Aleksej Babij, der Vorsitzende der regionalen krasnojarsker „Memorial“- Gesellschaft, hätte zu Stalins Zeiten nicht überlebt: ein kleines Loch im Hinterkopf, hervorgerufen durch eine Maschinenpistole, wäre ihm sicher gewesen, zumindest für seine unkluge gesellschaftliche Tätigkeit als Menschenrechtler. Gott sei Dank wurde bislang die Zeitmaschine noch nicht erfunden, die Babij in jene rauhen Jahre zurückversetzt haben könnte, so daß es für ihn noch eine Chance gibt, mit den Lesern der „CHANCE“ zu siegen.
- Aleksej, unsere Unterhaltung heute findet nicht lange vor dem nächsten Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen statt, der jedes Jahr am 30. Oktober begangen wird. Ohne es in dick aufgetragenenen, schwülstigen Phrasen auszudrücken: was bedeutet dieser Tag für dich?
- Ohne dick aufgetragene und schwülstige Phrasen: es bedeutet die Spitzenzeit für unseren jährlichen Arbeitsanfall. Wir drehen uns wie Goldhamster in ihrem Rad.
- Du stehst in der vordersten Reihe der Front im Kampf gegen die stalinistischen Verbrechen …
- Stop. Für den Anfang laß uns nicht solche Terminologien verwenden. „Memorial“ – das sind überhaupt keine Kämpfer. Wir arbeiten lediglich, erledigen Büroarbeit, stöbern in Archiven, beantworten Briefe, in denen Menschen nach den Schicksalen ihrer Angehörigen fragen, die in jenen Jahren in Lager gerieten. Es handelt sich also nicht um einen Kampf, sondern vielmehr um schwere Arbeit, welche nach außen hin nicht sichtbar ist.
- Als hier vor mehr als 20 Jahren die „Memorial“-Gesellschaft entstand – haben die Behörden sie da unterstützt oder eher „Stöckchen zwischen die Räder geschoben“?
- Es gab beide Varianten. Damals herrschte überall vorort große Unstimmigkeit und Zerstrittenheit. Als wir beispielsweise im November 1988 zur ersten Gründungskonferenz von „Memorial“ nach Moskau fuhren, wurden einige Delegierte auf den Flughäfen unter vollkommen unterschiedlichen Vorwänden verhaftet. Hier stellte man uns einmal pro Woche einen Raum zur Verfügung, wenngleich wir mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet wurden. Übrigens gibt es da einen wenig bekannten Fakt – die erste Region in der UdSSR, in der man anfing, repressierten und rehabilitierten Personen Vergünstigungen zu gewähren, war ausgerechnet die Region Krasnojarsk, zu der auch Chakassien gehörte.
- Wenn „Memorial“ früher durch das ganze Land dröhnte, so hört man jetzt irgendwie über dessen Aktivitäten kaum noch etwas – oder? Warum ist das Interesse des Volkes an jener schrecklichen Zeit erloschen?
- Damals wurden in der Tat „die Schleusen geöffnet“, und das Volk erfuhr eine ganze Menge. Jetzt sind die Leute fälschlicherweise der Meinung, daß man das alles schon nicht mehr braucht, daß es uninteressant und nicht mehr aktuell ist – obwohl dies gerade jetzt mehr als sonst der Fall ist. Die Menschen verstehen das nicht, weil sie meinen, daß bei uns alles in Ordnung ist. Der zweite Grund für das gesunkene Interesse: den Leuten ist einfach nicht danach zumute. Denn während der Perestrojka, und ich sage das, ohne jemanden beleidigen zu wollen, hat niemand vernünftig gearbeitet. Alle haben angefangen zu arbeiten. Aber besser ist es, wenn die Leute eine Beschäftigung haben und dabei trotzdem auch noch die Situation im Lande und in der Gesellschaft richtig verstehen. Ich arbeite für diejenigen, die der Staat und die Geschichte zu Staub zerrieben hat, indem sie gleichzeitig auch die Erinnerung an sie ausgelöscht haben.
