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Die Kindheit blieb an der Wolga

- Unser Haus steht noch, - flüstert sie kaum hörbar. – Aber drumherum hat sich alles verändert. Das Tor ist das gleiche, aber der Hof ist kleiner. Die Scheune wurde versetzt, um den Gemüsegarten zu vergrößern. Früher gab es im Hof einen Brunnen, der existiert nicht mehr.

Das spricht – Polina Iwanowna Tolystych. In diesem Haus spielte sich der glücklichste und sorgloseste Teil ihrer Kindheit ab.

Sie erinnert sich noch an die Zeit vor dem Krieg... Den geliebten Strand. Hier spielte sie mit den anderen Kindern, rannte zum Ufer der Wolga, um zu baden. Damals verkehrten von Engels nach Saratow kleine Schiffe. Heute gibt es sie nicht mehr, dafür hat man jetzt eine große weiße Brücke.

In diesem Haus wohnte ihre große Familie: die Eltern, vier Geschwister. Alle Kinder spielten Musikinstrumente. Oft versammelte sich die Familie im Wohnzimmer und sang Lieder, und die Kinder liebten es, kleine Theaterstücke aufzuführen.

- Jeden Tag wurden wir von dem Lied «Mein Herr, es ist ein neuer Morgen» geweckt, - erinnert sich Polina Iwanowna. – Die Eltern glaubten an Gott. Papa arbeitete als angesehener Warenfachmann, Mama war von Beruf Ärztin, wirkte aber als Hausfrau und befasste sich mit unserer Erziehung. Papa las uns oft vor dem Zubettgehen Märchen vor. Und bei den Klängen des deutschen Liedes mit den Worten « Der Tag ist vorbei, es ist Zeit, sich auszuruhen » schliefen wir ein.

Polina, oder, wie sie damals genannt wurde, Pauline, besuchte die zehnte Versuchsschule mit dem Schwerpunkt Sprachen. Ihre Geschwister konnten drei Fremdsprachen.

Doch alles sollte sich ändern. Die Familie Gerdt (Polina Iwanownas Mädchenname), wurde, wie viele tausend andere Familien aus der Deutschen Autonomen Republik, gezwungen, ihr Haus zu verlassen und dorthin zu fahren, wo niemand auf sie wartete.

Als der Große Vaterländische Krieg ausbrach, war Pauline gerade einmal elf Jahre alt. Sie erinnert sich an die Stimme Lewitans, die aus den schwarzen Lautsprechern ertönte, die Luftschutzübungen, das sehnsüchtige Warten auf Nachrichten vom älteren Bruder, den der Krieg in die Armee gezwungen hatte.
- Eines Abends kehrte der Vater aufgeregt von der Arbeit zurück. In seinen Händen hielt er eine Zeitung mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen“ vom 28. August 1941.

«Laut glaubwürdigen Informationen, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Anschläge verüben sollen...».

Weiter hieß es in dem Dekret, dass die Bewohner der autonomen Republik Der Umsiedlung in die Region Krasnojarsk, das Altai-Gebiet, Kasachstan sowie die Regionen Nowosibirsk und Omsk unterlägen. Sie sollten ihre Häuser verlassen, sich auf den Weg machen und alles zurücklassen.

- Sie siedelten uns bereits am 4. September aus, - erzählt Polina Iwanowna. – Wir gingen mit Koffern in unseren Händen. Alle Sachen, Möbel und sogar unsere Musik-Instrumente mussten wir zurücklassen. Unser Hund saß an der Tür und winselte. Über sein Schnäuzchen kullerten dicke Tränen. Diesen Anblick werde ich niemals vergessen. Und dann ließ sich ein Militär-Kommissar in unserem Haus nieder.

Der alte Teil der Stadt Engels, die Puschkin-Straße. Neben dem Haus mit der Nr. 115 steht eine alte Frau. Das letzte Mal hatte sie dieses Haus und diese Straße 67 Jahr zuvor gesehen.

Pawlina weiß noch, wie sie zum Bahnhof gelangten, erinnert sich sogar noch an die Nr. des Zuges - 826. Er fuhr nach Sibirien. Die Fahrt dauerte lange. Unterwegs kamen ihnen Transportzüge von der Front entgegen. An den Waggons – Einschuss- und Schrapnell-Spuren. Erst Ende September traf unser Zug in der Stadt Atschinsk ein.

