beim Kommandanten melden und sich registrieren lassen. Die alt eingesessenen Deutschen erinnern sich mit Respekt anihn.

Während der Deportation wurden viele Familien auseinandergerissen; bis zur Perestrojka konnte niemand seinen Wohnort verlassen. Erst in den 1980er Jahren begannen sie zu ihren Verwandten abzureisen, manche begaben sich nach kasachstan, viele – nach Deutschland. Das Schicksal jedes einzelnen von ihnen ist mit Tragik verbunden.

Vera Friedrichowna Filbert (Vilbert?) erfuhr im Alter von nur einem Jahr die „stalinsche Politik“. Ihre Familie wurde 1942 aus dem Wolgagebiet deportiert. Der Vater wurde sofort verhaftet, die Mutter starb auf dem Weg nach Kasachstan. Sie Kleine, noch ein Säugling, wurde von einer Frau angenommen, die man nach Sibirien geschickt hatte. In Beresowka, Bezirk Aban, lebte sie also in einer fremden Familie; später zog sie nach Denisowka um. Vera Fjodorowna (wie man sie bei uns nannte) war ein geachteter Mensch, eine ausgezeichnete Schweinehirtin (zweimal nahm sie an der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft teil). Sie zog drei Kinder groß, half später ihren Enkeln. Sie besaß einen bewundernswerten Charakterzug – für jede beliebige Vorgehensweise, jedes Verhalten versuchte sie eine Rechtfertigung zu finden, und sie selbst tat nie jemandem etwas Böses; allerdingskonnte sie bis an ihr Lebensende nicht verstehen, warum man ihr Kindheit und Angehörige genommen hatte. Erst in den 1980er Jahren erfuhr Vera Fjodorowna über das Schicksal ihrer Verwandten. Es gelang ihr zum Bruder nach Kasachstan zu fahren und später ihre Brüder in Deutschland zu besuchen, aber für immer dorthin ziehen wollte sie nicht: „Dort ist bicht meine Heimat, meine Kinder und Enkel leben hier, hier will ich auch sterben“. Und auf ihrem Grab auf dem örtlichen Friedhof der Rechtgläubigen steht ein katholisches Kreuz mit ihrem in gotischer Schrift geschriebenen deutschen Nachnamen – als mahnenede Erinnerung an die schreckliche Ungerechtigkeit der Staatsmacht in Bezug auf einen ganz konkret benanntenMenschen.

Und irgendwo in Deutschland liegt Friedrich Friedrichowitsch Naibauer (Neubauer?) begraben. Es gelang ihm dort eine Zeit lang mit seinem Kindern und Enkeln zu leben, aber er kam jedes Jahr einmal nach Denisowka gereist, weil seine Tochter in Sibirien geblieben war und sich hier praktisch auch sein ganzes Leben abgespielt hatte. Er erzählte gern von der sozialen Hilfe, die wunderbaren Alltagsbedingungen, meinte jedoch voller Schmerz und Bitterkeit: „Wozu brauche ich das jetzt alles, da mein Herz zerrissen ist und ich dort keine Ruhe finde“. Als gebildeter, politisch interessierter, umgänglicher Mann, hatte er stets leitende Posten in der Sowchose innegehabt und war im Dorf ein geachteter Mann gewesen – das sind jedenfalls die Erinnerungen, die die Leute an ihn haben.

In Denisowka lebt auch Gottlieb Johannowitsch Wittenbek, geb. 1922, aber alle nennen ihnen nur Konstantin. Seine Kinder trugen den Familiennamen der Ehefrau und ihn nannten sie auch oft Solotuchin. Ist das nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit? Oder dass man ihm 1941 keine Waffen anvertraute, um seine Heimat zu verteidigen? Stattdessen mobilisierten sie ihn in die Trudarmee – zur Zwangsarbeit für solche „Ausgestoßenen“. Es gelang ihm zu überleben. Ab Januar 1941, während des gesamten Krieges, verlegte man ihn von einem Ort zum anderen: Nowosibirsk, Tula, Abakan, Matschino im Bezirk Aban. Ein gutmütiger Mensch, der sein Leben in Würde gelebt hat; auch heute erzählt er nicht gerne von der Vergangenheit, zeigt behutsam seinen Paß mit dem deutschen Familiennamen und bittet darum, keine Notizen zu machen. So lebt er sein Jahrhundert, ohne sich über sein Schicksal zu beklagen, und – er verzeiht alle ihm angetanen Kränkungen und Beleidigungen.

