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Keine Erinnerung – keine Freiheit

Die „Memorial“-Gesellschaft wurde vor zwanzig Jahren gegründet – zur Zeit des Niedergangs der Sowjet-Epoche, auf einer berauschenden Welle des Enthusiasmus, als es so schien, als ob man lediglich die Hand ausstrecken müßte – und schon war sie da, die langersehnte Freiheit, schon wurden sie Wirklichkeit, die gleichen Rechte für alle und der feierliche Triumph des Gesetzes ... Haben sich diese Träume und Hoffnungen tatsächlich bewahrheitet?

Am Vorabend des Tages zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen sind wir mit Aleksej Babik, dem Leiter der Krasnojarsker Filiale der Internationalen „Memorial“-Gesellschaft für Geschichtsaufklärung, Sozialfürsorge und Menschenrechte. Wir begannen unser Gespräch mit einem Rückblick an die Zeit, als das Krasnojarsker „Memorial“ entstand.

- Im Oktober 1988 begaben sich Wladimir Sirotinin und ich nach Moskau zur Gründungskonferenz für die Organisation der All-Unions-Gesellschaft „Memorial“, - erinnert sich Aleksej Babij. – Die offiziellen Gründer waren gesellschaftliche Organisationen wie der Schriftstellerverband und die Vereinigung der Kinematographen, die auch während der Konferenz „am Ruder standen“. Es waren auch eine Menge Bürokraten anwesend ...

- Wie Lidia Tschukowskaja in ihrem Tagebuch notierte, das kürzlich in der „Neuen Welt“ veröffentlicht wurde, gab es im Präsidium verschiedene Gesichter – vom ehemaligen Häftling bis hin zu allen möglichen Teufelswerkern und trägen Langweilern, das heißt offiziellen Beamten und Bürokraten ...“. Sie merkte an, daß der Akademiker Sarachow Ehrenvorsitzender war. Und wer war der Initiator für die Schaffung des „Memorial“?

- Urheber waren der Journalist Jurij Schtschekotschichin und der Menschenrechtler Lew Ponomarew, die 1987 in der „Literatur-Zeitschrift“ einen Artikel veröffentlichten, in dem sie daran erinnerten, daß bereits Chruschtchow die Aufstellung eines Memorials – eines Denkmals zur Erinnerung an die Opfer der stalinistischen Repressionen, versprochen hatte. Und daß nun die Zeit dafür gekommen war. In allen Städten begann manmit dem Sammeln von Unterschriften. Und in Krasnojarsk ebenfalls, und schon bald bildete sich bei uns ein Kreis von Menschen heraus, aus denen dann später „Memorial“ enstand. Anfangs nannte sich die Gesellschaft „Menschenschicksale“, und ihr Leiter war der inzwischen verstorbene Wolodja Birger. Nach und nach sammelte man nicht nur Unterschriften zur Unterstützung der Idee, einen Gedenkstein zu errichten, sondern fertigte auch Listen aller Repressionsopfer an und fing an, über die absolute Notwendigkeit zu spechen, den Opfern soziale Vergünstigungen usw. zu gewähren. So reifte schließ der Entschluß, eine allrussische Gesellschaft zu gründen, und für ihre Gründungsversammlung wurde nicht zufällig der 30. Oktober – der Tag zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen – gewählt.

- Und warum wird dieser Tag am 30. Oktober begangen?

- Am 30. Oktober 1974 fand gleichzeitig in mehreren Lagern eine Massenprotestaktion politischer Gefangener für den Schutz ihrer Rechte statt. Seitem ist dieser Tag zum Gedenktag geworden.. Als ich mit Mischa Molibog und Wladimir Sirotinin, dem allerersten Vorsitzenden unserer Gesellschaft nach Moskau fuhr, waren wir ernsthaft darauf vorbereitet, daß man uns alle möglicherweise verhaften würde. Denn hier versammelten sich zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte in Moskau Menschen, um in aller Öffentlichkeit eine eindeutig antisowjetische Gesellschaft ins Leben zu rufen. So daß es zu Anfang schwierig war vorherzusehen, wie alles enden würde. Übrigens, einige Delegierte aus anderen Regionen wurden in den örtlichen Flughäfen unter ausgedachten Vorwänden festgehalten ...

