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Stalins „Straße des Todes“ soll wieder aufleben

Schienen ins Nichts

Den vergangenen Sommer verbrachte ich in Jermakowo. Hier wurde die „Straße des Todes“ gebaut. Durch die Urkräfte des ewigen Frostes und der Taiga ist von ihr so gut wie nichts übriggeblieben. Und die wichtigste Aufgabe war es, nicht einfach auf dem Jenisej an diesem Ort vorüberzuschwimmen, der für Rußland genau so wichtig war, wie die Schule von Beslan, der Kreml oder die Alte Koptjakowsker Straße.

Am Ufer ist das angestrichene namenlose Kreuz mit dem angenagelten Rahmen für eine kleine Ikone im hohen Gras hinter den Findlingen kaum zu sehen. Die Ikone selbst ist verschwunden. Wenn du dich durch das zwei Meter hohe Gras zu den zerstörten Gebäuden vorarbeitest, die ebenfalls mit Gras und Gestrüpp bewachsen sind, erfährst du die ganze Irrealität dieser Welt. Hier lebten und starben, arbeiteten, haßten und liebten viele tausend Menschen (Sergo Lominadse, der in Jermakowa zuerst als Häftling ind später als freier Mann Schwerstarbeit leistete, nannte die Siedlung „Klein-Paris“), aber jetzt ist das Gras schon ein halbes Jahrhundert von niemandem mehr gemäht und zertreten worden, und vielleicht sieht es deshalb so schön aus. Hier gibt es einen Himmel, nach dem ein halbes Jahrhundert lang niemand mehr geschaut hat, und er weiß gar nicht, wie schön er eigentlich ist. Aber der Herrgott zeigt diesem Nichts aus irgendeinem Grunde immer noch seine sinnlosen Bilder - die Wolken, die er malt und in dieser Leere zum Vorschein bringt.

Das Gefühl, mich wie in einem Traum zu befinden verstärkt noch das, was ich von irgendwoher weiß, wohin ich gehen muß. Mit festen, schnellen Schritten bahne ich mir einen Weg durch Gras und Mückenschwärme. Es ist, als ob ich schon einmal hier gewesen wäre, als ob die Erinnerung an diesen Orten mir – im Blut liegt.

Unter dem Dach der Baracke hängen Schwalbennester. Auf dem Ofen (Öfen werden bei uns für ein ganzes Jahrhundert gebaut – sie halten ewig, überdauern das Land und die Galaxis) wächst eine Birke und streckt sich durch eine Öffnung zum Dach hinaus. An einem Pfosten, verfault und bis obenhin in die Erde hineingewachsen, - ewiges Eis, und eine Eidechse blickt dich von dort furchtlos an. Sie läuft nicht davon, sie weiß nicht, dass sich hinter dem Gras -h Menschen befinden. Ein Stück Schiene im Gras, ein zerstörter kleiner Waggon, ein Wachturm, ein Wassertank; die Ruinen stehen wie Grabsteine.

Für wen? Ein paar Fotografien sind erhalten geblieben. Bevor wir mit dem Schiff bis nach Jermakowo gefahren kamen, haben wir sie uns im Museum in Igarka, in den beiden herausgebrachten Museumssammlungen zum Thema „Das Bauprojekt N° 503, 1947-1953“, angesehen. Die Gesichter der Gequälten, die einen aus den alten Bildern anschauen, und abgesägte Bäume mit Jahresringen setzen sich in der Erinnerung fest.

Für das Polargebiet sind die Lärchen hier einfach zu hoch, selbst für Flußtäler – wie fortgestoßene, sich duch den ewigen Frost aufbäumende Schienen. Hölzerne Schienen. Schienen, die ins Nichts, in den Himmel führen.

Möglicherweise sind diese Bäume deswegen so, weil sich in ihnen teilweise unbestattete Häftlinge befinden. Als die „Straße des Todes“gebaut wurde, war der Krieg gerade erst zuende gegangen. Und im Krieg konnten die Soldaten immerhin hoffen, dass wenigstens später, zehn Jahre danach, ihre Überreste so bestattet wurden, wie es sich gehörte. Die Gefangenen waren von ganz ähnlichen Hoffnungen getragn. Übrigens, ich weiß nicht, ob sich irgendeiner von ihnen mit einer ähnlichen Frage beschäftigt hat. Die Frage, wo und wie wir die Großväter begraben, beschäftigt auch uns nicht. Das Kreuu am Ufer steht still und stumm, ein Kreuz für alle – und fertig.

Sibirien zur Zeit der Sowjets

Das asiatische Randgebiet Rußlands (das um ein Vielfaches größer ist, als es selbst) wird erneut, wie schon zu Sowjetzeiten, ein Territorium grandioser Bauten und Milliarden-Investitionen. Wiedergeboren weren nicht nur Breschnjews, sondern auch Stalins Projekte, die fest mit der Ausnutzung der Sklavenarbeit der GULAG-Häftlinge rechneten. Scheinbar kann noch nicht einmal eine weltweite Krise auf diese Pläne Einfluß nehmen.

