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Schlimmer als der Tod

Am 28. August 1941 kam der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Deportation der in der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen lebenden Bürger deutscher Nationalität“ heraus.

Tausende deutscher Familien wurden aus ihren heimischen Häuern herausgerissen und nach Sibirien und Mittel-Asien ausgesiedelt. Doch das schien dem totalitären Regime immer noch zu wenig zu sein. Zuerst holten sie alle Männer in die Arbeitsarmee, bei der es sich dem Wesen nach um Arbeitslager handelte, und anschließend mobilisierten sie auch die Frauen. Darüber, in welchen dramatischen Ereignissen diese Mobilisierung Gestalt annahm, berichteten zwei Frauen – Augenzeuginnen jener tragischen Geschehnisse.

Hildas Familie wurde zunächst von der Krim in den Karassujsker Bezirk, Gebiet Dschambul, Kasachstan, ausgewiesen. 1942 holten sie die Männer in die Arbeitsarmee, und einige Monate später bestellte man auch sie per Vorladung, zusammen mit andern Frauen, in die Bezirkshautstadt, obwohl sie ein zwei Monate altes Kind hatte. Wie sehr sie beim Dorfrat auch zu beweisen versuchte, dass es ich um einen Irrtum handeln müsse – der Vorsitzende blieb unnachgiebig – sie musste hingehen! Und das bedeutete 60 km zu Fuß auf staubigen Steppenwegen. Die Kinder wurden abwechselnd von den Mobilisierten getragen. Zwei Tage brauchten sie bis zum Bezirksexekutivkomitee. Man ließ sie wieder gehen, aber der Rückweg nahm drei Tage in Anspruch – voller Erschöpfung und Angst. Es verhielt sich nämlich so, dass in die Arbeitsarmee mobilisierte Mütter, die Kinder im Alter von unter drei Jahren hatten, diese zu nicht einberufenen Frauen gaben. In Hildas Obhut kamen sechs Kinder – zwischen drei und elf Jahren. Ohne Nahrung, ohne Kleidung, ohne Schuhwerk. Und mit ihnen ging sie den ganzen Weg wieder zurück.

- Die Minuten der Trennung von den Kindern lassen sich nicht beschreiben, - erinnert sie sich. – Es zerriss einem das Herz beim Anblick der Kinderhändchen, die sich an die Mütter klammerten. Die letzten Umarmungen und Küsse, das hysterische Weinen und Wehklagen, das lange Hinterherwinken beim Abschied. Sie trennten sich für immer. Den die Frauen gingen fort – ins völlig Unbekannte. Wohin? Für wie lange holte man sie fort? Niemand wusste es. Nein, so etwas vergisst man nicht! Bis heute stehen diese Szenen ganz lebendig vor meinen Augen!

Es verging fast ein Jahr, und das Bild wiederholte sich. Jetzt holten sie sogar diejenigen, die Kinder unter drei Jahren besaßen. Hilda, bekam als Mutter zahlreicher Kinder noch drei Kleine hinzu. Insgesamt waren es nun zehn. Niemand konnte sich in dem Moment ausmalen, wie sie leben sollten. Der Trennungsschmerz verschlang alle Gedanken und Gefühle. Doch es geschah ein Wunder. Einige Tage später kehrten ein paar Frauen aus der mobiisierten Partie wieder zurück. Sie berichteten dann auch, was geschehen war.

Den ganzen Weg vom Bezirkszentrum wollten die Tränen der bekümmerten Frauen nicht trocknen. Die Erinnerungen an den Abschied wollte nicht weichen. Ihnen ließ der Gedanke keine Ruhe, dass ihre lieben Kleinen nun bei fremden Leuten bleiben sollten, die nicht einmal selber etwas zu essen hatten. In der Vorstellungskraft entstanden Bilder – eines schlimmer als das andere. Wie in Wirklichkeit sahen sie, wie bei den Kleinen die Tränen flossen. Angst und Mitleid entfachten das Feuer der Hoffnung, veranlassten sie zum Handeln. Die Mütter begriffen nur zu gut: man darf niemals die Hände in den Schoß legen und abwarten, man muss etwas tun. Sie mussten wenigstens verlangen, dass sie einem erlaubten, die Kinder mitzunehmen. Denn es war doch klar, dass die Kleinen ohne ihre Mütter durch Hunger und Krankheit umkommen würden. I, Bezirkskommissariat hörte man sich ihr tränenersticktes Flehen an ohne ins Wanken zu geraten.

