Vor 55 Jahren starb Josef Stalin
Die Mehrheit der heute lebenden Russen erinnert sich kaum der Ereignisse, die sich an einem 5. März vor vielen, vielen Jahren in der Sowjetunion zutrugen. Indessen hinterließ Stalins Tod im Jahre 1953 bei hundert Millionen Menschen in der ganzen Welt einen tiefen, ernsthaften Eindruck. Für die einen bedeutete er großes nationales Unglück und löste bei ihnen einen gewaltigen Schock aus. Für andere war es eine freudige Nachricht, welche die Hoffnung auf eine Wende in ihrem tragischen Schicksal brachte. Erinnerungen von Zeugen aus jenen Tagen befinden sich in den Materialien der Zeitung „Krasnojarsker Komsomolze“.
Die Nachricht über das Ableben des „Führers aller Völker“ wurde am 5. März 1953 im Radio übertragen; sie erschütterte alle sowjetischen Menschen. Aber am meisten erschrocken waren die kleineren Kinder, die einfach nicht verstanden, was da vor sich ging. Aber irgendwann begriffen sie ...
Hier beispielsweise die Erinnerungen von Vera Nikolajewna Korolewa, die im März 1953 die Schule besuchte:
- Ich kann mich noch ganz genau an den tag erinnern. Wir hatten gerade Geografie-Unterricht. Meine Schulfreundin Galja hatte um die Erlaubnis gebeten austreten zu dürfen, kehrte jedoch im selben Augenblick schon wieder ins Klassenzimmer zurück. Sie ging ganz merkwürdig, zur Seite geneigt, irgendwie schief, und brach vor der Tafel fast zusammen. Alle fühlten, dass etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Galja flüsterte: „Stalin ist gestorben...“ – und dann fiel sie in Ohnmacht. Der Unterricht wurde natürlich abgebrochen, aber wir gingen trotzdem noch nicht auseinander. Es war, als ob eine Welt zusammengestürzt war, und es war unvorstellbar, wie es ohne Ihn weitergehen sollte. Ich weiß noch, dass wir uns an diesem Tag gegenseitig schworen, so gut zu lernen, dass wir keine schlechten Zensuren mehr vorweisen würde...
Als ich nach Hause kam, stieg ich die Treppe zur zweiten Etage, in der wir wohnten, hinauf, brach in einem Anfall unerträglichen Schmerzes am Geländer zusammen und begann furchtbar zu schluchzen. Die Nachbarin kam heraus und fragte bei meinem Anblick erschrocken: „Verachen, was ist denn los?“ – „Was los ist?! Stalin ist tot!“ – Und da lächelte Anastasija Danilowna (so hieß die nachbarin) plötzlich ganz komisch und gab eine nach meinem damaligen Verständnis äußerst schmähliche Bemerkung von sich: „Mädchen, auch wenn du alle Mitglieder des Politbüros beweinen wirst, werden deine Tränen dafür bei weitem nicht ausreichen, ...“.
Ganz anders erinnert sich Albina Aleksejewna Besperstowa an diesen Tag, die damals mit ihren 8 Jahren die 1. Klasse einer Schule in der chakassischen Stadt Tschernogorsk besuchte:
- Wir wohnten damals etwa dreihundert Meter von der Brotfabrik entfernt, in der meine Mama als Expeditor arbeitete. Ihre Aufgaben waren einfach: beim Expeditor traf das gesamte fertiggebackene Brot ein, das dieser dann auf die Fahrzeuge verteilen mußte, die die Geschäfte belieferten, und für den Fall, dass irgendjemand eine Fehlmenge feststellte, dann drohte Mama die Inhaftierung oder sogar der Tod durch Erschießen. An jenem Tag war Mama zur Arbeit gegangen, und ich saß zuhause (wir hatten uns privat ein Zimmer genommen) und übte meine Rechenaufgaben. Im Nebenzimmer stand ein Radiogerät. Und plötzlich höre ich: „Oh Gott!.... Ach, du meine Güte!...“ – Die Tochter Klara von unserer Nachbarin war es, die da in Weinen ausbrach. Aber ich rannte nicht zu ihr hinüber, denn wir waren nicht befreundet. Etwa 10-15 Minuten später kam Mama nach Hause, so wie sie war – in ihrem Arbeitskittel, mit Kopftuch und leichten Schuhen, obwohl es draußen noch ganz kalt war. Sie lief sofort auf mich zu: „Weißt du was, Stalin ist tot!“ – Als Klara den Schrei hörte, kam sie herausgelaufen, sie umarmten sich und weinten alle beide. Später ging ich in die Schule, wo man bereits bei den Vorbereitungen für eine Trauerversammlung war; alle Lehrer weinten. Die Schüler schwiegen einfach nur. Und dann wurden wir nach Hause entlassen. Alle waren auf dem Heimweg in trauriger Stimmung. Es herrschte so ein Gefühl, als ob in einer großen Familie der Vater gestorben war, der immer dafür gesorgt hatte, dass Geld und Brot herbeigeschafft wurde. Und nun weiß die Familie nicht, wie und wovon sie leben soll...