Und so wurden sie zu „unseren Deutschen“. nach der Auflösung der Kolonie in Denisowka entstand dort eine neue Deutsche Straße, die zu 90% (in den 1960er Jahren) von Deutschen bewohnt war. Und jetzt leben im Bezirk viele Leute mit deutschen Familiennamen, an deren Klang man sich schon längst gewöhnt hat.

Die Denisowker Landwirtschaftskolonie

Die Denisowsker Landwirtschaftskolonie ist eine von 424 Kolonien des GULAG-Systems im Lande und eine von 14 in der Region Krasnojarsk.

Da die Sonderarchive ihre Geheimhaltung noch nicht vollständig aufgehoben haben, ist es uns nicht gelungen, Informationen über den sozialen Bestand der Häftlingskolonien zu erhalten. Die Archivbescheinigung weist darauf hin, daß die Kolonie von 1933 bis 1953 existierte und daß in ihr „Diebe von Staatseigentum“ ihre Haft verbüßten. Auf der Suche nach Hinweisen auf politische Häftlinge haben wir ehemalige Konvoi-Soldaten sowie Dienstpersonal befragt, und über die Gefangenen selbst informierten uns deren Angehörige. Von den noch lebenden, politisch verfolgten Augenzeugen war nur einer bereit uns zu erzählen, was es mit diesem „Inselchen“ im Archipel GULAG auf sich hatte und wie es dort war.

Iwan Grigorewitsch Malzew wurde nach der Demobilisierung am 9. November 1946 als stellvertretender Divisionskommandeur der Wachmannschaften (Schutzstab) zur Dienstausübung in die Denisowsker Kolonie abberufen. Er erinnert sich, daß die Denisowsker Landwirtschaftskolonie in den Jahren des Krieges einen gut funktionierenden Mechanismus bei der Produktion von Lebensmitteln und für die Versorgung sämtlicher Kolonien des Kraslag darstellte. Im Zentralrevier (Denisowka) gab es noch in den 1960er Jahren drei riesige, zu zwei Dritteln in den Boden eingegrabene Holzbottiche (zwei von der Größe 3x3 Meter, einer mit einem Durchmesser von 5-6 Metern), die auch noch benutzt wurden. Sie bestanden innen aus Birken- und Zedernplatten. Während der Existenzdauer der Kolonie gab es insgesamt acht solcher Bottiche. Darin wurden Kohl und Gurken eingesalzen, sowie Melonen und Äpfel eingeweicht. Nebenan befand sich ein großer Garten, in dem Johannisbeersträucher, Stachelbeerbüsche Renetten- und Apfelbäume wuchsen. Augenzeugen erinnern sich noch an die studierten Agronomen Tschernobyl und Duma. Die beiden bekamen Hilfe von einer Gefangenen aus Moskau – Tamara Iwanowna Tschumakowa – und von Maria Arsentewna Kluschina – sie stand in freiem Arbeitsverhältnis und lebte bis in die 1980er Jahre in Denisowka; sie stand in dem Ruf, eine hervorragende Gemüsegärtnerin zu sein. Tschernobyl, ein Mann von etwa fünfzig Jahren und mittlerem Wuchs, war die wichtigste Person in der Gartenanlage. An Duma erinnert er sich aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes: er war klein und hinkte sehr stark. Neben dem eigentlichen Obstgarten gab es noch einen 68 ha großen Gemüsegarten, in dem sich wärmeverglaste Gewächshäuser und Treibkästen befanden. Die kostenlose Arbeit der Häftlinge ermöglichte die Ausstattung mit derartigen Anlagen. Maria Silajewa (geb. 1934) weiß noch, wie sie einmal mit Viktor Abramow in den Garten ging und zum ersten Mal so ein Treibhaus betrat (Viktor hatte ihr vorgeschlagen sie zu begleiten und die junge Frau um ein paar Radieschen zu bitten – Bekannte von ihm arbeiteten dort). Das Mädchen war erstaunt über die Größe der Gewächshäuser – man konnte vollkommen aufrecht darin stehen. Sie kann sich auch noch daran erinnern, daß es dort sehr warm war – die Glasfenster waren total beschlagen.