- Daraus läßt sich schließen, daß du für die Toten arbeitest.
- Und was ist mit ihren Kindern?
- Gut. Du hast gesagt, daß die Menschen heute fälschlicherweise der Meinung sind, man brauche sich an die damalige Zeit nicht erinnern. Dann ist es doch auch nur allzu logisch zu sagen - was haben du und deine Mitstreiter denn all die 20 Jahre …. Haben sie schlecht gearbeitet? Habt ihr es nicht geschafft, der Gesellschaft eine Impfung gegen den Stalinismus zu verpassen?
- Ja, wenn wir zusammenkommen, dann sagen wir selber untereinander, daß wir unsere wichtigste Aufgabe nicht erfüllt haben. Denn bei uns steht auch in der „Memorial“-Satzung, daß wir dazu beitragen müssen, damit sich so etwas unter keinen Umständen wiederholt. Aber es geht darauf hinaus, daß sich etwas ähnliches, allerdings in anderer Form und anderer Art, durchaus noch einmal ereignen kann. Unser Volk ist bereit, immer wieder denselben Fehler zu begehen – und möglicherweise nicht nur diesen einen.
- So ist das vielleicht der natürliche Lauf der Weltgeschichte, wenn das Volk sich alle 90-100 Jahre selber einen Tyrannen wählt, ihn anschließend stürzt, und dann geht alles wieder von vorne los? Und in diesem Fall braucht man euch nicht?
- Verstehst du, es gibt eine Herangehensweise, und alle Parteien bekennen sich dazu. Zum Beispiel: es gibt ein Ziel, und das muß man erreichen, egal wie. Und es gibt eine andere Vorgehensweise bei einer beliebigen Sache: tu, was du mußt - komme, was wolle. Wenn wir einfach damit beschäftigt sind, dann haben wir das Gefühl, daß wir das tun, was wir tun müssen.
Besonders interessant ist, daß es zahlreiche Jugendliche gibt, die all das sehrwohl brauchen, und nicht nur „Cola“ und „Harry Potter“. Per e-mail erhalten wir viele Briefe von jungen Leuten. Wie das geschieht: da wählt einer seinen Nachnamen im Suchsystem und entdeckt mit größter Bewunderung, daß er offenbar eine ganze Menge Angehörige hatte, welche dieses System verschlungen hat. Und von diesen Angehörigen hat er die ganze Zeit nichts gewußt! Und da versucht der junge Mensch Einzelheiten herauszufinden, na ja – und gerät auf die Internetseite von „Memorial“. Und damit beginnt die Arbeit. Und die Lebensgeschichte eines ganz gewöhnlichen Menschen wird rekonstruiert. Die Menschen erfahren ihre Vergangenheit, und wenn sie sie dann kennen, verhalten sie sich in Zukunft anderen gegenüber nicht so, als wären es bloße Zahlen aus irgendeiner Statistik. Auch das ist Destalinisierung!
