Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Sommer – ein kleines Stückchen Leben

Der verregnete und nur mäßig warme Juni wurde für die Studierenden des Jenisejsker College für Pädagogik doch noch zu einem aufregenden und großartig kreativen Sommeranfang.

Acht Tage lang arbeiteten Studenten der Pädagogikfachschule in der Ortschaft Momotowo im Kasatschinsker Bezirk mit zwei Zielrichtungen: Geschichte und Menschenrechte sowie Folklore.

Die Forschungsreise für Geschichte und Menschenrechte war bereits die sechste dieser Art, sie gilt schon als Tradition unter den Studenten, die sich darum bemühen, vom Studium der „großen Leute und Ereignisse“ zu den Geschehnissen der „Geschichte von unten“ überzugehen – der Geschichte des ganzen alltäglichen Lebens. Zum Gegenstand dieses tiefgründigen Forschens wurde das äußerst konkrete Thema „Die Repressionspolitik des Sowjetstaates in den 1930er bis 1950er Jahren, mit dem sich unsere Studenten nun mittlerweile seit sechs Jahren befassen.

Warum ausgerechnet die Repressionspolitik? Wir leben in einer Gesellschaft, die danach strebt, sich als „demokratischer, toleranter Rechtsstaat ...“ zu definieren, allerdings von Zeit zu Zeit mit der Verzerrung „nach rechts“. Das Erforschen der Repressionspolitik durch die Methode der mündlichen Überlieferung und unter der Anleitung eines Spezialisten, des Vorsitzenden der krasnojarsker Menschenrechtsorganisation „Memorial“ – A.A. Babij – stellt für unsere Studierenden eine eigentümliche Impfung gegen den Totalitarismus und verschiedenen andere Arten von Unfreiheiten dar. Mündliche Zeugenaussagen (während des Projekts in Momotowo wurden etwa zwanzig aufgezeichnet) gestatteten es den zukünftigen Pädagogen, sich ihrer Geschichte anzunähern, nicht nur einfach Wissenswertes über die Vergangenheit zu erfahren, sondern auch sich in sie hineinzuversetzen, sich einzufühlen. Nach jedem Interview kehren die Studenten mit großer Verwunderung, auch mit einer gewissen Bestürzung wegen der bedrückenden Erinnerungen zurück- und ganz oft auch mit einem rätselhaft veränderten Gesichtsausdruck, nachdem sie die Gefühle ihrer Gesprächspartner vernommen haben:

Tatjana Lutschkina: „Unser Gegenüber, S.S. Baltschunas, erzählte, daß sie vom Vater einen Brief erhielten, der auf Birkenrinde (!!!) geschrieben war. Dieser Birkenbrief war zu einem Dreieck gefaltet, genau so wie ein ganz normaler Brief aus Papier. Und er gelangte tatsächlich bis nach Jakutien!“

Alsa Achmadejewa: „Man kann eine Menge darüber lesen, wie schwierig sich das Leben der Deportierten in Sibirien gestaltete. Aber kein einziger Absatz in den Geschichtsbüchern, so sehr er auch auf den Leser einwirken mag, läßt sich mit den kleinen, alltäglichen Einzelheiten vergleichen (und was für Kleinigkeiten das waren!!!), die ich von A.J. Schleining zu hören bekam: „Wir besaßen kein einziges Paar Schuhe, und im April mußte ich barfuß in die Schule gehen. Die Füße brannten vor Kälte wie Feuer. Auf dem Weg zur Schule entdeckte ich einen frischen, waremen Kuhfladen, ich trat mit beiden Füßen hinein, um sie zu wärmen. Dann rannte ich innerhalb von fünf Minuten tzur Schule“.

Maria Pitschujewa: „Es läßt sich unschwer erraten, welche Gefühle heute eine Mutter bei den Mitmenschen auslösen würde, die sich von ihren Kindern lossagt und sie ins Heim gibt. Und genauso schwer kann man sich dieses ganze Grauen und die Verzweiflung der Mutter von A.F. Freibers vorstellen, geschweige denn begreifen, die eines Tages mit ihren drei kleinen Kindern vor dem Kommandanten der Kasatschinsker Sonderkommandantur erschien und ihn anflehte: „Erschießt sie oder bringt sie in ein Kinderheim! Sonst werden sie sowieso vor Hunger sterben“. Da haben wir es – das Gesetz der Relativität!