Und am 12. Mai (an dem unter den Häftlingen eine Amnestie verkündet wurde – „Krasnojarsker Komsomolze“) bekam ich einen Stiefvater. Ich nannte ihn Papa.
Ganz anders wurde die Nachricht von den Gefangenen aufgenommen. Jene, wie beispielsweise Stepan Razewitsch, der zu jener Zeit seine Verbannungsstrafe in Norilsk verbüßte:
- Es wehte kein Wind, aber es herrschte schrecklicke Kälte. Das Thermometer zeigt minus 38 Grad Celsius. Am Horizont erhebt sich der rote Sonnenball. Die Arbeiter, die damit beschäftigt waren, unter dem etwa zwei Meter dicken Eis, die im Herbst im Wasser zurückgebliebenen Baumstämme herauszuziehen, rennen alle 20 Minuten in die kleine Holzbude, um sich aufzuwärmen. Meister Litwinow tritt ein, ein Liebhaber des Possenreißens und der verschrobenen Späße. Aber diesmal ist er todernst. „Na los, Jungs, laßt mich mal am Ofen sitzen; ich will mich ein bißchen aufwärmen, und dann erzähle ich euch was, das jeden von euch zum Nachdenken zwingen wird!...“ – Wortlos traten alle beiseite, machten den Platz für Litwinow frei: „Also, dann hört mal zu ... Genosse Stalin ist tot ...“ – Im Raum herrschte gespannte Stille. Alle hatten aus den Zeitungen und Radiosendungen von Stalins Krankheit gewußt. Niemand wagte die Nachricht laut zu kommentieren, alle die dort saßen und standen, schwiegen; sie gaben keinen Ton von sich.
Das Gefühl eines großen Verlustes, wie es auf dem Festland hieß, erfuhr hier niemand, eher das Gegenteil war der Fall – man mußte seine Freude mühsam zurückhalten. Die Freude darüber, dass nun, nachdem der Tyrann gestorben war, vielleicht die Haftstrafe verkürzt, dass man sie möglicherweise sogar amnestieren würde, wenngleich diese Hoffnung auch nur ganz tief im Unterbewußtsein aufleuchtete. Es schien mir, als ob Stalins Tod nun Korrektiven für das politische Leben des Landes bringen mußte und man nicht umhin kommen würde, die innere Lage des Staates zu verändern; besonders sollte dies unsere Schicksalsbrüder betreffen – die Verbannten und Häftlinge, die nach § 58 verurteilt worden waren. Die Frage war nur, zu welcher Seite hin man die Schraube anziehen sollte: war es besser, sie kräftiger anzuziehen oder sollte man sie lieber ein wenig locker lassen.
