Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

Die Bibel half ihnen zu überleben

In jedem Haus werden wohl Dinge verwahrt, die von den Vorfahren erworben und sorgsam von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dies können alte, vergilbte Fotografien, Medaillons, historische Dokumente sein. Mitunter treten als Reliquien auch Gegenstände oder Möbel wie beispielsweise ein Stuhl oder eine Kommode, angefertigt vom Großvater oder Urgroßvater, eine von der Großmutter bestickte Serviette oder eine Hochzeitsikone, in Erscheinung. All diese Gegenstände stehen im Zusammenhang mit wichtigen Ereignissen und beziehen sich auf eine ganz bestimmte geschichtliche Epoche. Familien-Reliquien stellen etwas Wertvolles für jeden dar. Sie besitzen wie kein anderer Gegenstand im Haus besondere Bedeutung und fungieren manchmal als Beschützer und Talismane für Erfolg und das Wohlergehen der Familie.

Als die Deportation der Wolga-Deutschen einsetzte, konnte niemand ahnen, wohin man sie bringen würde und für wie lange. In dem ganzen Durcheinander nahmen die Menschen das mit, was sie tragen konnten. Der eine packte für die lange Fahrt Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs und Kleidung zusammen. Manche nahmen Dokumente oder Erinnerungsfotos.

Die Familie Simon, die aus dem Dorf Straßburg, Bezirk Pallassowka, Gebiet Stalingrad, deportiert wurde, nahm ein Waffeleisen und die Bibel nach Suchobusimskoje mit. Gegenwärtig leben von den sechs Kindern der Simons nur noch drei. Die Schwestern Frieda, Mina und Elsa leben in Suchobusimskoje. Sorgsam hüten sie die Familien-Reliquien, die von den Eltern an sie weitergegeben wurden.

Im Spätherbst des Jahres 1941 wurden die Verschleppten, unter ihnen auch ihre Familie, mit einem Schiff in Atamanowo abgesetzt. David, der Jüngste, war damals weniger als ein Jahr alt. Am selben Tag wurden die Verbannten nach Schoschkino weitertransportiert.

- Die Menschen strömten herbei, das halbe Dorf war gekommen, alle wollten sich die Deutschen ansehen, - erinnert sich Frieda Iwanowna, - Die Leute sagten irgendetwas auf Russisch, aber wir verstanden die Sprache überhaupt nicht und senkten stattdessen nur verlegen unseren Blick. Die Ortsansässigen erwiesen sich in ihrer Mehrheit als freundlich. Man spürte, dass sie Mitleid hatten und helfen wollten. Unsere Nachbarin, Tante Dusja, eine kinderlose Frau, holte mich häufig zu sich und schenkte mir Tee ein, bewirtete mich mit irgendwelchen leckeren Sachen.

Mina Iwanowna war damals gerade sechs Jahre alt, als ihre Familie im Winter 1942 nach Suchobusimskoje umzog.

- Es war bereits Abend geworden, und wir fuhren immer noch auf dem Leiterwagen über den verschneiten Weg. Es schien, als ob die riesigen Schneewehen kein Ende nehmen wollten. Es war ganz schrecklich, als durch die Stille das Heulen der Wölfe drang. Zugedeckt mit langen, nicht gefütterten Pelzmänteln und eng aneinandergeschmiegt, träumten wir davon, schneller an Ort und Stelle zu gelangen.

Die ersten Jahre in der Verbannung waren die schwierigsten. Die Familie musste viele Demütigungen, Kränkungen und Ängste erleben. Den Vater sowie den ältesten Bruder holten sie in die Arbeitsarmee. Die Mutter blieb mit ihren fünf Kindern allein zurück. Sie hausten in einer winzigen Hütte am Ufer des Malyj Busim, heute ist das die Straße der Vier Kämpfer. An Möbeln und Hausinventar gab es einen kleinen Ofen, Bretter als Schlafstellen und eine Kiste, die als Tisch diente. Nachdem Jekaterina Alexandrowna in Sibirien angekommen war, bekam sie heftiges Heimweh. Sie sprach fast gar nicht mehr, lag oft da und drehte das Gesicht zur Wand; sie weinte und redete davon, dass sie an die Wolga zurückkehren wolle.

- Mama war immer traurig, sogar teilnahmslos, - erinnert sich Frieda Iwanowna. - Ich verstand ihren Kummer und Gram aber erst, als ich erwachsen wurde. Einmal gingen wir beide in den Wald zum Brennholz Sammeln. Wir hackten das Holz mit einer Axt, banden uns die Reisigbündel auf den Rücken und machten uns auf den Rückweg. Es herrschte eisige Januar-Kälte, und wir mussten uns beeilen, um vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu kehren. Ich ging vorneweg, und plötzlich begann Mama zu singen… Das kam so unerwartet. Sie sang ein bekanntes religiöses Lied in deutscher Sprache. Ich wandte mich um und wollte sie fragen, woher sie denn die Kraft zum Singen nähme – und da sah ich die auf ihren Wangen vom Frost erstarrten Tränen.