Alle Alteingesessenen wissen noch, daß in der Kolonie wissenschaftliche Selektionsarbeiten durchgeführt wurden. Hier wurden Früh- und Grüngemüse, verschiedene Kohlsorten, Tomaten, Gurken und sogar Melonenkulturen gezüchtet. Als in Denisowska die neue Schule gebaut und der Garten zu deren unmittelbarem Nachbargrundstück wurde, zeigten die beiden Lehrerinnen, Tamara Charlamowna Wenediktowa und Tamara Iwanowna Tschumakowa, die mit ihrer Familie auch auf dem Gartenterritorium wohnte, den Schülern die veredelten Renettensorten, die mit Kirschen gekreuzten Faulbeeren, die vielen Beeren, die sie mit ihrer Größe und ihrem Geschmack in Erstaunen versetzten.

Nina Matwejewna Abramowa (geb. 1919) arbeitete von 1944-1946 als Köchin in der Division. Als freie Angestellte waren ihr alle Produktionsobjekte frei zugängig, und aufgrund ihrer hasuwirtschaftlichen Tätigkeit erhielt sie häufig Lebensmittel aus den Vorratskammern, in denen die Verpflegung für den Versand in die Stadt Kansk sowie den Eigenbedarf gelagert wurde. Mit ihren Worten wurden die Gefangenen sehr gut verpflegt. Es gab insgesamt zwei solcher Vorratslager; sie lagen außerhalb der Lagerzone. In dem einen lagerten Pökelfleisch, Porree, Sauerkohl und Gurken in Fässern. Die ganze Kammer war mit Fässern vollgestellt, und von der Decke hingen Räucherschinken an Haken herab. Das Bei dem anderen handelte es sich um einen Keller-Lagerraum. Er war für das Einlagern von Gemüse bestimmt. Dieser Keller stellte sich als Raum von 50 x 15 Metern dar, der bis zum Dach in den Boden eingegraben war. Das nach zwei Seiten hin geneigte Dach war in Abständen von 5-10 Metern
Mit Ventilationsrohren ausgerüstet. Das Innere des Gebäudes war mit Kalk geweißt. Das Gemüse wurde in abgeteilten Räumen gelagert, die überall entlang des korridors angeordnet waren. Zu beiden Seiten des Kellers gab es Doppeltüren, die eine gleichmäßige Beibehaltung der Temperatur gewährleisteten. Das ganze Jahr über lagerte hier Gemüse. (Das Vorratslager existierte bis 1969 und wurde von der Sowchose zur Aufbewahrung von Melasse genutzt, die man dem Tierfutter beimischte).

Und neben den Vorratslagern befand sich der Schlachthof, in dem die Schweine und Bullen verarbeitet wurden; hier gab es auch eine Räucherei. In diesem Teil der Kolonie standen die Kantine für Konvoi-Soldaten und freie Angestellte sowie ein Laden. I.G. Malzew berichtete, daß die Begleitsoldaten mit ihren Familien nebenan wohnten, in Kopaj-Stadt; sie hielten Schweine und Kühe (das Heu wurde von den Häftlingen beschafft), bekamen eine Essensration für sich sowie eine halbe Ration für alle nicht arbeitenden Familienmitglieder und bekamen kostenloses Essen in der Kantine. In jenen Jahren sind sie gern zu ihm zum Arbeiten gekommen; mit ihrer Bezahlung gab es keine Probleme – die tägliche Essensration beinhaltete eine warme Mahlzeit, und während der Dauer des Massenschlachtens von Nutzvieh teilte man die Innereien und Köpfe unentgeltlich an sie aus). Wir glauben, daß die Steuern vom jeweiligen Sozialstatus einer Person abhängig waren. Uns liegt eine Aussage von Maria Silajewa darüber vor, daß sie eine Scheinehe einging, damit man sie aus der Kolchose entließ (ihre Schwester war mit einem Konvoi-Soldaten aus der Kolonie verheiratet, und die beiden waren es auch, die sich diese Schwindelei ausgedacht hatten).

