









Leidvolle Lehrstunden der Geschichte
Die Kosakensiedlung Tinskaja im Sajaner Bezirk, Region Krasnojarsk, kann man zurecht als kleine Heimat vieler repressierter Bürger nicht nur der Region Krasnojarsk, sondern auch der Wolga-Deutschen bezeichnen.
Eine turnusmäßige Welle der Repressionen streifte die Tinskaner Ende der 1920er Jahre. Die Regierung sah keinen anderen Ausweg , als die existierende Wirtschaftspolitik großen Veränderungen zu unterziehen. So kam die Idee der Kollektivierung auf, die auch die Bewohner Sibiriens berührte, unter ihnen die Einwohner des Kosakendorfes Tinskaja.
Die Hauptwelle der Entkulakisierung begann im Jahre 1929. Alle, die sich der Kollektivierung zu widersetzen versuchten, wurden Repressionen ausgesetzt.
In den Septembertagen des Jahres 1941 gelangten hunderte deutscher Familien in den Sajan-Bezirk, mehr als 3000 Menschen. Eine der Familien aus dem Kosakendorf Tinskaja waren die deutschen Umsiedler mit Nachnamen Wamboldt - mit ihrem Familienoberhaupt Friedrich Petrowitsch und seiner Ehefrau Maria Iwanowna. Sie hatten vier Kinder: Mina, Lusja, Arnold und Silwa.
Ihre Erinnerungen vertraute uns das älteste der vier Kinder – Mina Friedrichowna – an.
In
unserer Familie war ich die Älteste. Ich wurde am 28. Juni 1931 in der Siedlung
Aleschniki, im Schirnowsker Bezirk, Gebiet Wolgograd, geboren. Vor dem Krieg
hatte meine Familie ein gediegenes Holzhaus gebaut: drei Zimmer, eine Küche. Wir
hatten Möbel und alles, was im Haus sonst noch unbedingt notwendig ist. Wir
besaßen auch einen Obst- und Gemüsegarten sowie Tiere: Ziegen, eine Kuh,
Schweine, Hühner. Der Vater war Schmied, die Mutter Technologin in der Ziegelei.
Die Eltern verdienten ganz gut, die Familie lebte im Wohlstand. Die Stadt
Paltzer (Balzer), in der wir bis 1941 lebten war eine große und schöne Stadt.
Als der Krieg ausbrach, wurde allen deutschen Familien mitgeteilt (gemischte
Familien waren davon nicht betroffen), dass sie sich mit gepackten Sachen an
einem anderen Ort zur Umsiedlung einfinden sollten. Die jeweilige Fracht wurde
in Abhängigkeit von ihrem Gewicht bewertet. Alles, was sie zuhause zurücklassen
mußten, wurde verschlossen und der Schlüssel zur Aufbewahrung an den
Stadt-Kommandanten ausgehändigt. Unterwegs schlachteten die Eltern eine Ziege.
Sie kochten das Fleisch und aßen während der ganzen Fahrt davon. Man versprach
ihnen, dass sie das zuhause gelassene Hab und Gut zurückerhalten würden. Wir
wurden in auf Fahrzeug geladen und an die Wolga gebracht, wo wir uns an Bord
eines Dampfers begeben mußten.. Nach einer mehrstündigen Schiffsfahrt mußten wir
in einen Zug umsteigen. Wie Vieh transportierten sie uns – in halbzerstörten
Waggons, die eigentlich für den Transport von Vieh bestimmt waren. Sie waren
überhaupt nicht geeignet für die Beförderung von Menschen. Wir fuhren langsam
und hielten unterwegs oft und lange an. Bei solchen Zughalten versuchten wir uns
mit Wasser zu bevorraten und zur Toilette zu gehen. Während der Fahrt harrten
wir geduldig aus, denn es gab keine Stelle, an der wir unsere Notdurft hätten
verrichten können. Besonders schwer war es für diejenigen, die kleine Kinder
dabei hatten. Und dann kamen wir in der Region Krasnojarsk an, in der Stadt Ujar,
wo sie sogleich damit begannen, uns in irgendwelchen Unterkünften unterzubringen.
Wir gelangten in den Partisansker Bezirk, in das Dorf Stojba. Dort bezogen wir
bei einer ortsansässigen Frau Quartier. Und buchstäblich zwei Tage später kamen
sie schon, um den Vater – Friedrich Petrowitsch – in die Arbeitsarmee zu holen.
Er wurde in die Region Perm mobilisiert, in den Kudajsker Bezirk, ins Lager 244
„A“, wo er als Schmied arbeitete. Seine Gesundheit meinte es zu der Zeit nicht
gut mit ihm – er litt an einer schweren Magenerkrankung. Er wollte so gern seine
Eltern wiedersehen, aber die Behörden ließen ihn nicht fort. Und drei Jahre
später starb unser Papachen; wir erfuhren dies durch eine Brief aus dem Lager.