Die Konferenz fand im Kinohaus statt. Die anwesenden Beamten fingen sich die Delegierten heraus und übten auf sie und die Organisatoren Druck aus. Im allerletzten Moment bekamen es die Veranstalter mit der Angst zu tun – und erklärten, daß die Zusammenkunft gar keine Gründungsversammlung sein sollte, sond bloß eine vorbereitende Konferenz.

- Was ist Ihnen von diesem Tag am deutlichsten in der Erinnerung haften geblieben?

- Ich hatte mich bis dahin nicht ständig in der Dissidentenszene befunden; deswegen konnte ich mich zum erstenmal mit verschiedenen interessanten Leuten bekanntmachen. Sehr viele im Saal waren ehemalige Häftlinge – damals waren noch viele von ihnen am Leben. Und ich weiß noch, daß ich sehr verwundert darüber war, wie sehr sie sich in ihrem Verständnis für die verschiedenen Fragen und Probleme voneoinander unterschieden. Unter den Gefangenen gab es sowohl eingefleischte Kommunisten als auch Antikommunisten. Ein großer Streit entbrannte darum, was man überhaupt als politische Repressionen ansehen muß und von welchem Jahr an darüber Rechenschaft abgelegt werden muß. Als irgendjemand die Andeutung machte, daß man da wohl bis 1917 zurückgehen müßte – und dann bis zum heutigen Tage, gab es einen riesigen Tumult! Es gab auch hitzige Diskussionen zum Thema „Vergünstigungen für Repressionsopfer“; unter den Gegnern waren auch ein paar ehemalige Häftlinge, überzeugte Kommunisten ... Im allgemeinen waren die Menschen an dem Tag bemüht, sich auszusprechen, ihr Herz auszuschütten. Aber konstruktive Beschlüsse wurden nicht gefaßt ... Und da lösten Sirotinin und ich einen Tumult aus – ich betrat das Rednerpuld und schlug vor, daß die Konferenz doch als Gründungsversammlung angesehen werden sollte. Meinten die etwa, wir wären zu bloßem Gerede von so weit angereist? Aber mein Vorschlag wurde gar nicht groß erörtert – sondern unverzüglich einem anderer Referent das Wort erteilt.

- Mit was für interessanten Leuten konnten sie dort zusammentreffen?

- Ich erinnere mich, daß ich den Versuch unternehm, ein Interview mit Bulat Okudschawa zu führen. Aber damals wußte ich noch nicht einmal, daß sowohl seine Mutter, als auch sein Vater, Repressierte waren, so daß eine Unterhaltung nicht so recht zustande kommen wollte. Zwei Monate später, im Januar 1989, fan die zweite, die Gründungssitzung, statt – und das Allunions-„Memorial“ wurde geschaffen; man verabschiedete die Satzung und wählte den Vorstand. Aber es vergingen zwei weitere Jahre, bis man endlich bereit war, die Gesellschaft offiziell zu registrieren.

- Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen ... Was hat das Krasnojarsker „Memorial“ seitdem geleistet?

