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Die Todesstraße zwischen polaren Mythen

Das Bewußtsein des Menschen ist mythologisch angehaucht, und das merkt man sogar am Jahr 1937. „Der Stalin sollte mal herkommen, dann würde er DIE DA schon in alle Himmelsrichtungen auseinanderjagen“, - sagen die Leute und zeigen dabei auf die hiesigen „weißen“ und „grauen“ Häuser. Der einfache Mensch, gekränkt über die Staatsmacht, wünscht sich eine Wiederholung des Jahres 1937 herbei, denn er ist der Meinung, daß genau in jenem Jahr nicht solche wie er erschossen wurden, sondern eben DIE DA. Er weiß nicht, und er will es auch gar nicht wissen und wahrhaben, daß Parteifunktionäre in den Hinrichtungslisten mit Mühe und Not gerade einmal 5% ausmachen, während die übrigen 95% Bauern, Arbeiter und Vertreter der Intelligenz waren.

Chruschtschows Anti-Stalin-Mythos über die Ausrottung von Parteiangehörigen, der aus verständlichen konjunkturellen Erwägungen geschaffen wurde, erzeugte einen Anti-Anti-Stalin-Mythos. Übrigens genauso, wie die junge Generation der Stalinisten heute von überflüssigen, findigen antistalinistischen Artikel genährt wird. „Wo sind sie denn – eure hundertmillionen Repressionsopfer? Welches ist denn die Straße, die auf Knochen gebaut wurde? Zeigt uns doch wenigstens ein einzges Knochenstückchen! Und weil ihr hier gelogen habt, werdet ihr auch überall weiterlügen, und es gab überhaupt keine Repressionen, ihr lügt doch alle, genau wie Solschenitzyn“. Und dann versuch du mal dem Kameraden zu erklären, daß du hier die hundert Millionen nicht bloß erwähnst, sondern dabei bist, namentlich eine Liste sämtlicher Repressionsopfer namentlich zu erstellen, und daß du mit allgemeinen Zahlenangaben äußerst vorsichtig umgehst.

Da haben wir ganz konkret – das Bauprojekt 503 (Salechard – Igarka). „Straße auf Knochen“ – gemeint ist eben dieses Bauprojekt. „Todesstraße“ – damit ist ebenfalls genau dieses Bauprojekt gemeint. In der Presse haben sie bestätigt, daß beinahe unter jeder Eisenbahnschwelle ein Häftling liegt, umgekommen durch die alle Kräfte übersteigende Schwerstarbeit und völlige Erschöpfung, und die Gefangenen wurden direkt im aufgeschütteten Bahndamm beerdigt. Aber es war gar nicht möglich, einen Bahndamm im ewigen Frostboden anzulegen. Nicht nur ehemalige Wachmänner, sondern auch einstige Häftlinge fangen an zu kochen, wenn sie das hören: „Niemand hat sie im Bahndamm verscharrt!“. Aber um das zu widerlegen, erzählen sie einem nicht weniger schreckliche Dinge, die aber realistischer klingen: Friedhöfe gab es nicht; man warf die Totek einfach in den Sumpf oder in irgendeine Schlucht, während die Arbeitskolonne sich weiter voran bewegte. Wachhunde begleiteten die Gefangenen zur Arbeit und auch wieder zurück, und sie „verwerteten“ die Leichen schnell auf ihre Weise.

Mythen „der anderen Seite“ – sind süß und wonnig bis zum Gehtnichtmehr. Ein ehemaliger Wachmann berichtete, daß die Gefangenen ein wenig besser verpflegt wurden als die Freien, daß die Häftlinge sich nach ihrer Freilassung vom erhaltenen Lohn Häuschen auf der Krim kauften. Ein Fünkchen Wahrheit gibt es in seinen Worten: die Gefangenen wurden zwar schlecht, aber doch immerhin verpflegt, und in der Freiheit, besonders auf dem Lande, wütete der Hunger, und Kanibalismus war eine ganz alltägliche Sache. Lohnzahlungen in den Nachkriegslagern gab es tatsächlich (und bis dahin hatten die Gefangenen für ihre karge Ration geschuftet), aber die Häuschen auf der Krim überlassen wir besser dem Gewissen des Erzählers.

