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Katyn – das Massengrab

Die Rede ist hier nicht nur vom Kino, wenngleich der Anlass für das Aufzeichnen dieser Notizen der neue Film „Das Massaker von Katyn“ des berühmten polnischen Regisseurs Andrzej Wajda ist.

Sehen konnte ich ihn bislang nur auf DVD, denn bislang ist es nicht möglich, ihn im Kino oder auf den Fernsehbildschirmen anzuschauen. Dabei fand die Premiere von „Das Massaker von Katyn“ bereits im vergangenen Herbst in Moskau statt, aber auf der breiten Kinoleinwand ist er bisher nicht erschienen (und es sieht ganz so aus, dass dies auch in nächster Zukunft nicht der Fall sein wird). Und das ist wirklich jammerschade, denn dieser Film, der einer der schmerzvollsten Seiten unserer Geschichte gewidmet ist, ist gerade für unsere, die russischen, Zuschauer äußerst aktuell und lehrreich – auch wenn die Haupthelden (und Opfer), die darin gezeigt werden, Polen sind.

Es ist nicht verwunderlich, dass Andrzej Wajda, der lebendige Klassiker der Welt-Kinematographie, Autor von Meisterwerken wie "Asche und Diamant“, „Danton“, „Der Mann aus Marmor“, sich endlich dazu entschloss einen Film nach Motiven des Buches von Andrzej Muljartschik zu produzieren, denn mit dieser Absicht hatte er schon viele Jahre geliebäugelt. Schließlich wartete auch Wajdas Mutter, ebenso wie die Heldin des Films, bis zu ihrem Tode auf die Heimkehr ihres Ehemannes, des Hauptmanns Jakub Wajda, der ein Opfer des stalinistischen Terrors wurde und im Jahre 1940 in Charkow ums Leben kam. Und das Örtchen Katyn bei Smolensk wurde für alle Polen zum apokalyptischen Symbol dieser Schreckensherrschaft – genau dort, Im Katyner Wald, wurden im Frühjahr 1940 auf Befehl einer „NKWD-Troika“ (gemäß Anordnung des Politbüros vom 5. März desselben Jahres) etwa zwanzigtausend kriegsgefangene polnische Offiziere durch Erschießung hingerichtet. Viele Jahre schrieb die sowjetische Propaganda dieses Verbrechen den Deutschen zu, welche diese „Aktion“ angeblich etwas später, als sie 1941 das sowjetische Territorium besetzten, begangen hätten. Aber mit der Zeit wurde die Wahrheit nach Außen geschwemmt, und 1990 gestand die Staatsleitung der UdSSR (ausgesprochen von Michail Gorbatschow) offiziell ein, dass das NKWD für diesen Massenmord verantwortlich gewesen sei. Übrigens wusch dies die Westen der Nazis auch nicht wieder weiß – in eben diesem Katyn schafften sie es bald darauf nicht wenige der Unseren zu erschießen – sowjetische Kriegsgefangene.

Der Film erzählt vom tragischen Schicksal einer polnischen Familie, die, wie das gesamte Land, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs durch totalitäre Staaten in zwei Teile zerrissen wurde. Als klares Symbol wird eine der ersten Episoden verstanden, in denen eine Brücke gezeigt wird, auf der zwei Massen polnischer Flüchtlinge aufeinander stoßen. Die Einen retten sich vor den Deutschen, die Andren – versuchen sich vor den Russen in Sicherheit zu bringen…. Wohin sollen sie laufen? Es gibt keinen Ausweg! Und der gesamte Film ist aufgebaut auf den parallel verlaufenden Wechsel von Episoden, bei denen die Handlung mal in der deutschen, mal in der sowjetischen Besatzungszone spielt. Und noch eine Filmszene prägt sich im Gedächtnis ein: sowjetische Soldaten reißen aus der rot-weißen polnischen Flagge die weiße Hälfte heraus (und verwenden sie sogleich als Fußlappen), und die Stange mit der übrig gebliebenen roten Flaggen-Hälfte stecken sie in den Fahnenmast. Mit einer symbolischen Szene geht der Film schließlich auch zu Ende: eine Hand mit einem Rosenkranz ragt aus dem Erdboden heraus – die Hand eines erschossenen polnischen Offiziers …

