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Totenfeier für die Heimat oder Samaja Kromka

Jedes Jahr kommen sie hierher – in das zuerst zwangsgegründete und später dann ausgestorbene Dorf, in das man einst ihre Eltern verschleppte und in dem sich ihre Kindheit abspielte. Wie schnell sind von der wie ein Dschungel emporschießenden Taiga Städte und Dörfer zugewachsen, nachdem die Menschen sie verlassen haben? Wohl wegen der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit. Oder für den Fall, daß die Stadt von einer Flutwelle fortgeschwemmt wird – wenn der Staudamm am Wasserkraftwerk bricht? Oder falls sich ein Unfall im Atomreaktor ereignen sollte? Ob der Löwenzahn wohl in Windeseile durch das Straßenpflaster wächst und der Sand die Plätze zuweht, über die sie bei den Paraden immer marschiert sind? Das Wort dafür lautet nicht – schnell! Es lautet – rasant!

Natürlich gibt es feine Nuancen. Die Region Krasnojarsk – das sind nicht die Tropen, und hier, im Kosylsker Bezirk, sind die Bäume nicht so dicht gewachsen, und dann kommst du an den verlassenen Stolypin-Trakt, an dem entlang ein Jahrhundert zuvor die Dörfer gebaut wurden, die unter Chruschtschow nach und nach zu verschwinden begannen. Du schreitest durch diesen irgendwann einmal vom Menschen geschaffenen weiten Raum und kannst noch erkennen, wo die Häuser gestanden haben und wo die Straßen verliefen. Auch zwei Sitzbänke und ein Tisch unter einer Überdachung sind erhalten geblieben; man kann mit seinem Verstand erfassen, daß hier einmal ein Brunnen war. Aber weiter nördlich, in den Bezirken Jenisejsk und Turuchansk, da hat die Taiga wie eine Zunge sämtliche Spuren menschlicher Aktivität in den besagten Jahren fortgeleckt; dort ist nichts übriggeblieben, man kann nicht hindurchfahren, und auch zufuß ist es äußerst schwierig sich durchzuschlagen.

Kromka – so hieß das Dorf im Bezirk Irbej. Es existiert nicht mehr; geblieben sind vereinzelt stehende graue Pfosten in der gleichförmigen, kilometerweiten Einöde. Ein Faulbeerbaum winkt aus den ehemaligen Vorgärten heraus. Dichtgedrängt wachsen die Brennesseln, auf die Ecken verschwundener Holzhäuschen hinweisend. Johannisbeerbüsche stehen in den alten Obstgärten. Vom totenstillen Kromka bis in das vom Leben brodelnde Krasnojarsk sind es 187 Werst gen Osten. Wenn es nicht regnen würde, wäre es kein Problem dorthin zu gelangen. Asphalt, dann Kies und Schotter, und die restlichen sieben Kilometer – kann man sich zwischen Bäumen, durch das Gras und über Felder einen Weg bahnen.

Nach Kromka kam ich auch zusammen mit dem Vorsitzenden des Krasnojarsker „Memorial“ – Aleksej Babij.

... Wissen Sie, es gibt eine Ikone der Erscheinung des Heiligen Geistes vor den Aposteln. Darauf sitzen die 12 Apostel in einem engen Halbkreis um ein Portal/einen Bogen/einen Durchgang herum. An diese Ikone mußte ich denken, als ich sah, wie sich unter dem hohen Himmelsgewölbe, auf dem hochgewachsenen Gras, die Einwohner des ausgestorbenen Dorfes niederließen – um seiner zu gedenken und einander anzuschauen. Diese Leute kommen bereits seit vielen Jahren jedes Jahr einmal hierher. Sie kehren – aus Irbej, Kansk, Krasnojarsk, Atschinsk, Sosnowoborsk, Lesosibirsk, Ust-Kut, Nowosibirsk, Surgut - zu ihrer heimatlichen Asche zurück. Früher, als die Fahrkarten noch billiger waren, kamen auch einige aus Moskau, dem europäischen Teil Rußlands und der Ukraine. In den Gesichtern der nicht mehr jungen Menschen zeigt sich derselbe unverwandte, erwartungsvolle Ausdruck und gleichzeitig die Freude über die stattgefundene Begegnung, die sich auch in den Gesichtern der Apostel widerspiegeln.
In der Nähe einer Birke verlangsame ich meine Fahrt; um mich herum befinden sich bereits ein Dutzend Autos, die alle verhalten näherrollen.