Derzeit wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit immer wieder von Plänen zur Errichtung von Stalin-Denkmälern angezogen (und dann noch an Orten, die vom Geruch der im GULAG üblichen Wassersuppe geschwängert sind – in Krasnojarsk, Kurejka ....), die pragmatische Macht hat in aller Stille die praktische Verwirklichung von Stalins Ideen in Angriff genommen. Innerhalb der Machtorgane wird schon gar nicht mehr erörtert, ob es sich tatsächlich lohnt, die Strecke Salechard – Igarka fertigzubauen, vielmehr berät man bereits darüber, wie sich eines dieser größten Bauprojekte des Diktators in die Realität umsetzen läßt.

Im Jahre 2005 erhielt dieses Projekt auf der Konferenz über Fragen der sozial-ökonomischen Entwicklung des Föderalen Ural-Gebiets besondere Priorität, und in diesem Jahr unternahm die Staatliche Moskauer Universitöt für Verkehrswege sogar eine Forschungsreise mit Ingenieuren. Der wissenschaftlichen Bericht mit einer Bewertung der Perspektiven für ein Wiederaufleben der Strecke ist fertiggestellt, die Professur an der Universität der Hauptstadt verkündete die Notwendigkeit der Magistrale und ihre nicht so schlechte Beschaffenheit in einigen Teilabschnitten. Im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung nannte man schon bald darauf eine Frist, innerhalb der der Bau der Eisenbahnlinie aus dem Chanty-Mansinsker Gebiet nach Igarka, und weiter bis nach Norilsk, beginnen soll (unter Heranziehung von „Norilsk-Nickel“ als an dem Projekt interessierter Körperschaft). Das wird im Jahr 2020 sein.

Unsere Beamte gingen noch etwas weiter als Stalin. Der plante lediglich die Verlängerung der zweiten Transsib durch ganz Nord-Asien bis nach Jakutsk, und anschließend auch bis Uelen, mit einer Fährverbindung durch die Bering-See bis nach Alaska (später allerdings überdachte er seine Erwägung noch einmal und schränkte seine Idee auf eine Magistrale bis Tschukotka ein – mit einem Abzweiger nach Kolyma und Kamtschatka). Unsere Bürokraten sind bereit, diese Träume zu realisieren und noch weiter zu gehen. Beim Apparat der Staatsduma und in der Verwaltung des Präsidenten kursieren schon seit langem verschiedene Varianten für Konzepte zum Bau einer parallelen Transsib-Verbindung in Form einer transkontinentalen Magistrale vom Atlantik bis zum Stillen Ozean. Diese Idee wollen sie auch auf dem 62. und, etwas weiter südlich, auf dem 60.Breitengrad realisieren. Sie wird bis Magadan gehen, bis Uelen (mit einer Tunnel-Verbindung bis nach Alaska).

Die Hauptbahnlinien Rechte Lena – Uelen und die Nord-Sibirische (von Ust-Ilimsk über Lesosibirsk und Belyj Jar in Richtung Nischnewartowsk) gehören zu den „strategischen Hauptrichtungen bei der Entwicklung des Eisenbahn-Transports in Rußland im Zeitraum bis 2030“.

Die Frage über den Bau der Nord-Sib ist entschieden, verkündete noch im vergangenen Jahr der Krasnojarsker Gouverneur Aleksander Chloponin. Nach seinen Worten hat der Präsident zur Ausarbeitung „eines der strategisch wichtigsten Projekte“ bereits einen entsprechenden Auftrag erteilt. Und auch über die Perspektiven des Baus einer Eisenbahnlinie bis nach Magadan, mit nachfolgendem Ausgang zur Bering-See, hat der jakutische Präsident Wjatscheslaw Styrow bereits mehrmals gesprochen.

Vorwärts, Rußland! Egal was – aber vorwärts

Es gibt widersprüchliche Ansichten für den Grund von Repressionen. Die Gründe liegen in uns; wir- das sind Henker und Opfer, Getreide und Mühlsteine. Und die großen Bauprojekte hat Stalin sich ausgedacht, um das Volk in den Lagern zu beschäftigen. Ein anderer Standpunkt ist der, dass die primäre Erfordernis von Sklavenarbeitern und die Dauer der Inhaftierung der Gefangenen von der wirtschaftlichen, baulichen und industriellen
durch die Funktionen der Strafbehörden diktiert wurde. Wer wird der Brennstoff für die neuen alten Bauprojekte sein? Die wärmeliebenden Tadschiken?

