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Wie haben Sie die ganze Zeit über gelebt?

30. Oktober – der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. Im Zusammenhang damit beschloss der „Polar-Bote“, ehemaligen Häftlingen des Norilsker Lagers eine Frage zu stellen:

Wie haben Sie die ganze Zeit über gelebt?

Maria Kolmagorowa:
- Ich weiß bis heute nicht, worin meine Schuld lag und wieso ich plötzlich zur „Volksfeindin“ wurde. Als ich aus dem Lager kam, fand ich Arbeit im Schacht N° 15. Ein Jahr lang arbeitete ich neben gefangenen Zwangsarbeitern. Nachdem die Zeit der Repressionen zu Ende gegangen war, verließ die Hälfte von ihnen den Ort – sie hatten Geld für ihre Ausstattung erhalten; die anderen blieben in Norilsk – so wie ich. Ich heiratete aus Liebe, schade nur, dass mein Mann so früh verstarb. Wir lebten mit unseren Freuden und mit unseren Schwierigkeiten. Wir mussten wieder ganz von vorn anfangen, das ist nicht so, als wenn man nur Vater und Mutter verlässt. Die Kränkung über die zugefügte Ungerechtigkeit ist geblieben. Wahrscheinlich wird sie wohl auch erst mit mir diese Welt verlassen, obwohl ich mich bei niemandem darüber beklagt habe oder jemals beklagen werde.

Jekaterina Merk:
- Sie verschleppten meine Schwester und mich, zusammen mit anderen Verwandten, von der Wolga, weil wir Deutsche waren – zuerst nach Sibirien, später in den Hohen Norden. Unsere Eltern starben 1933, sie wollten mich in ein Kinderheim bringen, aber die Verwandten ließen es nicht zu. Anfangs lebten wir 5 km flussabwärts von Dudinka in Zelten und Erd-Hütten. Ich war 12 Jahre alt. Meine Schwester und ich fanden mit Erlaubnis des NKWD Arbeit als Dienstmädchen n einer Familie. Wir Verbannte gingen wir von 1948 bis 1956 regelmäßig zur Kommandantur, um uns dort zu melden und registrieren zu lassen. Das Leben kam nach und nach wieder in Gang. Ich heiratete, lebte mit meinem Mann in Liebe und Einverständnis fast 50 Jahre lang zusammen. Drei Kinder zog ich groß, arbeitete bei der geologischen Verwaltung als Reinigungskraft und Dienstbotin, Kassiererin im Badehaus, Reinmachefrau im städtischen Krankenhaus und in der Fabrik. Ich hatte damals keine Zeit, eine Ausbildung zu machen, musste sehen, dass ich etwas zu essen bekam.

Wassilij Romaschkin:
- Sie verhafteten mich eine Woche nach meiner Hochzeit im Jahre 1937; damals war ich 23 Jahre alt. Zuerst dachte ich, dass es sich um eine ganz gewöhnliche Überprüfung handelte; aber es stellte sich heraus, dass ich ein „Volksfeind“ war. Danach kam die Etappe von den Solowkis ins Norillag. Die Haftzeit endete 1947, und dann gaben sie mir noch fünf Jahre Entzug aller Rechte. Nach der endgültigen Freilassung verließ ich Norilsk nicht – ich wusste nicht wohin. Und so lebe ich hier seit 1939. Sogar an Sawenjagin kann ich mich noch erinnern. Unter ihm führten wir die Elektroheizung beim Ausheben von Baugruben aus.

Meiner ersten Frau schrieb ich noch aus dem Gefängnis, dass sie auf mich ni8cht warten sollte. Als ich frei gelassen wurde, gab es eine frei arbeitende Komsomolzin, die sich nicht davor fürchtete mich zu heiraten. Nadja und ich haben 36 Jahre zusammen gelebt. Nachdem sie gestorben war, zu ich zu meiner Tochter und dem Enkel. In letzter Zeit bin ich irgendwie häufiger krank. Ich wünsche immer allen eine gute Gesundheit, denn gerade sie half mir im Lager zu überleben und viel zu arbeiten…

Olga Jaskina:
- Drei Jahr war ich Gefangene des Norillag, nachdem ich mit meinen Eltern aus Polen in die Region Perm geflüchtet war. Man brachte mich 1952 dorthin, da war ich 22 Jahre alt. Im Lager bekam ich von allem etwas ab. Ich erinnere mich noch an den Aufstand 1953, wie wir einander an den Händen hielten und sie uns mit Wasser aus Feuerwehr-Schläuchen bespritzten. Als sie mich freiließen, freute ich mich noch nicht einmal: Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Doch dann geriet ich an einen guten Menschen – einen demobilisierten Chef der Begleitwachen, den ich aus dem Lager kannte, aber dort keinen Kontakt mit ihm gehabt hatte. Er gewährte mir Unterkunft, und dann heirateten wir. Ich war in der kommunalen Wohnungswirtschaft als Buchhalterin tätig; natürlich ließ man mich nicht an den bestbezahlten Geschäften arbeiten, so dass ich also kein Geld anhäufen konnte. Mein Mann starb, und ich fuhr nirgends hin, sondern blieb dort. Die Kinder mussten unterrichtet werden. Die Tochter wurde Ärztin, sie lebt und arbeitet in Kiew. Der Sohn ist Energetiker geworden – in Norilsk. Nach 43 Jahren Arbeit im Kombinat lebe ich so, wie alle anderen Rentner auch…

„Polar-Bote“, 30.10.2008


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