In Kromka gibt es zwei „Portale“. Es sind lange, schmale, aus Brettern zusammengehauene Tische. An ihrer Längsseite stehen Sitzbänke – Bretter auf eingegrabenen Pfählen, und diese Pfähle befinden sich in unmittelbarer Nähe des Dorffriedhofs. Ungefähr 100 Menschen sind hier zusammengekommen (in manchen Jahren waren es auch schon mehr). Schön gekleidet begeben sich die ehemaligen Bewohner von Kromka zusammen mit ihren Enkeln und Urenkeln zuerst zu den Gräbern ihrer Väter und Mütter, die von wilden Erdbeerpflanzen überwuchert sind, schlendern umher und lassen ihre Blicke über das verödete Feld schweifen, auf dem das Dorf einst gestanden hat. Anschließend lassen sie sich dichtgedrängt, Schulter an Schuler, auf den Bänken nieder.

Vor Beginn der Stalinschen Repressionen hatte hier ein namenloses Einzelgehöft gestanden, auf dem mal eine, mal zwei Familien gewohnt hatten. Von 1936-1939 wurden dann zwangsweise Menschen hierher transportiert.

- Nach den Angaben der Volkszählung von 1959, - erzählt Nikolaj Nikolajewitsch Permjakow, der damals in Kromka als Lehrer arbeitete und vorübergehend als Zähler tätig war, - lebten in unserem Dorf 565 Menschen. 15 Nationalitäten: Ukrainer, Deutsche, Polen, Weißrussen, Russen, Burjaten. Es gab 155 Höfe.

Die Tatsache, daß Kromka zu einem Dorf mit Modellcharakter wurde, das die Sowjetmacht widerspiegelte, sieht man auch heute noch an den Gesichtern der Lebenden – die damals Kinder waren. Es sind alles ganz unterschiedliche Personen, genau wie die Kreuze auf dem Friedhof – dort gibt es orthodoxe, polnische, litauische. In Kromka hat es niemanden gegeben, der aus freien Stücken, aufgrund seines eiegenen Willens dorthin gekommen wäre. Alle waren Sondersiedler. Sie sind nicht auf direktem Wege dorthin gelangt, sondern auf Umwegen. Normalerweise wurden die Repressierten zunächst in die Holzfällerei geschickt, und später verschleppten sie dann diejenigen, die dort nicht mehr arbeiten konnten, hierher, um sie landwirtschaftliche Arbeiten verrichten zu lassen.

Na ja, und letztendlich verfuhr man folgendermaßen: sobald sich die Menschen gerade an einem Ort einwenig zurechtgefunden und eingerichtet hatten, riß man sie aus dieser Umgebung wieder heraus und brachte sie an einen neuen unbekannten Ort. In Kromka verkörperte ein Kommandant die Sowjetmacht. Später verließ er das Dorf und kehrte im Mai 1949 zurück. Damals brachte man 30 litauische Familien nach Kromka. Es gab im Dorf eine Grundschule und alle Kinder gingen dirthin, um zu lernen. Permjakow unterrichtete dort ab 1955 für einen Zeitraum von insgesamt sieben Jahren.

