Heute vor 55 Jahren starb Josef Stalin
Kaum einer der heute in der Region Krasnojarsk lebenden Menschen wird irgendetwas Besonderes zur Erinnerung an diesen Tag veranstalten. Vielmehr geschieht dies höchstens durch einzelne, wenige Personen. Manch einer aus den Reihen steinalter Männer und Frauen werden mit traurigem Blick ihre lange Kette mit eigenen Medaillen anschauen, verborgen vor den Kindern und Enkeln ein Gläschen zur Beruhigung heben und dabei vor sich hin flüstern: „Was war er doch für ein Mensch...“. Es wird auch solche geben, die an diesem Tag verächtlich vor sich auf den Boden spucken und den Tyrann noch einmal laut verfluchen, dessen Leben und Tun ihnen uselbst und ihren Familien so unermeßlich großen Kummer brachte. Man muß die einen wie die anderen verstehen. Das ist eure und unsere gemeinsame Geschichte. Interessant ist die Tatsache, dass auch vor 55 Jahren, am 5. März 1953, der Tod Stalins in der UdSSR von den Menschen in dem von Zwangsarbeit geprägten, aber sowjetischen Sibirien ebenfalls auf ganz unterschiedliche Weise aufgenommen wurde.
Seit Stalins Todestag ist bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen; trotzdem sind der Mehrheit der russischen Bevölkerung die Einzelheiten der letzten Tage des „ Führers aller Völker“ bis heute nicht vollständig bekannt. Die Geschichtslehrbücher an den Schulen berichten nur in aller Kürze darüber – der Tod sei aufgrund eines lange andauernden, schweren Schlaganfalls eingetreten, der sich auf Stalins Datscha Anfang März 1953 zugetragen habe. Wissenschaftler, die die zahlreichen Dokumente mit Angaben und Aussagen der Wachmansnchaften und des Dienstpersonals der Datscha eingehend studiert haben, streiten bis heute untereinander, wie stunden- und minutengenau sich Stalins Lebenszeitraum zwischen dem 3. und 5. März rekonstruieren läßt. Auf den Fernsehbildschirmen laufen bis heute Dokumentarfilme zu diesem Thema, in denen die merkwürdigsten Versionen seines Todes gezeigt werden. Der bereits damals in Ungnade gefallene Lawrentij Berija vergiftete Stalin; dieser verlor das Bewußtsein und konnte somit dien Alarmklingelknopf nicht mehr erreichenh, um Hilfe herbeizuholen; oder: der totmüde Stalin beschloß seinem Leben selber ein Ende zu setzen – es ist und bleibt ein Geheimnis, und es wird auch kaum jemals gelingen es aufzuklären. Es gibt einen ganz einfachen Grund dafür: die bewußte Vernichtung zahlreicher Dokumente und der natürliche Tod aus Altersgründen vieler Zeitzeugen (und viele von ihnen haben bis ans Ende ihrer Tage treu ihr seinerzeit schriftlich gegebenes Versprechen der „Nicht-Preisgabe“ eingehalten und ihren Mund keinem Menschen gegenüber geöffnet). Allerdings liegt der Hauptgrund ganz woanders – es ist vielmehr das in der UdSSR geschaffene Regime der Geheimhaltung, deren Nachhall den Historikern noch lange Zeit Nahrung zum Nachdenken geben wird.
Bis zum 5. März wußte das ganze Land, dass Josef Stalin schwer erkrankt war: mit Beginn des Februars verlas der Radiosprecher Lewitan jeden Tag ein Bulletin über den Gesundheitszustand des 74-jährigen Führers. Dabei lief alles weiter seinen gewohnten Gang: Produktionsstätten und Fabriken waren in Betrieb, die Kinder gingen zur Schule, Wissenschaftler schrieben ihre Formeln, die Soldaten freuten sich über die Atombombe und in den Holzfällerrevieren kamen hunderttausend Häftlinge ums Leben. Die Region Krasnojarsk bildete in diesem Sinne keine Ausnahme. Niemenad war sonderlich beunruhigt oder verfiel in Hysterie, obwohl Augenzeugen jener Ereignisse berichten, dass die meisten Menschen sich schon irgendwie Sorgen machten. Es konnte ja auch niemand ahnen, dass ...