Das Sonderkontingent der Kolonie bediente mehrere Zweige der landwirtschaftlichen Produktion: Rinder- und Schweinezucht, Feldwirtschaft, Gemüseanbau und Gartenbau.
Zudem war jedes der vier Areale auf eine ganz besondere Produktionsart spezialisiert. So war das Spezialgebiet des 1. Areals, des Zentralbereichs, das in Denisowka gelegen war, die Herstellung von Getreidesaatgut (Weizen, Gerste, Hafer). Hier befanden sich ein Saatgut-Labor, ein Getreidesilo, Speicher und Lagerhäuser zur Aufbewahrung von Saatkörnern. Studierte Gefangene waren es, welche die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten im Bereich der Selektion durchführten: die Felder hatte man aufgeteilt, auf ihnen standen hölzerne Hinweisschilder mit Aufschriften. Auf dem 2. Areal (3 km von Denisowka entfernt) zog man Getreide zu Verpflegungszwecken, für den Bedarf des Kraslag. Im 3. Revier wurden Kartoffeln gezüchtet, und das 4. befaßte sich ausschließlich mit Viehzucht. In den Arealen 1 und 4 wurden jeweils 1500 Schweine gehalten. Auf jedem Grundstück arbeiteten 200 Häftlinge, die nicht mehr unter ständiger Wachbegleitung standen, sowie freie Mitarbeiter. Nach Auflösung der Kolonie wurden diese Areale zur Basis für die Farmen N° 1, 2, 3, und 4 der Ustjansker Sowchose.

Besonders weit entwickelt war die Wirtschaft im 1. Revier (dem zentralen). Hier gab es Kuh-, Schweine-, Pferde-, Bullen- und Kälberstallungen, einen Geflügelhof, eine Butterfabrik, eine Schmiede, eine Tischlerwerkstatt, ein Sägewerk, eine Mühle, Lagerräume, einen Trockenraum, eine Fahrzeugwerkstatt und eine Erdölstation. Diese Produktionsobjekte, mit ihrem ganzen Viehbestand und dem technischen Inventar, wurden auch zur materiellen Grundlage für die Ustjansker Sowchose, und Deniswoka behielt dort lange Zeit die Funktion der Zentralfarm. Produktion von Lebensmitteln – so lautete die Bestimmung der Denisowsker Kolonie, uns die erfüllte sie voll und ganz. Hier wurde Gemüse (die für diese Orte teilweise zu den Wildgemüsen zählten), Wassermelonen und Honigmelonen gezüchtet, man verarbeitete Pilze durch Einsalzen oder Säuern. Im Garten wurden Apfelbäume, Stachelbeersträucher, Renettenbäume und verschiedene Johannisbeerarten gezogen. Aus den beeren kochte man Gelee, Marmelade, Mus oder Sirup.

Nach dem Produktionsvolumen und der Vielfalt der Produkte zu urteilen, haben hier erstklassige Spezialisten ihre Arbeit verrichtet: Agronomen und Zootechniker. Alle Zeitgenossen haben die hervorragende, wohlorganisierte Arbeit und die Durchführung der Selektionsarbeiten in guter Erinnerung. Nach Beendigung des Ostrogoschsker Zootechnikums im Jahre 1952 erhielt Fjodor Stepanowitsch Litwinow seine Dienstanweisung für die Region Krasnojarsk. Sie schickten ihn als Zootechniker in die Denisowsker Landwirtschaft. Im Familienarchiv gibt es ein Foto, das den jungen Spezialisten neben einem Zuchthengst und einer Rekordkuh zeigt – so fanden wir eine visuelle Bestätigung der Arbeitsergebnisse der Wissenschaftler. Und daß der junge Mann eine Militäruniform trägt bedeutet, daß er die Verantwortung für die Organisation der Häftlingsarbeit trug. Fedor Stepanowitsch stammte vom Don, erliebte Pferde und verstand es mit ihnen umzugehen; deswegen befaßte er sich hauptsächlich mit Pferden. Es gab einen Staatsauftrag – Pferde für die Armee zur Verfügung zu stellen.