Im Film spielen berühmte polnische Schauspieler wie Maja Komorowskaja (Anna, die Frau des Offiziers) und Jan Englert (ihr Ehemann, erschossen in Katyn) mit. Den epischen Charakter verleihen dem Film die Massen-Szenen, Panorama-Episoden, welche die Atmosphäre einer beinahe dokumentarische Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit schaffen. Von einen ganz besonderen Dramatismus sind die Episoden der Nachkriegszeit durchdrungen, als der Aufbau des „neuen Polens“ begann. Die eigentliche Hinrichtung der polnischen Offiziere wird ganz am Schluss des Films gezeigt – in einiger Entfernung, unbewegt und gelassen, ohne Schreie und ohne Kommentare. Übrigens erinnert diese Episode irgendwie an die in ihrer dokumentarischen Gelassenheit und mechanischen Unmenschlichkeit so gruseligen Szenen aus Rogoschkins Film „Der Tschekist“ (nach dem Roman „Kleinholz“ von Sasubrin).

Ungeachtet der ganzen Schärfe und Krankhaftigkeit des Themas ist Wajdas Film keineswegs antirussisch, ja nicht einmal antisowjetisch zu verstehen. Er ist viel mehr antistalinistisch, antitotalitär antimilitaristisch. Nicht zufällig wird im Film ein sowjetischer Offizier von allen russischen Personen als bedeutendste und eindeutig sympathische Figur gezeigt, der mit den Polen Mitleid hat und die hin und her gerissene Anna (Ehefrau eines polnischen Offiziers!) samt ihrem Töchterchen vor dem NKWD rettet. Hauptmann Popow, in bemerkenswerter Weise gespielt von Sergej Garmasch, stellt nicht den stalinistischen Staat dar, sondern das russische Volk. Und er handelt nach seinem Gewissen, ganz christlich, so wie jeder Mensch handeln sollte, der sich für annähernd normal hält. Von was für einer Russenphobie Wajdas kann man schon sprechen, wenn er für eine der besten Rollen des Films einen russischen Schauspieler kommen ließ! Bis zu dem Zeitpunkt spielte Garmasch den Hauptmann Lebjadkin auf der Theaterbühne „Der Zeitgenosse“ in Wajdas Theaterstück „Die Dämonen“ nach dem Roman von Dostojewskij (dem Lieblingsschriftsteller des polnischen Regisseurs, den er nicht nur einmal auf Bühne und Leinwand brachte).

„Das wahre Thema des Films über Katyn sind das Geheimnis und die Lüge, welche dieses Verbrechen in ein Tabu-Thema verwandelt haben, - sagte Andrzej Wajda in einem Interview. –Deswegen habe ich meine Aufmerksamkeit nicht auf die Opfer des Mordes konzentriert, sondern auf ihre Angehörigen, die sich jahrelang immer wieder die Frage stellten: „ Warum?“. Es ist ein Film über eine große Illusion und die grausame Wahrheit“.

Leider ziehen viele von uns es bis heute vor, in einer Welt voller Illusionen zu leben; sie wollen der grausamen Wahrheit gar nicht ins Auge sehen. Und deswegen scheint mir das Hauptanliegen des Films das der Wahl zu sein. Vor jedem taucht doch irgendwie die Frage auf: auf wessen Seite stehst du – „auf der Seite der Ermordeten oder auf der Seite der Mörder?“ Nur einige Wenige (und das wird im Film gezeigt) trauen sich „die Seite der Getöteten zu vertreten“. Und zwar sind das sowohl der Offizier, der Freund des umgekommenen Andrzej (bereits nach dem Sieg im Jahre 1945!), der sich vor Verzweiflung und Gewissensbissen erschießt, ferner ein junger Bursche, der Sohn eines in Katyn erschossenen Offiziers, der nicht bereit war, mit der neuen Macht einen Kompromiss einzugehen, sowie eine junge Frau, dir nur deswegen verhaftet wurde, weil sie auf dem Grabmal ihres Bruder, einem ehemaligen Piloten, den genauen Ort und den exakten Zeitpunkt seines Todes angab. Ihre Schwester handelt da „vernünftiger“, indem sie ihren Konformismus mit dem Bestreben rechtfertigt, der „Wiedergeburt Polens“ dienen zu wollen. Wie die Mehrheit aller gesetzestreuen Bürger gerät sie ganz unfreiwillig „auf die Seite der Mörder“. Etwas Ähnliches musste ich auch in den Sowjetjahren mehrfach hören – von äußerst liberalen Schriftsteller-Brüdern, die der Partei beitraten, als würden sie eine Ehe mit Berechnung eingehen - und nicht aus Liebe: „Alterchen, es müssen mehr gute Menschen in diese Partei eintreten – und dann werden wir sie von innen heraus zerstören!“ Und wie erfolgreich sie damit waren …

