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Die Spitzhacke vereinte die Herzen der Gefangenen

Auf dem Grundstück der Chlorproduktion, in der Chlor-Kobalt-Werkshalle, fanden Bauarbeiter bei der Reparatur des Fundaments eine Spitzhacke – das wichtigste Arbeitswerkzeug der Häftlinge. Die ehemalige Gefangene des Norillags, Maria Kolmagorowa, ist der Meinung, dass ihr der Gegenstand, zusammen mit einer Schaufel, nur allzu gut bekannt ist, und beide hätten zum Emblem von Norilsk werden können. Denn die Spitzhacke kann davon erzählen, wie man sich im Norillag abhärtete, von talentierten Ingenieuren, die nach den Bauarbeitern in die Betriebsstätte kamen, von einfachem menschlichen Glück.

Die Spitzhacke (auch Spitzhaue genannt) wurde in aller Eile im Amtszimmer des Leiters des Werksgeländes versteckt. Wir fahren zur Werkshalle und nehmen als Experten den Forscher an der Geschichte des Norilsker Industriegebiets Jurij Pribytkow mit. Wir hatten ihn zuvor aus der technischen Bibliothek herausgezerrt, wo Jurij Wassiljewitsch Abschriften aus Archiv-Dokumenten für den zweiten Band der Enzyklopädie über das Norilsker Industriegebiet anfertigte.

Die Gebäude der Fabrik N° 25 (so nannte man die Chlor-Kobalt-Fabrik anfangs) wurden von Gefangenen aus der nahegelegenen Männerlager-Abteilung gebaut. Als wir von dem Fundstück berichten, wundert sich der Leiter der Chlor-Kobalt-Zeche, Wladimir Sidorow: das ist ja ganz unglaublich, wenn man bedenkt, wie lange sie im Boden verschüttet war! Und dabei ist sie noch ganz heil! Handschriften verbrennen nicht, die Geschichte rostet nicht.


An der Spitzhacke. Jurik Pribytkow und Vladimir Sidorow

Zum Schichtwechsel der Bauarbeiter kamen Ingenieure

In der Tür erscheint der Obermeister des Chlorproduktionsareals Jewgenij Gogotin mit einer historischen Spitzhacke in den Händen und erzählt Einzelheiten über ihren Fund:

- Die Bauarbeiter waren bei uns im Keller mit Reparaturarbeiten am Fundament des Geländes beschäftigt. Es ist der älteste Teil des Gebäudes. Sie drangen weit in die Tiefe, praktisch bis zum felsigen Untergrund vor, und dort, im massiven Gestein, fanden sie sie auch.

Der Gegenstand von musealer Bedeutung, bedeckt mit Sodakristallen, Salz und Alkalien, nimmt in den Gedanken einen verallgemeinernden Charakter an. Pribytkow und Sidorow stimmen darin überein, dass als Denkmal für den „Norilsker Nickel“ eine altertümliche Elektrolyse-Wanne in Frage kommt, die ebenfalls unlängst neben einer abgebrannten Werkshalle gefunden wurde. Die Fabrik N° 25 war ein Objekt geheimer Produktion. Zum Schichtwechsel der gefangenen Bauarbeiter kamen frei angestellte Ingenieure.

Der Werksleiter und der Geschichtsforscher des Norilsker Industriegebiets sprudeln berühmte Namen hervor:

- In der Fabrik N° 25 begannen die zukünftige Direktoren des Kombinats Loginow, Maschjanow, Filatow…. zu arbeiten. Von hier gingen die Direktoren der Nickelfabrik – Romanow, Jermolenko, Lawrenow, Zupko, Jerschow, eben jener Filatow hervor…

- … der Direktor der „Hoffnung“ – Woronow, die Direktoren der Kupferzeche Gulewitsch und Buruchin, der Direktor des Wärmekraftwerks Korssak, der Leiter der wissenschaftlich-technischen Verwaltung Wolkow…

Es erklingen auch die Namen Isossim Tschalkins, Tatjana Gladyschewas, Aleksej Swetschnikows. Aber all diese bemerkenswerten Leute tauchten in der Chlor-Kobalt-Zeche erst auf, nachdem hier die inhaftierten Bauarbeiter ihre Arbeit getan hatten. Wladimir Sidorow erinnert sich, dass Ende der 1980er Jahre im Erdreich neben der Zeche noch ein weiteres trauriges Zeugnis der Vergangenheit gefunden wurde: eine Kiste mit menschlichen Knochen. Sie wurden an den Fuß des Schmidticha-Berges umgebettet.

Die Stadt nahm mit einer Spitzhacke ihren Anfang


Maria Kolmagorowa zeigt, wie man die Spitzhacke richtig hält

Die ehemalige Gefangene des Norilsker Lagers, Maria Kolmagorowa, meint, dass eine Spitzhacke und ein Spaten zum Denkmal für die Stadt und das Kombinat sein sollten. Die Stadt nahm mit einer Spitzhacke ihren Anfang.

Maria Iwanowna zeigt, wie man die Spitzhacke richtig hält.

- Ist Ihnen dieser Gegenstand gut bekannt?

- Sie war jedem Gefangenen bekannt, der mit Arbeiten am Untergrund beschäftigt war.

Ihr wurden in erster Linie zivile Objekte zuteil: Häuser im Bezirk der heutigen Musikschule, zwischen Brotfabrik und Kirche, die sogenannten „Viertel“. Zu einem „Accessoire“ wie der Spitzhacke gehörten auch eine gesteppte Wattejacke und aus alten Wattejacken zusammengenähte Handschuhe und „Stiefel“. Um den Kopf wickelte Maria ein doppelt gelegtes Baumwoll-Kopftuch, das aus einer Tischdecke gefertigt war.