Nach Auflösung der Kolonie arbeiteten die Agronomen Sangajew und Sajduk Andrejewitsch Spasow lange Zeit auf der Farm N° 1 – beide waren Kalmücken und unterstanden nicht mehr der ständigen Überwachung durch Begleitsoldaten.

„Die Politischen wurden nach Nischne-Ingasch gebracht, - erinnert sich F.S. Litwinow, und alle anderen wurden freigelassen. Denjenigen, die nun keinen Begleitwachen mehr unterstellt waren, gab man sogar Reisegeld“. Fjodor Stepanowitsch wurde zum Arbeiten ins Bezirkskomitee der Komsomolzen-Organisation versetzt.

Viele blieben später in der Sowchose und arbeiteten dort auch weiterhin: die Konvoi-Soldaten Nikolaj Pawlowitsch Medwedkow und Nina Grigorewna, Nikolaj Solotuchin, Tamara Djadetschkina, Pjotr Petrowitsch Majdanow und Michail Balantschuk. Aus den Reihen derer, die nicht mehr einer ständigen Begleitung durch Wachposten unterlagen blieben auch Nikolaj Michailowitsch Schwedow, Nikolaj Tiunow, Friedrich Josifowitsch Gekkel (Heckel?), Friedrich Friedrichowitsch Naibauer (Neubauer?), Maria Judinkowa und andere. Die aus anderen Bezirken eingetroffenen Spezialisten waren Leute unterschiedlicher Nationalitäten: der Zootechniker Eduard Jakowlewitsch Lelaus – Lette, der Buchhalter Aleksander Fadejewitsch Wernadskij, Zootechniker – Jude, Fjodor Iwanowitsch Masin, der Deutsche Konstantin Andrejewitsch Luft – Hauptwirtschaftswissenschaftler, der Deutsche Ernst Bogdanowitsch Weinerd – Tierarzt, und zum ersten Direktor war der Ukrainer Iwan Jewdokimowitsch Barbanjuk ernannt. Sie setzen ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit auch noch später in der Sowchose fort.

Da sich die Sowchose zu Beginn der 1960er Jahre auf Schweinezucht spezialisierte, züchtete man hier eine neue, eigene Schweinerasse durch Kreuzung des „sibirischen weißen“ mit dem „großen weißen“ Schwein. Die Schweinezüchter sollten in speziellen Heften, separat für jede einzelne Zuchtsau, Aufzeichnungen machen, in denen Dauer und Ergebnisse des Ferkelns sowie zahlreiche andere Angaben festgehalten wurden. Nach den Erinnerungen von N.W. Kaljakina erledigte sie diese Schreibarbeiten in den Jahren 1961-1962 für ihre Mutter, die Analphabetin war. In den Schrankfächern an der Wand befanden sich eine Unmenge Zeitschriften. Die ausführlichen Notizen wurden von Brigadieren und Zootechnikern systematisiert, man fertigte auf Plakaten Grafiken der einzelnen Rekord-Zuchtsauen an, die dann im Kontor im Roten Eckchen aufgehängt wurden. Sie weiß auch noch, wie 1963 eine Delegation Koreaner oder Chinesen bei ihnen in der Schule erschien, die extra gekommen war, um Zuchtschweine zu erwerben. Mehrfach waren Schweinezüchter aus Denisowka Teilnehmer an der Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft, die die wissenschaftliche Arbeit der Gelehrten aus der damaligen Kolonie weitergeführt hatten. Wer hatte den künftigen Arbeitsruhm der Ustjansker Schweinezucht-Sowchose in Gang gebracht? Wofür hatten die Häftlinge ihre Strafe verbüßt?