- Eines der wichtigsten Ergebnisse ist die Verewigung des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. In allen Regionen des Landes werden auf Initiative und unter Mitwirkung von „Memorial“ die „Bücher der Erinnerung“ herausgegeben. Es wurden Denkmäler, Zeichen des Gedenkens, Gedenktafeln aufgestellt. Und bei uns in Krasnojarsk haben sie einen Gedenkstein aufgestellt. Gerade ist der sechste Band des Buches der Erinnerung herausgekommen (übrigens wurde diese Ausgabe durch die freundliche Unterstützung der Regionsverwaltung möglich, und ich möchte an dieser Stelle herzlich dafür Dank sagen). Des weiteren wurden umfangreiche Forschungsarbeiten im Bereich der Geschichte der politischen Repressionen geleistet. Und jetzt haben wir ein reales historisches Bild, bginnend mit dem Jahr 1917 bis zum Ende der 1980er Jahre. Es wurden etliche, sehr interessante Dokumente veröffentlicht, durch die zahlreiche bisherige Konzepte förmlich „aus den Angeln gehoben“ wurden. So wurde beispeilsweise der NKWD-Befehl N° 447 aus dem Jahre 1937 bekannt, der dazu beitrug, den Großen Terror vollkommen neu zu bewerten. Denn bis heute sind viele der Meinung, daß lediglich Vertreter der Partei- und Sowjet-Elite zu Opfern des stalinistischen Terrors wurden, aber aus diesem Befehl ist ersichtlich, daß der Terror sich gegen das gesamte Volk richtete und vor allem gegen die Bauern. Von allerhöchster Stelle wurden jeweilige Limits festgelegt, deren Erfüllungsfrist am 5. Dezember 1937 ablief, und das bedeutet, daß sie die Wählerkreise vor den Wahlen säuberten. Als eine regelrechte stalinistische Polittechnologie. Später allerdings „begeisterte“ man sich auch vor Ort dafür und erfüllte den Plan des Führers ...

- Wohl nicht umsonst nennte sich „Memorial“ auch Gesellschaft zur Aufklärung ...

- Ja, im Laufe all dieser Jahre haben wir alle möglichen Vorlesungen gehalten, waren an den Schulen präsent, haben Artikel in den Zeitungen veröffentlicht. Der 30. Oktober wurde zum allrussischen Gedenktag. Man muß auch anmerken, daß das Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen hauptsächlich von „Memorialern“ ausgearbeitet wurde, und zwar in einem sehr kurzen Zeitraum – sofort nach dem August 1991, auf Anraten von Präsident Jelzin, der damals im Gesellschaftsrat des „Memorial“ saß. Dank dieses Gesetzes wurden allein in unserer Region mehrs als fünftausend Menschen rehabilitiert. Diese Menschen begannen sich zum ersten Mal als vollwertig gleichberechtigte Bürger zu fühlen; außerdem erhielten sie soziale Leistungen (Vergünstigungen im Hinblick auf Miete, medizinische Betreuung usw.).

- Und was haben sie in diesen Jahren nicht erreicht?

-Leider ist es nicht gelungen, dem Bewußtsein der Menschen eine andere Richtung zu geben ... Die Menschen haben sich nicht sehr geändert. Und die heutige Wendung zum „Chauvinismus“ und Autoritarismus haben viele mit Dankbarkeit und Enthusiasmus aufgenommen. Nach weiteren Beispielen braucht man nicht lange suchen. Bei uns in Krasnojarsk hat man in den vergangenen Jahren dreimal versucht ein Stalin-Denkmal zu errichten, und obwohl die Vertreter der Behörden zu Recht diese Idea zurückwieden, sprachen sich fünfzig Prozent der befragten Einheimischen „dafür“ aus. Das zeugt davon, daß Land und Leute zu einem normalen, demokratischen, nicht-totalitären Leben noch nicht bereit sind. Das bedeutet, daß unsere ganze Aufklärungstätigkeit nicht von Erfolg gekrönt ist. Im übrigen sind die „Memorialer“ auch nicht mehr geworden; in der gesamten Region Krasnojarsk sind es gerade 19 Mann, und fast alle von ihnen sind Rentner und Invaliden. Also steht es nicht in unserer Macht, allen Menschen die Köpfe umzugestalten ...

- Wie die von mir bereits erwähnte Lidia Tschukowskaja schrieb, „wird die Bewegung für die Rechte des Menschen bei uns niemals zu einer Massenbewegung werden, weil die Leute bei uns sich höchstens über Ungleichheit bei der täglichen Essensration oder ihrer Behausung aufregen – mehr nicht. Kein Ehrgefühl, kein Gefühl für die eigene menschliche Würde ...“. Wie gern möchte man glauben, daß sie sich irrt ... Aber kommen wir zum Jubileumsthema zurück. Was ist heute die Hauptaufgabe der „Memorial“-Gesellschaft?

