Leidvolle Lehrstunden der Geschichte
Bis 1941 lebte unsere Familie in der Stadt Engels, im Gebiet Saratow. Zu Beginndes Krieges wurden wir Opfer von Repressionen. Wir waren vier Kinder. Der älteste Sohn war 17, der jüngste (das war ich) zwei Monate alt. Ich wurde im April 1941 geboren.
Die Eltern besaßen ein großes Haus, eine Hofwirtschaft (Kühe und Pferde. Alles mußten wir zurücklassen, denn zum Packen gab man uns lediglich vier Stunden Zeit. In einem verknoteten Bündel konnten wir nichts weiter mitnehmen als Kleidung, ein paar Gebrauchsgegenstände für den Alltag – alles, was man besonders dringend benötigte. Mit Pferden brachten sie uns zur Bahnstation. Anschließend fuhren wir in Güterwaggons bis nach Krasnojarsk. Dort setzten sie uns auf einen Dampfer und schickten uns in den Bezirk Minusinsk, in das Dorf Tes. Bei uns war auch unsere Mama – Maria Davidowna. Wir gelangten in die Kolchose „Malaja Inja“. Dort versah sie ungelernte Arbeiten. Der älteste Bruder wurde in Engels festgenommen und mit unbekanntem Ziel deportiert. Bis November 1953 hörten wir keinerlei Nachrichten von ihm. Dann erhielten wir eine Mitteilung, dass er am Leben sei und am 10./11. Januar zuhause eintreffen sollte. Und er kam tatsächlich. Aber er wurde verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Er durchlief 8 verschiedene Lager. 25 Jahre lang war er in Haft, 12 davon verbrachte er im Gebiet Magadan. Dort schuftete er mühsam, wurde zu schwersten Arbeiten herangezogen. Er verlor seine Zähne, seine Haare und „erarbeitete“ sich epileptische Anfälle. Er starb 1978 und wurde in der Sowchose „Jenisejskij“ beigesetzt, in der wir seit 1947 lebten. Mama arbeitete dort – sie hütete Schafe, trasnportierte Wasser. Im Jahre 1960 verließen wir den Ort. Nachdem ich die 10-Klassen-Schule absolviert hatte, fuhr ich nach Krasnojarsk. 1962 heiratete ich Walentina Jakowlewna BelowaJA: Ich habe zwei Kinder – geboren 1963 und 1969. Gearbeitet habe ich in der „Sibirischen Schwermaschinenbaufabrik“, dort absolvierte ich Lehrgänge für Arbeiten an der Werkbank. Dann absolvierte ich das krasnojarsker Montage-Technikum und anschließend auch noch das polytechnische Institut in Krasnojarsk.
1972 fuhr ich nach Abakan. Dort war ich bei der „Abakaner Waggon- und Maschinenbau-Fabrik“ tätig, baute Wohnhäuser, eine Schuhfabrik und andere Objekte. Dann kam ich nach Sosnowoborsk zum Bau einer Fabrik für nichtstandardisierteMaschinen und Ausrüstungsgegenstände, wo ich den Posten des stellvertretenden Fabrikdirektors einnahm.
Im November 1974 fand der Ausstoß der ersten Produktionspartie statt, welcher den Stadtbewohnern bei einer feierlichen Demonstration vorgestellt wurde.
In Sosnowoborsk war ich Mitglied des Parteibüros, Vorsitzender des Komitees der Volkskontrolle. Ich arbeitete als stellvertretender Vorsitzender des Siedlungsrates. Mit Beginn der Perestrojka war ich am Sosnowoborsker Wärmekraftwerk tätig – als Baumeister. Von dort aus ging ich auch in Rente. Ich habe vier Enkelkinder. Mit dem Leben bin ich zufrieden, denn um mich herum sind all meine lieben Kinder und Enkel. Ich bekomme Unterstützung, es gibt Hoffnung für das Leben, und die wünsche ich auch Ihnen.
Auf den Seiten der „Sosnowoborsker Zeitung“, in der Ausgabe N° 45 vom 20. November 2008, wurde mit einer ganzen Serie von Publikationen unter dem Titel „Leidvolle Lehrstunden der Geschichte“ begonnen, die den Opfern politischer Repressionen gewidmet waren.
