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Erinnerungen der Maria Iwanowna Ledergaus

Leidvolle Lehrstunden der Geschichte

In unserer Familie gab es sechs Kinder. Während der Hungerzeit im Wolgagebiet im Jahre 1933 starben zwei von ihnen, 1944 – ein weiteres Kind, aber das geschah bereits in Sibirien.

Bis zum Krieg lebte unsere Familie im Gebiet Saratow,in der Sowchose Muchino. Der Vater war Mähdrescherfahrer, die Mutter arbeitete am Feldstützpunkt als Köchin.

Der älteste Bruder wurde 1934 geborenm der küngste 1939 und ich 1937. Wir gingen alle in den Kindergarten, der sich ebenfalls am Feldstützpunkt befand. Als der Krieg ausbrach, begann man mit der Aussiedlung der Deutschen. Sie setzten uns inWaggons, die eigentlich für den Transport von Vieh gedacht waren, sie waren völlig verschmutzt, beschädigt; und es gab darin auch keine Toiletten. Wir durften nicht viele Sachen mitnehmen; alles ging in aller Eile vonstatten, und wir schafften es nicht einmal alle wichtigen Papiere einzupacken. Die ganze Haus- und Hofwirtchaft mußten wir im Stich lassen. Und später erfuhren wir aus den Briefen unserer Verwandten, dass die Kühe, Schafe, Hunde nach unserem Fortgang brüllend und bellend durch das Dorf gestreunt waren. Das war schrecklich...

Wir verbrachten lange Zeit in den Waggons; der Zug hielt häufig an, weil er Züge mit Soldaten passieren lassen mußte, die in Richtung Front fuhren. 24 Tage waren wir unterwegs; dann trafen wir in Sibirien ein. Man brachte uns bis nach Kansk und schickte uns dann in das Großdorf Kuraj im Dserschinsker Bezirk. Anfangs wohnten wir im Badehaus, später im Wärterhäuschen an der Schule. So plagten wir uns zwei Jahre lang ab. Mama arbeitete in der Holzfällerei. Den Vater holten sie zur Trudarmee nach Ingasch; auch er mußte dort Bäume fällen. Aus dem kleinen Garten, in den wir Kinder zuerst gingen, warf man uns hinaus, weil wir Deutsche waren. Wir saßen ganz allein zuhause. Einige angestammte Dorfbewohner begegneten uns, den Deutschen mit angespannter Aufmerksamkeit, die kleinen Kinder suchten sogar auf unseren Köpfen nach Hörnern, denn sie hatten von solchen, als Karikatur dargestellten Faschisten gehört. Nach zwei Jahren zogen wir in den Abansker Bezirk, in das Dorf Beresowka, um. Und in Kuraj erlaubte man uns vor unserer Abfahrt nicht einmal Kartoffeln auszugraben, damit wir sie an unseren neuen Wohnort mitnehmen konnten. In Beresowka wohnten wir zunächst in der Schule, danach in einer Baracke, die an einen Hühnerstall erinnerte. Die Räumlichkeiten waren nicht eingerichtet. Wir hauten uns selber aus Holzlatten eine Liegestatt zurecht. Sie gaben uns einen Ofen ohne Ofenklappe. Als wir darim baten ein solches Türchen einzubauen, erhielten wir zur Antwort: „Soll das doch euer Hitler machen...“.

In den ersten Jahren schimpften sie uns Faschisten. Es gab auch eine erhebliche Sprachbarriere, denn wir sprachen nur sehr schlecht Russisch. Mama arbeitete als Melkerin, Verputzerin und Holzfällerin; sie mußte das geschlagene Holz sogar, bis zur Gürtellinie im Schnee versinkend, mit Hilfe von Ochsen abtransportieren.

Wir Kinder waren ebenfalls gezwungen, bereits im Alter von 7-8 Jahren arbeiten zu gehen. Wir jäteten das Unkraut auf den Feldern, beschafften Heu, rodeten Kartoffeln und zogen Runkelrüben.

Die Brüder machten eine Tischlerlehre. Und ich ging im Alter von 14 Jahren auf eine Farm zum Kühemelken.

Später wurde ich die beste Melkerin der Region. Ich wurde sogar zur Ausstellung über die Errungenschaften der Volkswirtschaft nach Moskau geschickt. Das war 1959. 11 Jahre lang arbeitete ich auf dem Bau. Dann heiratete ich, brachte drei Söhne zur Welt. Alle sind verheiratet. Ich habe zwei Enkel und zwei Enkelinnen.

In Sosnowoborsk lebe ich seit 1981. Mein Mann und ich fanden eine Arbeit auf der Geflügelfarm. Dort war ich als Geflügelwärterin tätig. Mein Porträt hing am Ehrenbrett. Mit 60 ging ich in den Ruhestand.

Den Vater holten wir aus dem Dorf zu uns. Zu der Zeit war er schon fast 92. Dort lebte bereits niemand mehr von unseren Verwandten. Der älteste Sohn wanderte mit seiner großen Familie – Kinder, Enkel und Urenkel – nach Deutschland aus. Mama und ihr Bruder starben im Dorf. Dort liegen sie auch begraben. Vor zwei Jahren starb mein Vater, zwei Tage vor seinem 95. Geburtstag.

Wir haben alle ein schweres Leben gehabt. Das Leben in Sibirien hat uns schließlich mit denen verbunden, die sich uns gegenüber anfangs nicht freundlich verhielten.

Ich bin im Besitz einer Rehabilitationsbescheinigung. Und ich bin – Veteranin der Arbeit.

„Sosnowoborsker Zeitung“, N° 49 (251), 18.12.2008


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