Die Nachricht vom Tode Stalins überraschte die Bevölkerung der Sowjetunion auf verschiedenen Wegen. Die Soldaten erfuhren über ihre Funkkanäle etwas früher als alle anderen von dem Ausnahmezustand, ebenso die Mitarbeiter der Staatssicherheit. Der größte Teil der Bevölkerung wurde am 5. März, in der zweiten Tageshälfte, über das Radio informiert, als im Äther eine „wichtige Mitteilung der Regierung“ ertönte. Der genaue Zeitpunkt der Mitteilung wird von Zeugen jener Ereignisse unterschiedlich angegeben – von 14 bis 17 Uhr Ortszeit. Aber alle sagen einstimmig: diese Nachricht war wie ein Donnerschlag am klaren Himmel und löste einen gewaltigen, allgemeinen Schockzustand aus.
Die Mehrheit der gewöhnlichen Einwohner der Stadt und der Region Krasnojarsk, die die Mitteilung vernommen hatten, schluchzten laut und genierten sich nicht, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Viele Frauen fielen in Ohnmacht. Anders verhielten sich die in Sibirien befindlichen Verbannten. Wie beispielsweise Jurij Iwanowitsch Tschirkow, der davon durch die Enkelin der Hauswirtin, bei der er untergebracht war, erfuhr:
- Die Enkelin kam mit verweinten Augen aus der Schule nach Hause gerannt und schrie schon an der Türschwelle: „Omilein, Stalin ist tot. Was wird jetzt aus unserem Leben?“ - Die Alte murmelte es mit ihrem zahnlosen Mund; sie stand gebeugt mit der Ofengabel in der Hand da und sagte: „Er ist tot, sagst du? Also hat er den Anker geworfen; wir werden schon irgendwie weiterleben“. Ninka fragte sogleich besorgt: „Omilein, was werden wir essen?“ – Die Alte erwiderte: „Es wird sich schon etwas finden“. Und das Leben ging weiter seinen Gang. Aber das verbannte Volk war besorgt. Was wird nun aus uns? Einige gewannen sogleich die feste Überzeugung, dass siech bald alles zum Besseren wenden würde. Andere glaubten dies nicht. Aus Moskauer erhielten die Verbannten von ihren Angehörigen Telegramme. Ihre glücklichen Besitzer trugen sie in der ganzen Stadt umher: in den Telegrammen hieß es, dass die Frage in Kürze geprüft und entschieden werden sollte. Das Volk tat sich zusammen. Aber Tage, Wochen und Monate vergingen. Es wurde bekannt, dass eine Amnestie erlassen worden war, aber sie fand nur auf Straftäter Anwendung.
Im Unterschied zu den einfachen Menschen, wurde die Nachricht vom Tode Stalins ganz anders von jenen aufgenommen, die später als Opfer politischer Repressionen bezeichnet wurden. Einer von ihnen war Anatolij Bakanitschew, der bis zur völligen Entkräftung in Norilsk arbeitete:
- Die Nachricht von Stalins Tod vernahm ich im wahrsten Sinne des Wortes „in der Tiefe einer sibirischen Erzgrube“. Wir hatten eine Baugrube unter dem Verwaltungsgebäude der Fabrik ausgehoben – in einer Tiefe von etwa 10 Metern. Oberhalb der Baugrube befand sich eine Winde, und daneben stand mein Arbeitskollege. Ich war unten mit Spitzhacke und Meißel dabei, den Untergrund aus ewigem Eis aufzuhacken und die Stücke mit der Schaufel in einen Bottich zu werfen, den mein Kamerad von Zeit zu Zeit mit der Winde hochhievte. Die Arbeit ging äußerst langsam voran. Plötzlich hörte ich: „ Tol, komm rauf, der Kerl ist krepiert!!“ Ich setzte mich in den Bottich, und der Bursche zog mich nach oben, wo bereits zahlreiche Menschen versammelt waren. Die Nachricht hatten sie von dem in freiem Arbeitsverhältnis stehenden Meister erhalten, außerdem sahen wir an mehreren Stellen Trauerfahnen. Alle waren fröhlicher Stimmung; das konnte man an den Gesichtern und an den Witzen erkennen, die die Gefangenen untereinander austauschten. Man kanm nicht umhin festzustellen, dass auch der Meister und der Vorarbeiter über die Neuigkeit erfreut waren. An diesem Tag verlangte keiner mehr von uns, dass wir arbeiten sollten.