Die mündlich überlieferte Geschichte vereinte in Momotowo nicht nur zwei Generationen, sie verband auch Vergangenheit und Zukunft miteinander. Diese Forschungsreise verband Vergangenheit und Zukunft des Colleges, das inzwischen über 75 Jahre alt ist. Irgendwann, im Morgenrot seiner Existenz, begaben sich die Studenten der pädagogischen Fachschule jeden Sommer auf eine Reise in Sachen Folklore – Volkskunst und Tradition. Heute, da in der Abteilung für Pädagogik und ergänzende Bildung die neue Fachrichtung „Pädagoge mit Zusatzausbildung auf dem Gebiet der musikalischen Tätigkeit“ eingeführt wurde, ist das Studium der Folklore unserer Region ein unbedingtes Muß, und es bedeutet, daß die Zeit der Wiedergeburt ehemaliger Tradionen zurückgekommen ist. Im Verlauf der Expedition wurden von den Studierenden insgesamt 387 Vierzeiler und etwa ein Dutzend, irgendwelchen Bräuchen entsprechende, lyrische Lieder aufgeschrieben. Die am weitesten verbreitete Art dieser mündlich überlieferten Volkskunst, die damals in dem Dorf existierte, sind die sogenannten Vierzeiler. Darin findet man alles – die Geschichte des Landes, der Politik, der Wirtschaft, das Feuer des Herzens und das Eis der Veränderungen, Pop-Idole und ganz neue Realitäten. Aber ganz egal, worüber sie in ihren Liedern auch singen – in ihnen ist immer Humnor, etwas Positives und die große russische seele präsent. Besonders ist den Studenten die Begegnung mit der legendären kasatschinsker Sängerin P.D. Konopljannikowa in Erinnerung geblieben.

W. Zurow, S. Kilin: „Irgendjemand in Molotowo sagte uns, daß es in Kasatschinskoje so eine Großmutter gibt, von der jeder Volkskunstsammler nur träumen kann – Praskowja Dmitrijewna Konopljannikowa. Mehr wußten wir von ihr nicht – weder wer sie genau ist, noch unter welcher Anschrift sie wohnt... Mit einem Wort, geht ruhig mal dort hin, wo genau – das weiß ich nicht, aber du wirst schon finden, was du suchst. Unglaublich, aber in dem großen Kasatschinskoje konnte mir bereits der erste Mensch, dem ich begegnete erklären, wo sie ungefähr wohnt. Aufgrund von Praskowa Dmitrijewnas hohem Bekanntheitsgrad fanden wir das ersehnte Haus am Schwarzen Flüßchen innerhalb von nur dreißig Minuten. Sie ist nicht nur eine bemerkenswerte Liedersängerin und Dichterin von Vierzeilern, sondern auch ausgesprochen gastfreundlich, feinfühlig und aufrichtig. Und wie sie einen begeistern kann! Und überhaupt: irgendwie haben Sergej und ich jetzt eine Oma mehr. Und wenn wir schon ganz allgemein von der Folklorepraxis sprechen, so kann man diese ganz kurz beschreiben: du bist einfach urplötzlich zur Volkskunst gekommen!“

T. Dschiojewa: „Mit einer gewissen Wärme im Herzen werde ich immer an unsere Landung in Piskunowka zurückdenken. Ein wunderschöner Ort, breit angelegt, gepflegte Gärten. Und die Menschen natürlich. Ein Gemisch aus tschuwaschischem, tatarischem und russischem Blut, das einen ganz besonderen „Menschenschlag“ ergibt – sie sind alle fröhlich, feinfühlig, ausgelassen und laut. Lustig und anrührend war die Situation, als wir hörten, daß jemand hinter uns her rief. Als wir uns umwandten sahen wir, daß uns ein altes Mütterchen von 81 Jahren versuchte einzuholen – sie kannte nämlich noch zwei Vierzeiler!“ Schnell vergeht der Sommer, der September bricht herein – er ist arbeitsreich und offen für neue Kreativität. Denn vor uns liegt die weitere Aufarbeitung der gesammelten Materialien und großen, ambitionierten Pläne.

I. Moisejewa, Jenisejsker Fachschule für Pädagogik

Ich habe ein einziges Hemd
Ich habe eine einzige Hose.
Weil wir jetzt die Krise haben
In der Wirtschaft unseres Landes.

Manja, heirate nur nicht
Es kommt nichts Gutes dabei heraus
Und im Warenkorb
Ist eine Hochzeit nicht vorgesehen.

Ich saß auf einer Schaukel
Ich habe den Haen verloren
Wen geht es etwas an,
Daß ich einen Chinesen liebe.

Zieh das Akkordeon ein wenig weiter auseinander
Und laß die Mädchen mitsingen,
Damit man in der ganzen Welt erfährt,
Wie hier die Kolchosbauern leben.

Auf dem Berg steht eine Birke,
An der Birke ist die Rinde.
Unsere Männer sind gestorben,
Die Mückenschwärme haben sie gefressen.

Du sollst nicht rufen, grauer Kuckuck,
Du sollst dich nicht auf jene Birke setzen.
Flieg zu der Tanne rüber,
Bestell dem Liebchen einen Gruß.

Ich habe ein Vergißmeinnicht gepflanzt –
Ins Bächlein, ohne Wurzeln.
Gewöhn’ dich dran, mein Herzchen,
Ohne eine lieben Freund zu leben.

Schau, mein Lieber, nach dem himmel,
und dann vom Himmel auf mich,
Wie am Himmel schwarze Wolken ziehen,
So sieht es auch in meinem Herzen aus.

„Zur rechten Zeit“ (Lesosibirsk); N° 35, 4. September 2009


Zum Seitenanfang