- Als wir ankamen, flogen bereits die „weißen Fliegen“ (Schnee; Anm. d. Übers.) durch die Luft. Und wir waren lediglich für Herbstwetter gekleidet. An den Bahnstationen waren viele Menschen. Sie riefen: «Sie bringen Deutsche!» In Atschinsk blieben wir nicht lange. Wir wurden mit Fuhrwerken weitergebracht, ins Dorf Lebedjewka im Bogotolsker Bezirk. Am meisten beunruhigte uns die Ungewissheit, denn wir wussten nicht, was mit uns geschehen würde.

Eine alte Frau nahm uns bei sich auf. Sie wohnte selbst in einer halben Erdhütte, fand darin jedoch auch für uns noch Platz. Sie war eine äußerst begnadete Hausfrau, und bis heute erinnere ich mich an den Geschmack ihrer Blinis aus Hafermehl. Doch derartige Leckereien waren selten. Viel häufiger mussten wir Kartoffelfladen essen, die Mama für uns backte. Die gefrorenen Knollen suchten wir auf dem Kartoffelacker unter dem Schnee.

Die kleine Paulina träumte oft von dem warmen und gemütlichen Haus an der Wolga, die Vorhänge an den Fenstern, die Mama selbst genäht hatte, von ihren Schulkameradinnen und ihren geliebten Spielsachen.

Die Gerdts ließen sich von den Schwierigkeiten nicht unterkriegen. Die Eltern wurden als Mitarbeiter in einer Tierklinik angenommen, auch Schwester Emilia und Bruder Richard fingen an zu arbeiten. Sie nahmen ihre Arbeit mit nach Hause – flickten Hosen und Feldblusen.

Anfang 1941 wurden der Vater und Bruder Emmanuil zur Arbeitsarmee eingezogen. In dem Jahr ging Paulina in die vierte Klasse. An der örtlichen Schule wurde man sie zunächst nicht aufnehmen – denn ihre Dokumente waren alle in deutscher Sprache ausgestellt.

Der Krieg ging zu Ende, doch die Hoffnungen auf eine Rückkehr an die Wolga erfüllten sich nicht. Die Familie Gerdt blieb in Sibirien. Ende 1946 wurden sie in die Stadt Buguruslan gebracht. Es gelang Pawlina nicht, weiter die reguläre Schule zu besuchen - die Schulverwaltung war lediglich damit einverstanden, das Mädchen, das aus einer Familie von «Volksfeinden» stammte, an Abendkursen teilnehmen zu lassen. Dieses Stigma machte dem Eintritt in die Lehrerbildungsanstalt fast ein Ende. In der Zulassungskommission sagte man ihr klar und deutlich: «Selbst, wenn du die Aufnahmeprüfungen ablegst, wirst du kaum zum Studium zugelassen werden – du kommst aus einer Familie von Volksfeinden, und mit den reden wir nicht lange!»

Aber sie bestand die Aufnahmeprüfungen, schloss ihr Studium erfolgreich ab und erhielt ein Diplom als Mathematiklehrerin. 1951 wurde Polina Iwanowna per Verteilungsschlüssel an die Schule des Dorfes Kindelka im Bezirk Luxemburg, Gebiet Orenburg, geschickt. Doch sie war als Verfolgte noch fünf lange Jahre verpflichtet, sich jeden Monat einmal zur Registrierung zur Miliz in die Ortschaft Jaschkino zu begeben, die achtzehn Kilometer von ihrem Dorf entfernt lag. Erst am 28 Februar 1956 wurde Polina dort abgemeldet. Fünfzehn Jahre lang hatten sie und ihre Familie gelitten, Kränkungen und Erniedrigungen ertragen.

- Mama und Papa sahen ihr Haus in der Stadt Engels nie wieder, - sagt Polina Iwanowna mit schmerzlicher Stimme. Und wie viele ähnliche Schicksale gibt es, wie viele Menschen konnten ebenfalls ihr Vaterhaus nicht wiedersehen, die sich lediglich schuldig gemacht hatten, weil sie in wolgadeutschen Familien geboren waren!

Fremde Leute wohnen im Haus der Gerdts. Deswegen entschied sich Polina Iwanowna auch, das Haus ihrer Kindheit nicht mehr zu betreten. «Es schien mir, als konnte ich einfach die Türschwelle nicht überschreiten!» - gestand sie. Und dennoch hegt Polina Iwanowna, trotz ihres nicht beneidenswerten Schicksals, keinen Groll. – Ich bin glücklich, einen guten Beruf ausüben zu können, den ich liebe. Kinder wie Erwachsene haben sich mir gegenüber stets gut verhalten. Ich Ich respektiere und schätze alle meine Schüler. Und ich möchte, dass auch sie glücklich werden.

Aleksandr FISCHER, Ortschaft ATAMANOWO

„Landleben“, 21.08.2009


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