Der mythologische Lagerkommandant war eine beispiellose Bestie, ein Sadist. Von solchen Leuten gab es nicht wenige, denken wir nur an den legendären Kolyma-Chef Garanin. Aber über den Kommandanten der Bauverwaltung 503 äußerten sich alle, sogar die Gefangenen, positiv. Viele Jahre später kamen viele ehemalige Häftlinge des Petschorlag, des Lagers 503, aus dem Wolga-Don-Gebiet und dem Fernen Osten zu seiner Begräbnisfeier gereist. Nicht jedem Lagerleiter wurde eine derartige Ehre zuteil.

Barabanow machte seine Sache, dafür brauchte er Menschen, und die schonte er, so gut es ging. Aschajew, übrigens, schrieb über ihn den bemerkenswerten Roman „Fern von Moskau“ – allerdings, gibt es darin keine Gefangenen, sondern Enthusiasten des Baugewerbes. Und Leonid Obolenskij, einer der bekannten Gefangenen des Bauprojektes 503 sagt von ihm: „Das Barabanow-Bauprojekt lief wie am Schnürchen, wie ein Uhrwerk: keine Todesfälle. Ich weiß noch: Polargebiet, Nordlicht und – Barabanow rief von seinem Fuhrwerk herunter: „Meine Freunde! Wir sind hier alle frei oder unfrei – bauen wir die Anschlußstelle zum Kommunismus! Vorwärts, meine Freunde!“ – Das ist immerhin wahr. Aber wahr ist auch, daß diejenigen, die bereits zu keiner Arbeit mehr taugten, die Toten nämlich, einfach in den Sumpf geworfen wurden. Und von denen, die noch zu etwas nützlich waren, erzählt Konstantin Chodsewitsch, ebenfalls einstiger Häftlinge beim Bauprojekt 503: „Ein Schwerkranker, der nicht aufstehen und zur Arbeit gehen kann. Sie kurierten ihn so: runter von der Pritsche – und ab in die Baracke mit verschärftem Regime. Da kamen nicht alle lebend wieder heraus. Oder sie stießen den Kranken von seiner Pritsche, banden ihm ein Seil um die Füße und schleiften ihn mit einem Pferd zur Arbeit außerhalb der Lagerzone, wo die Häftlinge schuften mußten“. Und über die Verpflegung berichtet er: „ Ein Jahr, im Sommer, brachten sie keinen Lebensmittelvorrat. Im Winter froren die Flüße zu, es gab keine Schifffahrt, die Hungerzeit begann, die Menschen gerieten ganz von Kräften, konnten nicht mehr zur Arbeit gehen, viele waren nicht in der Lage sich auf den Beinen zu halten; sie starben in den Baracken. Die Überlebenden machten nicht sofort Meldung von den Todesfällen: die Toten ernährten die Lebenden dadurch, daß man für sie weiterhin die kärgliche, fettlose Wassersuppe ausgab, die sie bekommen hääten, wenn sie noch am Leben gewesen wären. Die Leichen warf man in Gräben, die im Sommer nahe den Baracken ausgehoben worden waren, und sonst wurden sie mit Schnee zugedeckt. Es gab niemanden, der sich um das Ausheben von Gräbern hätte kümmern können“.

Es hört sich fast so an, als ob hier von verschiedenen Lagern die Rede ist. Aber es ging um ein- und dasselbe. Oder von verschiedenen Lagerkommandanten. Aber es geht um ein- und denselben Mann.

Barabanow war ein Mann seiner Zeit, der „tat, was nötig war“, und er tat es „um jeden Preis“.

Eine andere Sache ist die, daß er dieses „um jeden Preis“ nicht wörtlich nahm und sich bemühte, diesen Preis niedrig zu halten. Ob dies aus Menschenfreundlichkeit oder aus rein pragmatischen Erwägungen (großer Arbeitsumfang, verkürzte Haftdauer, und das „Kontingent“ wird einmal im Jahr herangeschafft) geschah, weiß man nicht, aber immerhin bemühte er sich. Deswegen schätzten ihn die Gefangenen auch, deswegen haßten sie auch den vorherigen Kommandanten, der verkündet hatte: „Es ist nicht eure Arbeit, die ich brauche, ich will, daß ihr euch quält!“.

Aber ein Mann allein, selbst wenn er noch so gutmütig war, konnte das Wesen eines Lagers nicht grundlegend ändern. Außer Barabanow gab es noch die Leiter der Lager-Abteilungen, jeder mit seinen eigenen Flausen im Kopf; es gab die operativen Tschekisten, die unermüdlich aufdeckten und entlarvten; es gab die Wachleute – vom ausgemachten Sadisten bis hin zum Grünschnabel. Und es gab alle möglichen Häftlinge – von der Intelligenz, die „wegen Schwätzereien“ dorthin geraten waren, bis hin zu Schwerverbrechern, für die das Lager wie das eigene Heim war. Dieses ganze buntgescheckte Gewimmel mußte man zu einem einheitlichen Mechanismus zusammenbringen, um die gesetzten Ziele zu erreichen.