Das Vergehen vieler Gefangener war der Diebstahl von Staatseigentum. In der Erinnerung des Volkes sind die Namen einiger Häftlinge hängen geblieben: Lidia Ljadowa, Buchhalterin aus Moskau - sie arbeitete auch im „Knast“ entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation; Ksenia Baklanowa, Sängerin am Operntheater der Hauptstadt – sie blieb später in der Sowchose, war als Kälberpflegerin tätig und versetzte alle mit ihren Gesangeskünsten in Erstaunen; Sinaida Jegorowna Jewdokimowa (geb. 1937) erinnert sich, daß ihr Vater, Leiter des 4. Areals, die Lettin Magda Julewna sehr hoch einschätzte – sie war Zootechnikerin aus den Reihen der Gefangenen, die später ebenfalls nicht aus freiem Willen in der Sowchose blieb.

Unser Verdacht, daß sich in der Kolonie auch politische Häftlinge befanden, wurde von vielen bestätigt. Vera Aleksejewna Schumskaja, die heute noch bei guter Gesundheit ist, erzählte uns, daß man sie, als sie 1950 in Denisowka eine Arbeit als Verkäuferin im Laden fand, sogleich vorsorglich warnte, sich auf keinen Fall in Gespräche mit den Politischen einzulassen. Sie erinnert sich noch an die „Gräfin“ (sie durfte sich außerhalb der Lagerzone ohne Wachbegleitung bewegen), die jedesmal Papirossi und gelegentlich auch Süßigkeiten kaufte. „Sie hatte eine rauhe Stimme, kaufte die Marke „Kasbek“, ohne falls diese nicht vorrätig war, gab sie eine entsprechende Bestellung auf. Später begegnete ich ihr in Aban – sie erkannte mich nicht“. Bei der „Gräfin“ handelte es sich um Jekaterina Sergejewna Tolstaja – eine Nichte 3. Grades von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Sie verbüßte nach §58-8 ihre Verbannungsstrafe in Aban. Weshalb man ihr gestattete, sich außerhalb der Lagerzone frei zu bewegen, ist nicht bekannt; es läßt sich aber vermuten, daß sie sich hier nur vorübergehend aufhielt, bis zur endgültigen bestimmung ihres dauerhaften Wohnsitzes.

Menschen mit freien Berufen fallen nicht unter den „Ähren“-Paragraphen, wahrscheinlich waren sie eher politische Häftlinge. Nikolaj Jewgenewitsch Tremasow, der ständige Kinomechaniker in Denisowka, hatte das Kino auch schon in der Kolonie „geschmissen“; er berichtete von bemerkenswerten Aufführungen und Konzerten, welche die Häftlinge für die Abaner Leitung und die freien Angestellten im Klub veranstalteten, und in solchen Fällen ließ man alle in die Lagerzone kommen. Möglicherweise hat diese Besonderheit manch einem einen gewissen Stempel von Freiheitsgefühl, von Bewegungsfreiheit innerhalb der Kolonie aufgedrückt. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich um ein Erziehungs- und Arbeitslager handelte.

Der stellvertretende Leiter des begleitenden Wachdienstes, I.G. Malzew, weiß noch, dass sie die Kolonie rund um die Uhre bewachten: „Während meiner gesamten Wachdienstzeit gab es nur einen einzigen Fluchtversuch, aber der Flüchtlinge wurde schnell aufgegriffen – er hatte vor über Potschet durch die Taiga nach Jeniseksj zu fliehen. Er war selber heilfroh, dass sie ihn eingeholt hatten, so blieb er wenigstens am Leben“. In der Divison dienten 36 Mann. Die Lagerzone war von einem Stacheldrahtzaun umgeben, an den vier Ecken standen Wachtürme, Wachhunde liefen am Stacheldrahtzaun ständig hin und her. Zur Arbeit wurden sie unter Wachbegleitung gebracht. Eine gewisse Rücksicht wahrte man gegenüber inhaftierten Müttern mit Säuglingen.