Nelli Filippowa ist bemüht, mich mit dem Essen, das sie vorbereitet hat, zu versorgen. Sie sagt, daß sie bei diesen Treffen am meisten über die Erscheinung und das Auftreten der Männer erstaunt ist. Sie zeigen keinerlei Sentimentalität, nein, sie kommen vielmehr aus sich heraus und wirken dadurch ganz anders. Es ist, als ob sie von oben von einem kühlen Wind umhüllt werden, sogar der Gesichtsausdruck verändert sich.

Sie stellt uns ihren Mann Wladimir Filippowitsch und seine Schwester Jewdokia vor. Ihr Vater Filipp Filippowitsch Filippow, geboren 1900, liegt hier begraben. Ihr Geschlecht stammt aus Burjatien; 1931 wurden sie enteignet und in den Turuchansker Bezirk, Region Krasnojarsk, verschleppt. Anschließend wurden sie mit einem Lastkahn auf dem Jenisej hierher, nach Kromka, zur Ansiedlung geschickt. Wladimir Filippowitsch wurde bereits hier geboren, er ist inzwischen 70 Jahre alt. 1938 starb sein Vater. Die Mutter wollte so gern in die Heimat, ins Baikalgebiet, zurückkehren. Sie bemühten sich darum, warteten auf die Sondergenehmigung, denn ihr Aufenthaltsgebiet war begrenzt (wegen der benachbarten Mongolei). Die Erlaubnis für den Umzug kam erst im Jahre 1953, als Stalin starb und das Sonderregime in dieser Zone abgeschafft wurde. Später erhielten die Kolchosbauern dann Ausweise, und die Bewohner von Kromka gingen nach und nach auseinander; verließen das Dorf.

Die Filippows kehrten nach Hause zurück; in der Kolchose fanden sie sogar noch ihre Pferde vor. Sie, die man bei der Entkulaksierung beschlagnahmt hatte, wurden immer noch für die Arbeit verwendet. Und in dem vertrauten Fünf-Wand-Haus der Filippows war 70 Jahre lang der Dorfrat untergebracht. Später, unter Jelzin, fand eine Gerichtsverhandlung statt; aber auch dann wurde den Filippows das Haus nicht zurückgegeben, weil zu dem Zeitpunkt ein Kindergarten dort untergebracht war. Man zahlte ihnen Schadenseratz – 7.500 Rubel. Das war zu der damaligen Zeit soviel wert, wie zwei unbearbeitete Baumstämme.

- Sie waren alle Verbannte, alle träumten davon, einmal nach Hause zurückzukehren; wir, die Kinder, wurden nicht gefragt. Aber für uns war Kromka doch die Heimat. Hier sind wir geboren, hier sind unsere Freunde, du kennst jeden einzelnen Pfad; da drüben auf der Anhöhe haben wir immer gespielt – und da hinten auf der Lichtung auch, - sagt Wladimir Filippowitsch und zeigt mit einem freundlichen Lächeln auf die verlassenen Stellen. – Später habe ich in Ulan-Ude eine Ausbildung gemacht, aber es hat mich trotzdem immer wieder hierher gezogen; nach Beendigung des Instituts wurde mir eine Arbeitsstelle in dieser Gegend zugewiesen. Jetzt lebe ich in Sosnowoborsk (einer Trabantenstadt in Krasnojarsk. – A.T.). Jede Nacht träume ich von Kromka. Wie ich dort auf der Straße entlang gehe, die .... es in Wirklichkeit schon gar nicht mehr gibt.

Ich lerne Anna Pawlowna Kiselman(n) kennen, die einsam und verlassen am Familiengrab steht. Sie wurde 1933 geboren. Ihre Familie, Deutsche, wurde 1941 aus dem Brjansker Gebiet verschleppt. Ihr Mädchenname ist Lajker (Leiker? Laiker?). 1967 hat sie Kromka verlassen und ist in die Bezirksstadt Irbej gezogen. Ihr ganzes Leben lang hat sie als Melkerin gearbeitet; sie hat drei Kinder großgezogen. Alle leben in Irba: sie sind von Beruf Farmer, Konditor und Buchhalter geworden.