- Die Aufgaben sind die gleichen wie vorher – die Verewigung der Erinnerung an die Repressionsopfer, die Aufklärungsarbeit. Wir haben nicht nur in Krasnojarsk gute Aktivisten, sondern auch in den Bezirken. So haben wir beispielsweise im Bezirk Biriljussy unser „Memorial“-Mitglied Laktinowa. Sie ist Direktorin des örtlichen Museums. Oder – in Kuragino – Aleksandra Iwanoana Frolowa, eine ganz phantastische Frau! Mit ihren vorgerückten Jahren hat sie sowohl ein Denkmal errichtet, als auch Bücher herausgegeben. Aber zu unserer allerwichtigsten Aufgabe ist die Aufklärungstätigkeit geworden. Denn jetzt hängt man uns schon wieder ein stalinistisches Verständnis der Geschichte an; im Fernsehen ist mit aller Macht eine eigentümliche Rehablitierung des Stalinismus im Gange. Unter dem Schein der Objektivität schleichen sich Lügen ein. Angeblich waren die Repressionen gar nicht so zahlreich und so grausam. Und als Berater erscheinen auf dem Bildschirm ehemalige Ermittlungsrichter und jene, die seinerzeit die Unschuldigen ins Gefängnis sperrten. Und immer häufiger, besonders auf dem Ersten Kanal, wird die Interpretation der Geschichte im Stil des „Kurzlehrgangs der WKP (B)“ geführt. Wenn diese Herren sich mit so einer Verachtung und Geringschätzung gegenüber den Opfern der stalinistischen Repressionen verhalten, heiß das, daß sie die gleiche Einstellung zu den heute lebenden Menschen haben. Es bedeutet, daß wir zu einem beliebigen Zeitpunkt eine Wiederholung der Vergangenheit erwarten können. Diejenigen, die die Verbrechen der Vergangenheit rechtfertigen, sind auch bereit, sie noch einmal zu verüben.

- Ist denn eine Rückkehr zum Sozialismus möglich?

- Nein, die nächste Windung der Totalitarismus-Spirale wird bei uns zum National-Chauvinismus heranreifen, das heißt, es wird die Variante des Jahres 1933 in Deutschland möglich sein. Und hier liegt das Hauptproblem meiner Meinung nach nicht so sehr bei der Staatsmacht, sondern vielmehr bei den Menschen selbst. Sehr viele tendieren leider zum National-Patriotismus und sind bereit, in einem beliebigen Ausländer einen Feind zu sehen. Und da stoßen Motive des Einheimischen und der Macht aufeinander, für die es sehr bequem ist, daß nicht sie für schuldig gehalten wird, sondern jene, die ins Land „eingereist“ sind. Wir bemühen uns, diesen Leuten das zu erklären, halten Vorlesungen an den Schulen, wo wir über Toleranz und Humanität sprechen. Darüber, daß zum Beispiel Tschetschenen und Tadschiken ebensolche Menschen sind wie die Russen ...

- Ach, und es wird schwierig für Sie sein, die Vorurteile zu besiegen, Aleksej Andrejewitsch. Bislang befassen sich die „Memorialer“ mit Aufklärungsarbeit, andere frönen der eingefleischten Demagogie, spielen mit den Instinkten, den unguten Gefühlen einfacher Menschen. Sie wenden sich an den Verstand, und vielleicht müssen auch Sie mehr auf die Emotionen und Gefühle einwirken ....

- Das versuchen wir ja auch. Also heute war ich in einer Schule, wo ich den Schülern erzählt habe, was für ein unerfreuliches Leben die Frauen im GULAG hatten. Und einigen Mädchen standen schon die Tränen in den Augen!

Mit dem Gast unterhielt sich
Eduard RUSAKOW
„Krasnojarsker Arbeiter“. 01.11.2008

Foto: Valerij Sabolotskij


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