Als sich die schicksalsvolle Minute der Abfahrt näherte, war die Feder der seelischen Anspannung bis zum Zerreißen gespannt. Und als das Pfeifen der Lokomotive ertönte und die Waggons anrollten, vereinten sich die Schluchzer der Frauen zu einer einzigen Laut. Das Bild war derart unerwartet und schrecklich, dass alle Frauen, die auf dem Verladeplatz und den Fuhrwerken zurück geblieben waren, vor Grauen erstarrten. Der Zug bremste jäh und blieb schließlich stehen. Eine Minute später ertönte ein zweites Mal die Lokomotiven-Sirene, länger diesmal, doch der Laut ging in allgemeinem Geschrei unter. Mütter stürzten weinend aus den Waggons, sprangen auf den Bahndamm. Manche von ihnen gingen sogleich auf die Knie nieder und hoben die Hände zum Gebet gen Himmel – ein Ausdruck heftiger Verzweiflung und frommer Wut. Der Zug bewegte sich nicht von der Stelle. In der Nähe der Lokomotive beschimpften sich gegenseitig, laut fluchend, Männer. Nach einiger Zeit traf ein Kommando ein: Frauen, deren Kinder das dritte Lebensjahr noch nicht erreicht hätten, könnten nach Hause zurückkehren.

Das Männerherz hatte den Schluchzern der Frauen nicht standhalten können. Die Hand des Maschinisten war nicht in der Lage gewesen, den Gang einzulegen, um den schluchzenden Zug ein zweites Mal von der Stelle zu bewegen. Über die Verantwortung, die er und der Mitarbeiter des NKWD auf sich nahmen, indem sie faktisch den Befehl der zusätzlichen Mobilisierung deutscher Frauen für die Kohleindustrie sabotierten, dachte in dieser Situation natürlich niemand nach.

Jelenas Familie aus der Stadt Engels wurde nach Chakassien ausgewiesen. Sie berichtete noch von einer weiteren dramatischen Episode bei der Mobilisierung deutscher Frauen in die Arbeitsarmee. Sie ereignete sich an der Eisenbahnstation in Abakan. Bis unmittelbar vor der Abfahrt des Zuges hatten die Mütter sich nicht von ihren Kindern und diese nicht von ihren Müttern trennen können. Es gab keinerlei Befehle in den Zug zu steigen. Die den Zug begleitenden Mitarbeiter des NKWD fingen an, die Kleinen aus den Händen ihrer Mütter zu reißen. Der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, und man trieb die weinenden Mütter mit grober Gewalt in die Waggons. Eine von ihnen verlor vor lauter Kummer den Verstand und lief, mit ihrem Kind an der Hand, den gesamten Zug entlang. Hände streckten sich ihr entgegen, die versuchten, sie in den Waggon hinaufzuziehen. Doch sie lief immer weiter, bis sie sich schließlich, den kleinen Sohn an sich pressend, unter die Räder warf. Man sagte, es sei ihr Erstgeborener gewesen. Ihr Ehemann, ebenfalls Wolga-Deutscher, galt schon ganz am Anfang des Krieges als verschollen. Der dreijährige Junge wäre so dem sicheren Tod ausgeliefert gewesen. Einem derartigen Schicksal hatte sie also den Tod für beide vorgezogen.

Mütterlicher Schmerz kennt keine nationalen Unterschiede. Er ist bei allen gleich – egal, ob du Deutsche, Russin oder Kirgisin bist. Gerade dort, an der empfindlichsten Stelle traf die zynische bolschewistische Macht die deutschen Frauen. Das sollen und müssen die Nachfahren wissen.

Alexander Fischer, Ortschaft Atamanowo

„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 29. August 2008


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