Makrina Filippowna Kondratjuk ist 86 Jahre alt; sie ist damit die älteste Einwohnerin von Kromka. 1979 hat sie das Dorf als eine der letzten verlassen. Ihr Sohn aus Krasnojarsk hat sie zu diesem Treffen hierher gefahren. Er erzählt: Mama ist aus der Ukraine an diesen Ort geraten – die Eltern wurden enteignet, in der Taiga starben sie an Typhus, wie alle anderen Verwandten auch. Sie blieb ganz allein zurück, zog aus der dichten Taiga nach Kromka um, lebte bei fremden Leuten, schloß hier den Bund fürs Leben und mußte dann ihren Ehemann an die Front ziehen lassen; er fiel. Später heiratete sie ein zweites Mal. Als sie dem Bericht des Sohnes lauscht, nickt Makrina Filippowna und lächelt.

Galina Nikolajewna Permjakowa:

Mama wurde 1900 geboren; 1931 wurde sie aus dem Baikalgebiet verschleppt. Dort hatte sie wie eine Sklavin gearbeitet und hier – auch. Aber sie hat niemals auf die Sowjetmacht geschimpft. Wir waren acht Kinder, zwei starben, als sie noch ganz klein waren. Papa starb 1956; sie schaffte es ganz allein, uns alle ins Leben hinauszuschicken, alle haben ihre Ausbildung am Institut abgeschlossen. Ob wohl im heutigen Leben eine Landfrau in der Lage wäre sechs Kinder großzuziehen und ihnen eine gehobene Ausbildung zu ermöglichen? Beim Gedenkschmaus wendet sich Nikolaj Permjakow – Galinas Bruder – an seine Landsleute. Er spricht kurz davon, daß Kromka von der Geschichte zum Aussterben verurteilt wurde: alle Bewohner wurden unter Zwang hierher gebracht. Aber er ist auch stolz darauf, daß aus Kromka mehr Kinder zur Schule nach Wjerchnjaja Urja gingen, als aus dem benachbarten Jelesejewka, obwohl es 7 km näher daran lag. Der Vorsitzende von „Memorial“, Aleksej Babij, betont: im Schicksal von Kromka spiegelt sich, wie in einem Tropfen, die Geschichte des Landes wieder – die Entkulakisierung, die Repressionen, der Krieg, der Bauboom unter Chruschtschow. Aber jetzt ist er einfach nur glücklich, zusammen mit diesen Menschen an diesem Tisch sitzen zu dürfen.

Der Totenschmaus zu Ehren der Heimat verblüfft wegen seiner würdevollen Ausstrahlung. Es wird nur wenig gegessen und getrunken, man unterhält sich vernünftig und besonnen. Man erinnert sich an die Jugendzeit, tauscht die Neuigkeiten des vergangenen Jahres untereinander aus. Sie sammeln Geld für den Kauf neuer Tische und Bänke - diese hier werden schon bald ganz und gar verrottet sein. Sie erzählen, daß sie eine Karte von Kromka gezeichnet haben, aus der man ersehen kann, wer wo gewohnt hat.

In unserem Gedächtnis sind soviele Gigabite gespeichert wie nötig.

Irgendjemandes Kugelschreiber rollt immer wieder vom Tisch ins Gras - wahrscheinlich ist der Boden uneben. Und es gibt kein Halten – unter ihr ist nichts, nur Leere. Und wenn das so ist, dann fahren die Bewohner von Kromka jedes Jahr an einen menschenleeren Ort, setzen sich dichtgedrängt nebeneinander und drücken so mit ihrem Gewicht auf die Erdkugel. Und dabei bewegen sie sie ein ganz klein wenig von der Stelle.

Aleksej Tarasow
Unser Mitkorrespondent in der Region Krasnojarsk
Neue Zeitung
10.08.2008


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