Es ist ein Wunder, sagen die Schwestern einstimmig, dass alle Kinder in den ersten Kriegsjahren am Leben blieben. Sie sind überzeugt, dass es sich Dank der Bibel der Großmutter so verhielt, die 1900 herausgegeben wurde und auf deren im Laufe der Zeit vergilbten Umschlag man nur noch mit Mühe die Überschrift „Gott ist mit uns“ auf Deutsch lesen kann. Die Mutter ging zu den Leuten, verdingte sich mit verschiedenen ungelernten Arbeiten für einen Tontopf voll Milch oder ein Stück Brot. Als es keine Arbeit gab, waren sie gezwungen betteln zu gehen. Die Jüngsten, Andrej und David, die zu der Zeit drei und vier Jahre alt waren, baten um Almosen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die ortsansässigen Kinder die Geschwister Simon mit kränkenden Worten überschütteten.

- Dort, wo sich heute die Renten-Behörde und das Sozial-Amt befinden, gab es eine Kantine, - erzählt Mina Iwanowna, - Leute in Militäruniform gingen zum Mittagessen dorthin. Wir warteten, bis sie weggingen und rannten dann los, um die Teller abzulecken. Es schien uns, als ob es auf der ganzen Welt nichts schmackhafteres als Grütze gab.

Es kam auch vor, dass wir stahlen. Unweit der Stelle, wo wir wohnten, befand sich das Beschaffungskontor. Die Leute nähern sich mit Pferden, treten ein, um Felle abzuliefern, während wir in dieser Zeit zu den Steigbügeln laufen, die Säcke mit einem Fläschchen Milch oder einem Brot losbinden und uns schnell wieder aus dem Staub machen. Heute erinnern wir uns mit einem Lachen daran, - sagt die alte Frau, - aber damals litten wir so schrecklichen Hunger, dass der stärker war, als alle anderen Gefühle.

- In ranzigem Fett buken wir Fladen aus gefrorenen Kartoffeln, - fährt Mina Iwanowna in ihren Erinnerungen fort. – Die Mutter teilt jedem ein Stück zu, aber alle wollen so gern noch mehr essen. Vor dem Zubettgehen las Mama in der Bibel, die wir mitgebracht hatten, und das Hungergefühl wurde ein wenig eingedämmt.

Als die Familie sich eine Kuh anschaffte, wurde das Leben etwas leichter. Sie hielten das Tier hinter einem Flechtzaun in der Diele. Damals kam ihnen auch das Waffeleisen zustatten, welches Mama in die entlegenen Gefilde mitgenommen hatte. Die knusprigen Waffeln erinnerten uns an Zuhause, an unser anderes Leben.

Im Sommer liefen wir mehrmals am Tag in den Wald, um Beeren zu sammeln. In jenen Jahren war die gesamte Umgebung von Suchobusimskoje einfach übersät von Wald-Erdbeeren. Einen Eimer voll verkauften wir auf dem Markt für drei Rubel. Das Geld gaben wir der Mutter; sie sparte es, um damit Heu zu kaufen.

Bei Kriegsende gingen die Zwillinge Mina und Elsa zur Schule. Kleidung besaßen die Mädchen nicht, aber sie bekamen in der Schule ein Kattunkleid. Drei Jahre später endete die Ausbildung. Die Lehrerin, Anna Sergejewna Iwanowa versuchte mehrmals den Vater zu überreden, dass die Mädchen weiter zur Schule gehen müssten, doch Vater Iwan Jakowlewitsch blieb unbeugsam: „Und wer soll die Arbeit machen?“

Seitdem sind viele Jahre vergangen. Die Schwestern wuchsen heran, gründeten ihre eigenen Familien. Den sibirischen Boden bezeichnen sie als ihre Heimat. Elsa arbeitete als Technikerin im Klub der Sowchose, Frieda als Köchin in der Kantine. Mina Iwanowna war in der Sowchose als Schweinehirtin, Melkerin und Geflügelwärterin tätig. Vierzig Jahre lang arbeitete sie als Stukkateurin und Malerin in der Bau-Gruppe. Als Veteranin der Produktion besitzt sie zahlreiche Urkunden, ihr Foto hing jahrelang in der Sowchose am Ehrenbrett. Die Sachen, die die Familie zur Zeit der Deportation mitnahm, hat Jekaterina Aleksandrowna ihren Töchtern übergeben

Das alte gusseiserne Waffeleisen ist noch sehr gut erhalten. Es ist erstaunlich, aber es funktioniert noch und ist in 70 Jahren nicht ein einziges Mal kaputt gegangen.

- Nimm es in die Hände, - lächelt die alte Frau durch einen Tränenschleier, - und du kehrst geradewegs in die Vergangenheit zurück. Ich erinnere mich an die Kinderjahre, an Mama, und mir wird ganz warm ums Herz. Viele Male haben sie mir vorgeschlagen die wertvollen Familienstücke zu verkaufen, aber kann man denn die Erinnerung verkaufen?

Tatjana Badenkowa, Foto Aleksej Matonin

„Land-Leben“ (Ortschaft Suchobusimskoje), 28.08.2009


Zum Seitenanfang