Und jetzt … jetzt ist es so, daß die Zeit der Schurken wiederkommt. Was war für die stalinistische Periode charakteristisch? Da hatten die Schurken ihren freien Lauf, ihren freien Willen. Du möchtest gegen deinen Chef intrigieren – dann denunziere ihn schriftlich beim NKWD, und schon kannst du seinen Platz einnehmen. Seine Probleme mit gemeinen Vorgehensweisen zu lösen war eine sehr bequeme Angelegenheit. Die Schurken hatten alle Trümpfe in der Hand, und der ehrbare Mensch konnte nichts dagegensetzen, außer sich das Hemd vor der Brust zu zerreißen und zu schreien: „Ich bin unschuldig!“ – Und diese Zeit kehrt nun spürbar zurück. Jene Leute, die vor 15 oder 20 Jahren geschwiegen haben, kommen jetzt langsam hervorgekrochen. Nun – da erhebt sich beispielsweise ein großer Vorgesetzter, ein „Mann der Macht“ und schlägt vor, ein rechtmäßiges Institut für Geiseln einzuführen. Oder der hohe Beamte beteuert, daß unter Stalin, ungeachtet aller Fehler und Überspitzungen, alles gut war … Und da geben sie „von oben“ das Signal – und „unten“ wird schon verstanden: Kinder, alle dürfen wieder Gemeinheiten begehen, dafür wird sowieso niemand bestraft …
Nur was für ein interessantes Bild das ergibt. Soviele Jahre schimpfen sie auf Stalin und jene Zeit. Aber es ist bekannt, daß allein im Jahr 1934 im Lande auf NKWD-Ebene etwa drei Millionen (!) Denunzierungen von Menschen gegen andere eingingen. Der Bruder schrieb Verleumdungen gegen den eigenen Bruder, der Sohn gegen den Vater, die Ehefrau gegen ihren Mann. Die Denunziationen hat doch nicht Stalin geschrieben?! Wer hat die Leute gewzungen, den Bleistift anzusabbern und mitten in der Nacht unter seiner Bettdecke die Worte aufs Papier zu kratzen „hiermit bringe ich Ihnen zur Kenntnis…:“? Warum also ist denn nur Stalin schuld?
- Da haben wir es! Eine ausgezeichnete Frage! Und zudem eine, die sich heute äußerster Aktualität erfreut. Das Wichtigste ist – das Aufstellen von Spielregeln. Und damals wurden solche Spielregeln aufgestellt, die es einfachen Menschen gestatteten etwas Derartiges zu tun, die es menschlichen Gemeinheiten erlaubten, ungestraft nach außen zu dringen. Jeder Mench hat seine Schwächen. In einem normalen demokratischen Land wird eine schriftlich formulierte Denunziation keinerlei Folgen haben. Und deswegen besteht die wesentliche Beanstandung des stalinistischen Regimes nicht in den Repressionen, sondern in der negativen Selektion der Gesellschaft. Es war möglich, daß die Menschen „tief herabsanken“, man „half“ ihnen beim Fallen, ließ sie jedoch nicht wieder aufstehen. Und wer trägt die Verantwortung für die Spielregeln? Derjenige, der ganz oben, an der Spitze der Pyramjide stand und mithilfe dieser Regeln seine Probleme löst.
- Sag mal, und was ist mit der heutigen Staatsmacht? Hilft sie dir? Nein, sagen wir besser so: fühlst du dich den unter der heutigen Staatsmacht wohl?
- Nein. Früher, Anfang der 1990er Jahre, gab es Hoffnungen, daß der Vektor der staatlichen Entwicklung sich zur richtigen Seite bewegen würde. Ungeachtet der Inflation, der materieller Schwierigkeiten und der widriger politischen Umstände. Derzeit zeigt der Pfeil nicht in diese Richtung, und das flößt einem Pessimismus ein. Obwohl ich nicht verbergen kann, daß die regionalen Behörden behilflich sind: viel Gutes tun sie im Hinblick auf die Repressionsopfer und teilen finanzielle Mittel für die Herausgabe des „Buches der Erinnerung“ zu und hören auch auf unsere Vorschläge.
- … Und deswegen hat „Memorial“ praktisch sein ganzes Archiv digitalisiert und eine Kopie dieses Archivs an einen Ort außerhalb Rußlands geschafft?
- Es wäre traurig, Materialien zu verlieren, die in fast zwanzigjähriger Arbeit zusammengetragen wurden. Und gebe Gott, daß es nicht zu einer Feuer- oder Überschwemmungskatastrophe kommt… Deswegen hat „Memorial“seine Archive auf dem Computer gespeichert, und Kopien davon verwahren wir an unterschiedlichen Orten. Das ist die ganze normale Praxis der Aufbewahrung von elektronischen Archiven. Aber als der Staatsvektor sich wieder in Richtung auf UdSSR-Zeiten zu drehen begann, kam noch eine andere Bedrohung auf. Da erschien bei „Memorial“ in Sankt-Petersburg die Staatsanwaltschaft und beschlagnahmte dort alle Disketten und System-Datenträger. Später wurden sie allerdings zurückgegeben – aber wenn sie das nicht getan hätten? In Archangelsk hat es schon Durchsuchungen bei Leuten gegeben, die am Buch der Erinnerung für die Opfer politischer Repressionen gearbeitet haben, und auch dort wurden alle elektronischen Datenträger konfisziert. Da blieb nichts anderes übrig, als eine Kopie des Archivs ins Ausland zu schaffen, wie zu alten, unschönen Zeiten.