Dasselbe sagt auch der Gorlag-Häftling Jan Minorowitsch:
- Eine Woche vor Stalins Tod rief mich der Major zu sich und sagte mit tiefer Traurigkeit in der Stimme, dass Stalin erkrankt sei. Und ich erwiderte: „Und ich dachte schon, er würde niemals sterben, aber wie man sieht, ist wohl auch sein Stündchen gekommen!“ – Der Major befahl mir darüber zu schweigen. Und nach einigen Tagen übertrugen die Rundfunkstellen im Lager die Nachricht von Stalins Tod. Im Lager herrschen Freude und Frohsinn, und hinter dem Zaun, bei den NKWD-Mitarbeitern – Trauer und Wehgeschrei.
Auf ihre Weise nahmen auch jene Stalins Tod auf, die damals die schmachvolle Bezeichnung „ Kinder von Volsfeinden“ trugen. Eine von ihnen war Edita Schischkina:
- Stalins Todestag erinnere ich mit großer Selbstironie. Ich weiß noch, wie ich am Lautsprecher stand, meine Tochter an den Händen hielt, die Trauerstimme vernahm und weinte. Wie sollten wir bloß ohne Führer leben? Aber er hatte auch eine unheilvolle Rolle im Schicksal meiner Mutter und meines Stiefvaters gespielt. Schon 1936 ging mein Stiefvater, Hauptelektriker am Saporoschjer Stahl-Kombinat, nachdem er Häftling des Norillag geworden war, zufuß von Dudinka nach Norilsk. 1937 verhafteten sie Mama, die im Zentralkomitee der Partei in der Ukraine gearbeitet hatte, als Ehefrau eines Volksfeindes. Und nun, da ich das und vieles andere mehr wußte, stand ich da und weinte. Von morgens bis abends hatte man uns soviele Jahre lang immer wieder eingebleut: Stalin, Stalin, alles haben wir nur ihm zu verdanken. Wir waren wie Hunde in Ketten, den man nicht erlaubte, sich auch nur einen einzigen Schritt von ihrer Hundehüttezu entfernen, und plötzlich – da wurden wir von den Fesseln befreit, und wir wissen nicht einmal, wohin wir nun gehen, was wir tun sollen. Ich erinnere mich, wie nach dem 20. Parteitag, auf dem Stalins Personenkult enthüllt wurde, Poeten nach Norilsk kamen, und einer von ihnen (ich weiß seinen Nachnamen nicht mehr), las laut Gedichte vor, die bei ihm 12 Jahre lang im Verborgenen gelegen hatten und noch niemandem öffentlich vorgestellt worden waren.
Und dann fiel das ganze Land in Trauer. In Moskau fand das Begräbnis statt, und in dem riesigen Gedränge kamen hunderte unschuldiger Menschen ums Leben. Es schien, als ob der verstorbene Führer, seine allerletzten Opfer mit in jene andere Welt nehmen wollte. In Sibirien zollte man Josef Wissarionowitsch ebenfalls diesen blutigen „Tribut“.
Wer? Beispielsweise die erst zweiundzwanzigjährige Vera Doronenko, Meteorologie-Technikerin an der Bahnstation Kljukwennaja in der Region Krasnojarsk: 2-3 Tage nach Stalins tod wurde sie aufgrund einer Falschaussage ihrer Nachbarin verhaftet. Dieser Nachbarin war es so vorgekommen, als ob Doronenko Stalins Portrait verbrannt hätte. Oder der Elektroschweißer Nikolaj Pantschuk, der am 7. März 1953 verhaftet wurde, weil er, wie es im Urteil hieß, „im alkoholisierten Zustand Freude und Genugtuung über Stalins Tod zum Ausdruck rachte“. Pantschuk wurde am 3. April zu 25 Jahren Lagerhaft und 5 Jahren Entzug aller politischen Rechte mit Konfiszierung des gesamten Besitzes verurteilt. Erst am 24. März 1955 wurde sein Urteil von einem Viertel Jahrhundert Haft durch 5 Jahre Lagerhaft ohne Aberkennung der Rechte und ohne Konfiszierung des Besitzes abgeändert. Nikolaj Pantschuk wurde erst 1993 rehabilitiert.
P.S. Der „Krasnojarsker Komsomolze“ dankt der regionalen Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“ für die zur Verfügung gestellten Materialien.
„Krasnojarsker Komsomolze“, N° 8 (9211), 5. März 2008