Meiner Ansicht nach ist das schon im voraus geplant gewesen. Zuerst wurde die Organisation der Opfer politischer Repressionen geschaffen – mit dem Leiter der örtlichen Abteilung der Partei „Gerechtes Rußland“ – Nikolaj Wladimirowitsch Tesla – an der Spitze.
Nachdem ich zwei seiner Vorworte zu den Erinnerungen gelesen hatte, kam mir der Gedanke, dass das Wesen seiner Publikationen Auftragscharakter hat. Natürlich sind Repressionen ein Teil der Ereignisse von Weltmaßstab, die sich im Rußland des 20. Jahrhunderts ereignet haben. Alle sind wie die Glieder einer Kette untrennbar miteinander verbunden. Und das bedeutet, dass man sie auch nicht getrennt voneinander betrachten darf (das wäre unzulässig), weil das in unterschiedlicher Weise aufgefaßt werden würde.
Niemand stellt in Frage, dass man die Lehren der Vergangenheit niemals vergessen darf. Aber man muß mit Überlegung und Vorsicht an diese Sache herangehen, und darf die historischen Geschehnisse unter keinen Umständen verfälschen. Zum Beispiel: wie lange und für wie viele Dinge kann man Stalin noch schlechtmachen?
Unser heroisches Volk besiegte im Zweiten Weltkrieg den deutschen Faschismus, der das gesamte Europa in die Knie gezwungen und es genötigt hatte, für sein militärisches Rüstungspotential zu arbeiten. Es war nicht leicht diesen Sieg zu erringen, u.a. auch dank der kommunistischen Partei, dem an ihrer Spitze stehenden J.W. Stalin sowie anderen talentierten Regimentsführern, wie beispielsweise G.K. Schukow.
Das wird in der ganzen Welt anerkannt, auch von unseren Feinden. Wenn Stalin hereinkam, dann erhob Churchill sich zum Zeichen der Ehrerbietung und des Respekts vor seinen Verdiensten gegenüber der ganzen Welt.
Stalin war ein selbstloser Mensch. Er erwarb während seines Lebens keinerlei Kapital, und er ging, mit einem Soldatenmantel und schiefgetretenen Stiefeln in die andere Welt hinüber, wobei er als Erbe einen mächtigen Staat und den ersten berühmten Menschen im Kosmos zurückließ.
Kann man denn heute auch nur ein einziges Oberhaupt unseres Staates benennen, das sich eines derartigen „Kapitals“ rühmen könnte? Wer von uns könnte ihm die Tatsache vorwerfen, daß Stalin die Staatsinteressen weit über seine eigenen Interessen stellte?
Ja, er war grausam, aber so verhielt er sich gegenüber Verrätern, Staats- und Volksfeinden. Und von denen, da werden Sie mir sicher recht geben, gab es nicht wenige, auch unter den Soldaten. Wie soll man sich beispielsweise gegenüber General Wlassow verhalten, der auf die Seite der Faschisten übergelaufen ist? Die Wahrheit über den Krieg kann man nur von denen erfahren, die tatsächlich am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben. Und dies erzählte mein Vater, Daniel Stepanowitsch Korsun, geb. 1912, über den Krieg. Er machte sowohl den Finnischen als auch den Großen Vaterländischen Krieg mit. Er war politischer Leiter der Kompanie für Nachrichtenwesen und stand im Rang eines Oberleutnants. Hier seine Worte: „Stalins Befehl „Keinen Schritt zurück! Beim Rückzug – Erschießung!“ – war durch eine historische Notwendigkeit gerechtfertigt. Im Krieg kam alles vor: auch Panik und Todesangst. Keine Angst empfindet nur ein Mensch, der nicht normal ist, aber im Laufe der Zeit geht diese Empfingung in ein Gefühl der Rache und des Hasses über. Vor deinen Augen reißt es einen Kameraden in Stücke, Granatsplitter haben seinen Bauch aufgeschlitzt und die Gedärme quellen heraus in den Schmutz; der Soldat fleht um Hilfe, und du sagst zu ihm: „Warte, Brüderchen, gleich kommt die Krankenschwester …“. Man darf niemals anhalten, muß immer vorwärtsstreben und den Feind nicht zur Besinnung kommen lassen. In dieser Einstellung liegt die Gewähr für den Erfolg. In den ersten Tagen hatten beide Kämpfer nur ein einziges Gewehr zur