- Zu ihnen kommen Menschen, deren Vorfahren, sagen wir, Angehörige der Polizeihilfstruppen waren oder in der Wlassow-Armee dienten – und nun wollen sie, daß ihre Väter, auch wenn es posthum stattfindet, rehabilitiert werden? Gibt es solche unangenehmen Momente?
- Ja, nicht alle nach §58 Verurteilten haben Anspruch auf Rehabilitation. Dies betrifft ganz besonders den Absatz 1 („Vaterlandsverrat“). Nicht rehabilitiert werden diejenigen, die an Strafoperationen teilgenommen haben. Und das ist auch richtig so. Aber es waren bei weitem nicht alle sogenannten Wlassowianer“ Verbrecher. Im Großen und Ganzen ist das ein separates, sehr umfangreiches Thema – die russischen Kriegsgefangenen. Sie gerieten in solche Bedingungen – dabei waren sie nicht nur der deutschen Staatsmacht ausgeliefert, sondern auch der sowjetischen – durch deren Schuld sie in Gefangenschaft kamen, durch deren Schuld sie ganz automatisch zu Verbrechern erklärt wurden, durch deren Schuld sie sich unter unmnenschlichen Bedingungen in Gefangenschaft befanden, und all das nur deswegen, weil die UdSSR nicht das Abkommen über den Status von Kriegsgefangenen unterzeichnen wollte. Viel einfacher ist es doch, sie zu Verrätern zu erklären. Wichtiger ist es zu verstehen, wohin die Staatsmacht die Menschen in unserem Lande führte, daß mehr als zwei Millionen Sowjetbürger auf die Seite des Feindes überliefen.
- Weißt du, ich stimme mit dir nicht überein, aber das ist, wie es so schön heißt, ein Tatbestand meiner Biographie. Wir werden uns kurzfassen. Kannst du die Position der Staatsmacht, der Menschenrechtsorgane im Hinblick darauf erklären, warum viele Archive, die 60 oder 70 Jahre lang bestanden haben, jetzt erneut geschlossen werden?
- Das ist ein Anzeichen dafür, daß sich bei uns der Vektor in die andere Richtung gedreht hat. Wir sind jetzt wieder verpflichtet, auf unser Land und seine Geschichte stolz zu sein, und es ist wohl jetzt nutzlos, die Skelette in den Abstellkammern und Schränken durchzusehen. Vor zwei Jahren haben Vertreter des FSB im Fernsehen ausposaunt, daß viele Archive geöffnet würden, sie sagten – „kommen sie nur“. Allerdings hat niemand den kleinen Zusatz bemerkt – „sofern Sie im Besitz einer notariell beglaubigten Genehmigung von einem Angehörigen des Repressionsopfers sind“. Aber woher sollen sie das denn nehmen? Das bedeutet doch die grundsätzliche Schließung des Archivs! Und alles ist nach dem Gesetz in Ordnung so. Und es gibt noch so viele Geheimnisse in diesen Archiven … Es gibt dort (aber jetzt sind sie alle unter Verschluß) Verhörprotokolle, die Namen der Ermittlungsrichter, die das Verfahren geleitet haben. Diese Leute leben schon lange nicht mehr, aber „die da oben“ sind der Meinung, daß man eine „derartige“ Vergangenheit lieber nicht wieder aufwühlen sollte.
Im übrigen läuft die Arbeit „Memorial“ lebt. Und wir werden auch weiterhin
das tun,
was wir tun müssen.
Igor SASKOW
„Chance“ (Abakan), 29.10.2009