Übrigens, in anderen sibirischen Lagern des GULag erfuhr man erst später vom Tode Stalins. So verlor beispielsweise die Lagerleitung in einem der Lager in Chakassien den Kopf, als die schockierende Nachricht eintraf: man ließ die Gefangenen drei Tage nicht aus ihren Baracken heraus, führte sie nicht zur Arbeit, sondern brachten ihnen lediglich ihr Essen. Unter den Leuten schwirrte das Gerücht herum: „Der Schnurrbärtige hat den Schwanz eingezogen“. Am vierten Tag wurde der Hof von bewaffneten Kommandos umstellt und die Gefangenen abtransportiert. Es erhob sich ein wilder Lärm. Dann war aus dem Stimmengewirr ein Wort herauszuhören: „Krepiert...“. Da war alles klar und deutlich. Und schließlich begannen tausende Zwangsarbeitermünder zu skandieren: „Krepiert! Krepiert! Krepiert!“
In einem anderen Lager, als der Lagerleiter den Gefangenen befahl, ihre Mützen abzunehmen und eine Schweigeminute zum Gedenken an den Toten einzulegen, nahmen die Häftlinge ihre Mützen und warfen sie schweigend in die Höhe.
Wie bereits vorher erwähnt, war das Land von einer großen Trauer ergriffen. Es gab Trauerversammlungen an den Schulen (auf einer dieser Veranstaltungen befahl die Direktorin den Kindern vor Stalins Porträt niederzuknieen und zu weinen, und diejenigen, denen das nicht sofort gelang, bekamen dafür Schläge ins Genick), Betriebsversammlungen in den Fabriken, Zusammenkünfte der Soldaten in den Truppenteilen. Und gleichzeitig – diese große Freude tausender Menschen, die davon überzeugt waren, dass man sie nun rehabilitieren und aus der Sklaverei befreien würde.
Anschließend fanden die Begräbnisse statt, die der ganzen Welt und den Verwandten des Komponisten und Pianisten Sergej Prokofiew in Erinnerungen geblieben sind – dieser großartige Musikschreiber starb ebenfalls am 5. März, allerdings konnten die Verwandten auf seinem Grab keine einzige Blume, keinen einzigen Kranz finden: die waren alle zum Schmücken der sterblichen Hülle Stalins in Moskau gebracht worden. Übrigens, viele wissen, dass am Tag der Bestattung des Führers in Moskau ein großes Gedränge herrschte – der Tyrann nahm von seinen Untergebenen einen allerletzten blutigen Zoll und nahm tausende Menschen mit hinüber in die andere Welt. Offizielle Angaben dazu existieren bis heute nicht.
Allerdings wissen nur wenige Menschen, dass der Tod Stalins in diesen Tagen das Unglück anderer, völlig unschuldiger Krasnojarsker zur Folge hatte. Wie zum Beispiel Tatjana Permjakowa, Analphabetin und Badewärterin an der Station Tinskaja der Krasnojarsker Eisenbahnlinie. Als sie am 6. März von Stalins Tod erfuhr, sagte die Frau: „Seinen Platz wird ein anderer einnehmen...“ – und fluchte dabei wie ein Landsknecht. Bereits am 28. April wurde sie verhaftet und erst 1954 aufgrund des Fehlens von Tatbeständen wieder in die Freiheit entlassen. Oder der ukrainische Planer und Wirtschaftler Michail Musyka, Normsachbearbeiter in der Waldwirtschaft im Sowjetsker (heute Beresowsker) Bezirk, der in der Teestube in Beresowka schimpfte, weil er lange nicht bedient wurde, und gerade in der Zeit war die Trauerfeier Stalins übertragen worden. Die Anwesenden baten ihn nicht so laut zu sein; als Antwort begann er unflätige Flüche über Stalins Tod zu äußern. Er bekam eine lange Haftstrafe, die allerdings ein Jahr später herabgesetzt wurde. Vielen, vielen anderen erging es ebenso...
Also das Land schluchzte und litt auf unterschiedliche Weise. Nicht umsonst sagte der Poet Josef Brodskij zu seiner Zeit: „Ich bezweifle, dass es in der Welt jemals einen Mörder gab, über den die Menschen so viel weinten“.
P.S. P.S. Der „Krasnojarsker Komsomolze“ dankt der regionalen Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“ für die zur Verfügung gestellten Materialien.
Krasnojarsker Abendblatt, 5. März 2008, Autor: Igor Klebanskij