Verfügung. Vom getöteten Kameraden ging es dann auf den am Leben gebliebenen Soldaten über.Auch die von den Faschisten erbeuteten Waffentrophäen wurden weiterbenutzt. Es gab sogar Faustkämpfe und Bajonett-Attacken. Scharfschützen wurden eingesetzt. Aber die Nachrichtenübermittlung mußte um jeden Preis funktionieren. Wenn die Verbindung unterbrochen war, drohte Erschießung. Das Leben hing an einem seidenen Faden. Und du weißt nie, wessen Kugel dich erledigt – deine eigene oder eine fremde!? Wieviele Soldaten fielen, während sie die Nachrichtenübermittlung sicherstellten – du kannst sie gar nicht alle zählen! Ein Wunder, wenn dabei überhaupt jemand überlebte!“
Wer Stalin mit Schmutz besudelt, der besudelt unser großartiges Erbe mit Schmutz, das ganze russische Volk, das mit seinen Händen sein mächtiges Heimatland geschaffen hat. Es ist nicht allein der Schmutz. Es ist der Versuch, die große historische Vergangenheit unseres Landes in Vergessenheit geraten zu lassen, das Leben unserer Väter, Mütter, all das, was sie für sich und uns, ihre Kinder und Enkelkinder, geschaffen haben. All das vergessen ist schändlich und gemein, selbst wenn es zum Vorteil von provinzlerischen Parteiintressen ist; es ist einfach sittenwidrig und unmoralisch.
Nikolaj Wladimirowitsch! Das Buch der Erinnerungen, um das Sie sich so sehr bemühen, „brauchen nicht so sehr wir, als vielmehr unsere Nachfahren, damit sie zukünftig keine Wiederholung dieser schrecklichen Seiten in der Geschichte des russischen Staates zulassen“.
Das ist richtig so. Aber bleiben sie auf dem Teppich. 27 Millionen Frauen haben in den vergangenen 15 Jahren ihre ungeborenen Kinder abgetrieben. Das Land hat 27 Millionen ungeborenener Bürger verloren – und das sind genau so viele Menschen, wie in den Jahren des II. Weltkrieges an Militär- und Zivilpersonen umgekommen sind.
Um 2 Millionen pro Jahr verringert sich die russische Bevölkerung. Wenn nicht schnellstens Maßnahmen sozialen Charakters auf Zivilebene ergriffen werden, so wird diese Zahl noch weiter ansteigen. Und wo wollen wir die 5 Millionen Straßenkindern einordnen? – Haben wir die auch dem Staat zu verdanken? Was wird aus ihnen, und was für eine demographische Darstellung erwartet uns morgen – im übrigen auch in Bezug auf die Millionen Drogensüchtigen und chronisch Alkoholkranken? Ist das nicht schrecklich?
Finden Sie nicht auch, daß bei einer derartigen Entwicklung kein Mensch Ihr Buch der Erinnerung braucht? Und welches Erbe fällt den Nachfahren zu, deretwegen Sie, Nikolaj Wladimirowitsch, eine derartige Unruhe an den Tag legen, wenn wir bereits jetzt an ihrem Erbe nagen, indem wir es gedankenlos ausplündern – zugunsten der maßlos gierigen Oligarchen von Naturressourcen?
40 Millionen Hektar landwirtschaftlich3en Bodens wurden im Stich gelassen und sind heute zu einem wilden Dickicht zugewuchert. Der Boden wird von Ausländern aufgekauft , die sich darauf schöne Landhäuser errichten. Die letzten Fabriken gehen bankrott. Die Menschen verlieren zu Tausenden ihre Arbeit.
Es ist bereits bekannt, daß die Tarife für Elektroenergie seit Januar 2009 sprunghaft ansteigen, und das bedeutet, daß dies auch bei allem anderen der Fall ist. Und das liegt daran, daß die Kauffähigkeit der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit stark gesunken ist. Nikolaj Wladimirowitsch, überlegen Sie doch mal, Stalin gibt es nicht mehr. Als Sie darüber nachgedacht haben, das Buch der Erinnerung zu schaffen und nicht das Buch des Ruhmes militärischer und werktätiger Heldentaten unseres Volkes, da haben Sie sich, Nikolaj Wladimirowitsch, um es mit den Worten des russischen Fabeldichters Krylow auszudrücken, ganz schön blamiert und sind „wie ein gerupftes Huhn dagestanden“.
G. Korsun
„Sosnowoborsker Zeitung“, N° 49 (251), 18.12.2008