Mama arbeitete im Dorf, aber die Mitteln reichten nicht für den Unterhalt der
Familie, und so mußte sie von Dorf zu Dorf ziehen und sich mit Betteln
durchschlagen.
Einmal kam sie nach Tinskaja, wo sie den Bruder ihres Ehemannes traf (ebenfalls ein Aussiedler). Einige Tage später kehrte sie nach Stojba zurück. Die inzwischen schon halb verhungerten Kinder waren nicht mehr in der Lage, ihre Betten zu verlassen. Ich erinenre mich noch, dass wir zu der Zeit in einer Gemeinschaftswohnung lebten, wo außer uns noch eine weitere Familie wohnte. Trotz allem verstand Mama es, alle Kinder wieder auf die Beine zu bekommen – die gesammelten Almosen retteten sie. Ich weiß nicht, wovon Mama sich ernährte, aber mir kam es damals so vor, als ob sie alle Lebensmittel uns Kindern gab.
Im Frühling gingen wir nach Tinskaja zu Aleksander Wamboldt (dem Bruder des Vaters), der ebenfalls vier Kinder hatte. Mama fand in der Schule eine Arbeit als Technikerin, und man gab ihr eine kleine Holzhütte, in der ein russicher Ofen stand. Einen Gemüsegarten gab es nicht, denn es war uns verboten, irgendeine Art von kleiner Hofwirtschaft zu führen. Zu unserer Freude bekamen wir aber ein kleines Stückchen Land zugeteilt, auf dem wir Kartoffeln pflanzten, und im Herbst ernteten wir zehn Säcke voll! Einen Teil der Ernte verkauften wir und schafften uns von dem Geld eine Kuh an. Im Sommer hielten wir sie draußen, im Winter holten wir sie ins Haus, denn es gab nirgends einen warmen Stall.
Nach dem Krieg kauften wir uns ein eigenes Holzhaus. Und wir Kinder gingen in die 4-Jahres-Schule.
Ab meinem 12. Lebensjahr arbeitete ich als Schweinepflegerin auf der Farm. Ein Jahr später wurde ich Kälberhirtin und weitere drei Jahre später – Melkerin. Mit der Hand molk ich 15 Kühe.
1953 heiratete ich Konstantin Bljumow. Nach einem Jahr wurde Tochter Lida geboren. Ich mußte auf dem Feld arbeiten, die Silos vorbereiten, die Darre zum Trocknen des Getreides herrichten; man kann sagen, ich arbeitete überall dort, wo Arbeit anfiel und wo sie mich hinschickten. 1956 wurde Mascha geboren, und wir mußten uns nicht mehr regelmäßig in der Kommandantur melden und registrieren lassen; bis zu dem Zeitpunkt herrschte Meldepflicht, und wir unterlagen einmal im Monat dieser Überprüfung. Ich wurde als Kindermädchen in den Kindergarten geschickt, und Bruder Arnold fuhr nach Kasachstan, in das Gebiet Kustanaj, zu den Verwandten des Vaters. Später fuhren Silva und Mama ihm nach.
In den 1960er Jahren reiste der Bruder in die Heimat – ins Wolgagebiet. Aber in unserem Haus wohnten bereits andere Leute. Die Rückgabe unseres Besitzes wurde uns verweigert.
Heute lebe ich zusammen mit meinen Kindern in Sosnowoborsk. Nach langjährigen Laufereien und Strapazen erhielt ich die Bescheinigung A150151 „Über die Rehabiltiation von Opfern politischer Repressionen“. Ich bekam vom Staat auch Vergünstigungen, aber was für Vergünstigungen brauche ich denn schon? Die größte Gunst für mich ist die Liebe und Fürsorge meiner Kinder und Enkel. Ich bin reich, habe sieben Enkel und eine Urenkelin. Die Heimat hat meine Verdienste sehr geschätzt und mich mit Medaillen ausgezeichnet: „Für heldenhafte Arbeit während des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945“, zum 50. und 60. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg; und man hat mir den Titel „Arbeitsveteranin der Russischen Föderation“ verliehen. Es gibt nichts, worüber ich gekränkt oder böse sein müßte.
Ich möchte der Sosnowoborsker Organisation der Opfer politischer Repressionen sowie der Redaktion der „Sosnowoborsker Zeitung“ für diese Rubrik in der Zeitung danken, in der die Erinnerungen von Menschen veröffentlicht werden können, die Repressionen ausgesetzt waren. Mögen sie zum Vermächtnis für unsere Kinder und Enkel werden, damit diese ein solches Unrecht und derartige Erniedrigungen, wie wir sie durchgemacht haben, nicht noch einmal zulassen.
Mit den besten Wünschen für ein friedliches Leben
M.F. Bljumowa
„Sosnowoborsker Zeitung“, N° 47 (249), 04.12.2008