Die Einheit wurde durch Grausamkeit sichergestellt.

Die Grausamkeit des Baranow-Lagers war rational. Und es hörte deswegen nicht auf grausam zu sein.

Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, sondern an einer anderen Stelle. Die Mitte – das bedeutet die Mythen zu verwerfen und sorgfältig abzuwägen, zu vergleichen, auszusieben, nachzuprüfen. Die ganze Wahrheit über das Bauprojekt 503 herauszufinden. Das muß unbedingt gemacht werden. Nur darf man dabei das Wichtigste nicht vergessen.

Egal, ob unter dem aufgeschütteten Bahndamm Knochen lagen oder nicht, ob die Verpflegung gut war oder die Häftlinge verhunbgerten – bei allem darf man nicht vergessen, daß hier Menschen für nicht begangene Verbrechen (wie die meisten politischen Häftlinge) zu Gefangenen wurden, oder wegen unverhältnismäßig geringfügiger „Verbrechen“ (wie die meisten Straftäter) zu Gefangenen wurden. Das heißt, bereits der Tatbestand des Gefangenseins an sich war ungerecht. Verbrecherisch war auch die Methode selbst, mit der der Staat seine Probleme löste: anstatt freier Arbeit mit würdevoller Motivation – Sklavenarbeit und Unbarmherzigkeit. Man sagt zu uns: „Anders ging es eben nicht“ und“Es war eben so eine Zeit“. Verzeihung, aber wieso ging das nicht anders? Da ist die Stadt Norilsk in der Folgezeit der Lager: Löhne mit Polarzuschlag, Vergünstigungen, warme und solide gebaute Häuser, eine mächtige, gewinnbringende Industrie. Probleme gibt es dennoch genug, aber es besteht keine Notwendigkeit, an Pellagra verstorbene Leichen beim Schmidticha-Berg zu verscharren.

Man hätte sowohl Norilsk als auch die Bahnlinie Salechard – Igarka, und überhaupt die ganze helle Zukunft, anders aufbauen können – mit gut bezahlten Fachkräften, die dort ohne das Fälschen von Zahlen und Statistiken (um das Plansoll zu erreichen) ihre Arbeit getan hätten. Es wäre sehr wohl anders gegangen, aber unter einem anderen Regime. Dieses Regime sparte an Geld, es sparte nicht mit Menschen. Und es war ein verbrecherisches System. Egal wie sehr du ein Verbrecher-System enthärtest, es weicher machst, wie sehr du es optimierst – es ist und bleibt ein verbrecherisches System, und du, als einer der daran teilhat, bist einer der Mittäter. Und da liegt die ganze Tragödie von Leuten wie Barabanow.

Und so wurde die Bahnlinie auch nicht zuende gebaut. Und Barabanow, so scheint es, hat alles umsonst gemacht. Die Wahrheit lag ganz woanders ....

Aleksej Babij, Vorstandsvorsitzender des Krasnojarsker „Memorial“

Unsere Ermittlung

Wasilij Arsentewitsch Barabanow wurde am 21. April 1900 im Dorf Altufewo, Leninsker Bezirk, Gebiet Moskau, als Sohn wohlhabender Bauern geboren. 1924 hatte er verschiedene Posten bei der OGPU, dem NKWD, der GULAG-Verwaltung inne. Er arbeitete als stellvertretender Leiter des Dmitrowsker Erziehungs- und Arbeitslagers beim NKWD, Leiter des Eisenbahnprojektes Workuta – Ust-Usa, Assistent des Leiters der Verwaltung für Eisenbahnbau in Fernost (Stadt Swobodnyj, Region Chabarowsk), Kommandant des Nischne-Armur-Erziehungs- und Arbeitslagers beim NKWD (Stadt Komsomolsk-am-Amur, Gebiet Chabarowsk), Kommandant des Saratower Erziehungs- und Arbeitslagers beim NKWD (Stadt Saratow), Leiter des Nord-Petschora Erziehungs- und Arbeitslagers beim NKWD, Leiter der Nördlichen Verwaltung für Eisenbahnbau und Lager.

„Neue Zeitung“, 07.11.08


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