Augenzeugen erinnern sich auch an ein Frauenlager, auf dessen Territorium es eine Kinderkrippe gab – „das Haus des Kleinkindes“, wo Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren untergebracht waren. Bis zu einem Jahr gaben ihre Mütter, die von Begleitsoldaten ins Kinderhaus gebracht wurden, ihnen alle drei Stunden die Brust; vielen gab man auch in der Frauenzone eine Arbeit. Im Lager selbst befand sich eine Wäscherei; das benötigte Wasser gelangte über eine Pumpleitung durch Rohre (500 m) dorthin. Bis heute stoßen Einwohner von Denisowka gelegentlich auf Überreste dieser Wasserleitung, wenn sie ihren Gemüsegarten umpflügen oder ihren Vorratskeller ausheben. Die Mütter die gestillt haben, wurden auch zur Arbeit auf den 400-500 Meter von der Lagerzone entfernten Farmen herangezogen. In der Krippe arbeitete I.G. Malzews Ehefrau - Nadeshda Nikolajewna - als Kinderschwester, die mehrfach dreijährige Kinder ins Kansker Kinderheim brachte, wo sie bis zur Entlassung ihrer Mütter blieben.

Wachsoldaten und Häftlinge machen häufig widersprüchliche Zeugenaussagen. So erzählte Maria Judinkowa bereits in den 1970er Jahren eine gruselige Geschichte darüber, wie wütende, völlig aufgebrachte Häftlinge im Badehaus bei lebendigem Leibe die verhaßte Krankenschwester „kochten“, die aufgrund ihrer Mutmaßungen vorsätzlich ein kleines Kind getätet hatte. Die Erzählerin selbst hatte im Lager ihren erstgeborenen Sohn verloren. Das Opfer wurde mit kochendem Wasser übergossen, und zwar so lange, bis es sich nicht mehr rührte; aus den Listen wurde sie dann als „tödlicher Unfall“ abgeschrieben – sie hätte den Kessel mit kochendem Wasser versehentlich umgestoßen. Wir fanden keine noch lebenden Zeugen dieses Vorfalls. Den Legenden und Gerüchten über das „Hause des kleinen Kindes“ zufolge machten sich die Kinder von Denisowka später gegenseitig Angst; sie waren fest davon überzuegt, dass sie in den Nächten das Weinen von getöteten Säuglingen hörten; und sogar die Erwachsenen weigerten sich, sich in dieser Baracke niederzulassen.

Nicht nur die Bewohner von Denisowka, sondern auch die des gesamten bezirks erinnern sich noch an die Kolonie. Mit den Worten ihrer Mutter und ihrer Brüder liefert auch Valentina Wasuiljewna Petunina über das Leben der Gefangenen eine Zeugenaussage. Aus ihrem Bericht erfuhren wir, dass es in Denisowka eine Kinderkolonie gab. Zwie ihrer fünfzehnjährigen Brüder – Nikolaj Wasiljewitsch Schelegow und sein Kusin Nikolaj Dmitrijewitsch – erhielten 6 Monate dafür, dass sie im Frühjahr während der Saatzeit im Wald irgendjemandem einen Sack mit 16 Kilogramm Getreide stahlen und ihn dann versteckten, in der Hoffnung ihn nach Hause tragen zu könenn. Ihre Mutter ging danach jede Woche 25 km weit, um die Kinder durchzufüttern. Und um die Tasche überhaupt füllen zu können, mußte sie eine ganze Woche lang sammeln, wobei sie die Tasche stets vor den anderen Kindern versteckt hielt. Hätte man die Kinder im Lager ausreichend versorgt, dann hätte die schwangere Frau wohl kaum jede Woche den weiten Weg mit den wenigen Lebensmitteln auf sich genommen, die sie so mühsam zu sammengesucht hatte. Die brüder Schelegow lebten in der Baracke neben dem Kinerhortund verrichteten Arbeiten im Kuhstall.

„Rotes Banner“, 08.02.2008, 22.02.2008


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