Maria Iwanowna zeigt, welche Menge gefrorenen Bodens an einem 12-stündigen Arbeitstag herausgehackt werden musste – etwa so viel wie zwei mittelgroße, aneinander gestellte Koffer. Im Übrigen hing die Norm vom Untergrund ab – daher konnte sie größer oder kleiner sein.

In einzelnen Fällen gelang es nicht, den Plan zu erfüllen. Maria Iwanowna erinnert sich, dass sie den Boden an der Stelle des zukünftigen Ladens „Workuta“ mit der Spitzhacke bearbeiten musste. Dort war früher die Eisenbahnlinie verlaufen, und der Schotter ließ sich nur sehr schlecht entfernen.

- Und wie weit sind sie dann also insgesamt an einem Tag vorangekommen?

- „Wie weit“ – ungefähr 25 Zentimeter; das passte nicht in die Norm. Bei Nichterfüllung des Plansolls wurde man streng bestraft: nachts steckten sie dich in den Karzer aus Beton, du durftest dich weder hinsetzen noch hinlegen.

Weswegen man sie für viele Jahre ins Lager sperrte, weiß sie bis heute nicht. Sie vermutet lediglich, dass der Ermittlungsrichter, ein ehemaliger Wlassow-Anhänger, auf diese Weise an ihr Rache nahm, weil sie ihn zurückwies, als er ihr en Hof machen wollte.

Maria Iwanowna erzählt, wo sich die Abteilungen des Norillags befanden. Sie erinnert sich an Jefrossinia Kersnowskaja, mit der sie gemeinsam im Schacht arbeitete. Sie erwähnt auch den Häftlingsaufstand, an dem sie beteiligt war. Aber schließlich endete die Epoche der Repressionen. Das Leben in Freiheit begann. Und in ihm gab es einen Mantel aus schwerem, dickem Wollstoff und braune Schuhe mit einem kleinen Absatz. Und ganz einfaches, bescheidenes menschliches Glück.

Wattejacken sind für die Liebesgötter kein Hindernis

Dieser schwere und im allgemeinen düstere Gegenstand ist nicht nur ein Zeugnis der Zwangsarbeit. Er hat nicht nur Häftlinge und die bewaffneten Angehörigen der Lager-Garnisonen gesehen. Über ihm schwebten auch die kleinen Amors mit ihren Pfeilen. Wer würde so etwas denken.

Einmal arbeitete Maria mit ihrer Spitzhacke an einer Baugrube für das zukünftige „Sapoljarnik“-Stadion. An der Arbeit waren gleich zwei Lager-Abteilungen beteiligt – eine Männer- und eine Frauen-Abteilung. Hier sah ihr späterer Ehemann sie.

- Ich war krankgeschrieben, und die Mädchen kamen von der Arbeit und meinten: „So viele Zettelchen haben sie uns heute zugeworfen!“ Die Polin Anja Sladkowskaja schlägt mit vor: „Komm, ich schreib für dich eine Antwort“. Ein gutes Mädelchen, es hatte viele Freunde. „Wenn du willst, dann schreib“.

Was in dieser Notiz stand, weiß Maria Iwanowna bis heute nicht, aber die Polin Anja war offenbar so ein Exemplar für sich. Nachdem der Häftling Innokentij die Worte, welche Anina mit einem eleganten Schreiber im Namen der Freundin zu Papier gebracht hatte, gelesen hatte, schloss er auf immer und ewig die Gestalt des Fräuleins in der Wattejacke und dem aus einem Baumwoll-Tischtuch gefertigten Kopftuch in sein Herz ein.

Eigentlich macht es für die Liebesgötter keinen Unterschied, wo sie herumschwirren – über den Locken der Hirtinnen auf der kleinen Waldlichtung oder über den Köpfen von gefangenen Bauarbeitern des „Sapoljarnik“-Stadions, welche ihre Spitzhacken in den gefrorenen Boden hieben. Als Maria und Innokentij aus dem Lager entlassen wurden, fand er sie. Wie – das blieb für sie auch wieder ein Rätsel. Sie kannte ihn ja noch nicht einmal vom Sehen.

- Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich: „Wo habe ich den Mann schon einmal gesehen?“ – erinnert sich Maria Iwanowna. – Später erinnerte ich mich: im Traum. In derselben Kleidung, in der er mir begegnet war. Als ob eingespannte Pferde dort stehen, und er sagt: „Komm, Mädchen, wir beide wollen spazieren fahren“. Die Pferde müssen getränkt werden. Wir machen an einem Brunnen Halt, denn sie im Volksmund Schwengel nennen. Ich sah so etwas zum ersten Mal, als ich nach der Lagerhaft aufs Festland in Urlaub fuhr. Mit einem Eimer holen wir zusammen Wasser – zusammen, Hand in Hand. Ich erwachte, und Tanta Nadja, die Nachbarin, erklärt mir den Traum: „Du hast einen guten Mann kennengelernt und wirst mit ihm lange Zeit zusammen leben“.

Und so kam es auch. Hier ist auch die Spitzhacke – das Werkzeug der Zwangsarbeit. Dieser Gegenstand wird auf Bitten des Leiters des Chlor-Kobalt-Werks an das Norilsker Museum übergeben. Es ist üblich, den Museumsexponaten eine Legende beizufügen. Wir bitten darum, diese Veröffentlichung zu lesen.

Foto: Nikolaj Schtschipko
Text: Tatjana Rytschkowa

„Polar-Bote“, 18.04.2008


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