Aleksander Toschtschew, Leiter der Filiale des einzigartigen Museums des ewigen Frostes in Igarka verweist auf die Meinung der wissenschaftlichen Gelehrten und Frostbodenforscher und meint, dass die vollständige Strecke von Salechard bis nach Igarka (einzelne Abschnitte sind in betrieb) niemals gebaut werden wird. Das ist auch verständlich: wir fahren durch eine Stadt „tanzender Häuser“ – der ewige Frost meißelt Platten, Pfähle und die Gebäude von Igarka aus dem Boden heraus, hebt sie empor, schiebt sie hinaus.

Die Nordsib, wie Chloponin bemerkte, „ist notwendig für die Entwicklung Perspektiven versprechender Fundstätten und großer Projekte in Sibirien und dem Fernen Osten“. Und da ist noch ein Schlüsselsatz aus einer kürzlichen Lektion des Krasnojarsker Gouverneurs: „Wir müssen uns darüber im klaren sein, dass ein großer Teil des Ostens unseres Landes dringend seiner primären industriellen Erschließung bedarf“. Genau so sieht Chloponin Sibirien – „es bedarf der Industrialisierung“.

Es sind unversöhnliche Standpunkte – Sibirien für selbstgenügsam oder bedürftig zu halten. Das einzige, was stimmt, ist, dass es Rußland nicht gelingen wird, auf Kosten einer Industrialisierung die andere Welt, die bereits in der postindustriellen Epoche lebt, einzuholen. Ein Rohstoff-Anhängsel, eine Kolonie der EU, der Länder der Region Asien – Stiller Ozean zu sein – das ist vielleicht Ehrensache, aber in der heutigen Welt, in der schon Süßwasser und saubere Luft ihren Preis haben, gibt es auch andere Konzessionen für die Nutzung des Naturpotentials in Sibirien. Aber sie liegen außerhalb des Gesichtskreises unser derzeitigen Staatsmacht. Bestenfalls kann sie richtige Worte sprechen, wie auf dem kürzlichen Bajkal-Forum, aber die Projekte verkörpern trotzdem genau dieselben – die Pläne Breschnjews und Stalins.

Welche Lasten werden sie über die vereiste Einöde transportieren und – wozu? Wenn der Rohstoff für die Entwicklungsländer sein soll, dann sollen diese Länder auch die Nord-Sib, die Poljarka, die Transpoljarka, usw. bauen.

Die öffentliche Meinung über die Idee nutzloser Arbeitsausführungen dort, wo Frost von minus 60 Grad herrscht und wo die Sonne im Sommer von lauter gemeinen Mückenschwärmen nicht zu sehen ist, ist im großen und ganzen wohlwollen. Die Projekte zum Bau der Poljarka und Transpoljarka fanden eine gute Pressemeinung – es heißt, dass endlich die „zweite Geburt Sibiriens“ stattfindet und die unermeßlichen natürlichen Rohstoff-Vorkommen erschlossen werden.

Die Menschen suchen immer und überall nach einer Rechtfertigung ihres (bestenfalls unverständlichen) Lebens. Diejenigen, die an der Aufteilung des Budjets beteiligt sind, suchen auch noch nach Projekten, aus denen man zum Vorteil Geld abzweigen kann. An Motiven, warum das Stalinsche Erbe wieder so populär geworden ist, kann man eine ganze Reihe aufzählen. Nichtsdestoweniger führt weder ein einzelnes, noch ihre Gesamtheit, zu einer plausiblen Erklärung dafür, weshalb das Land bis heute unfähig ist, auch nur eine einzige asphaltierte Autostraße zu bauen, welche Rußlands Osten mit seinem Westen verbindet, ein Land, in dem auf eine Million Städte insgesamt nur 34 öffentliche Toiletten kommen (und die stehen in Krasnojarsk), das sich auf Projekte stürzt, die nicht weniger fantastisch sind, aber dafür bei weitem unsinniger und nutzloser, als Flüge zur Venus oder zum Pluto.

So lange dieser Staat noch das Geld für derartige Projekte findet, aber kein Geld für ein namentliches Denkmal für die Erbauer der Eisenbahnstrecke ins Nirgendwo, für eine Ikone in einem namenlosen Kreuz übrig hat, das am Ufer des Jenisej in die Erde gerammt wurde, haben wir immer noch denselben Staat. Und der Preis dafür – ein Häftlingskübel, die in den Jermakowsker Lagern massenhaft vorhanden sind. Dieses Antiquariat nehmen die Touristen nicht mit.

Nach den Worten von Maria Mischetschkina, Direktorin des Museums des ewigen Frostes, ist beim Zentrum für den Erhalt von Kultur-Denkmälern in der Region Krasnojarsk in der Liste für Igarka nur ein einziges Denkmal eingetragen – das W.I. Lenin-Denkmal.

Aleksej Tarasow
Korrespondent der „Neuen“
Igarka – Jermakowo – Krasnojarsk

„Neue Zeitung“, 07.11.2008


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