In dem Film „Katyn“ geht es darum, dass man immer Mensch bleiben und es verstehen muss, die GANZE Wahrheit zu sehen und nicht nur den Teil, der für irgendjemanden oder für einen selbst von Vorteil ist – zum Zwecke der Selbstrechtfertigung. Ja, der Mensch ist schwach. Aber besitze doch wenigstens den Mut, dir selber diese Schwäche einzugestehen und im ständigen Bewusstsein der Sünde zu leben. Das ist jedenfalls aufrichtiger, als sich und die anderen rund um die Uhr zu belügen.

Außerdem darf man, wenn man an die Opfer von Katyn denkt, für die Vollständigkeit der ganzen Wahrheit auch niemals weder die Schuld der Polen vergessen, welche sich in den 1920er Jahren gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen grausam verhielten, noch die zahlreichen Fakten des polnischen Antisemitismus – aber auch nicht die heutige Russenphobie in Polen. Aber dabei sollte man auch daran denken, dass der Ursprung dieser Russenphobie in den jahrhundertelangen Kränkungen und Verletzungen des polnischen nationalen Selbstbewusstseins des durch mehrmalige Teilungen traumatisierten Polens liegt. Das vergessen die Polen einem nicht, und wir vergessen ebenfalls nicht, und so setzt sich diese ewige „Liste von gegenseitigem Schmerz, Elend und Kränkung“ auch weiterhin fort…

Die größte Kränkung ist die, dass einfache Bürger auch heute Opfer absichtlicher Täuschung, Objekte politischer Manipulationen werden, und die große, komplizierte Wahrheit wird in lauter Teile zerstückelt, wobei man den Menschen lediglich einen Teil dieser Wahrheit unterschiebt. In demselben Katyn wurden nicht nur im Jahre 1940 Erschießungen und Bestattungen vorgenommen, sondern auch bereits zuvor, in den 1920er und 1930er Jahren (ebenfalls durch die Hände des NKWD), als nämlich die Mehrheit der „Volksfeinde“ vernichtet wurde, und im Jahre 1943, wurden hier, nun schon von den Deutschen, etwa fünfzigtausend sowjetische Kriegsgefangene erschossen. Und so kam es, dass Katyn ein so großes Massengrab ist. Und auf Wunsch kann man aus der blutigen Katyner Geschichte ganz einfach die „Argumente“ herausziehen, die für irgendjemanden in einem vorgegebenen Augenblick gerade nützlich sind. Besser wäre es aber, die ganze Wahrheit zu erfahren – ohne jedwede Auslassung. Aber auf gegenseitige Reue rechnen – das wäre wohl zu naiv.

Eduard Rusakow

Auf den Fotos: Andrej Wajda. Kugel und Hülsen, die von der deutschen Kommission G. Butz in den Gräbern von Katyn gefunden wurden. 1943. Der Akademiker N.N. Burdenko (zweiter von links) in Katyn während der Expertise. 1944. Das Memorial von Katyn. Szene aus dem Film. Anna (Schauspielerin Maja Komorowskaja) und Andrzej (Schauspieler Jan Englert). Filmausschnitt.

„Krasnojarsker Arbeiter“, 06.09.2008


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