Unsere Siedlung Lugowskoje wurde von Repressionsopfern gegründet, die Ende der 1940er Jahre nicht aus freiem Willen hierherkamen. Menschen – Persönlichkeiten, gebildete Leute, fleißiger Arbeiter unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse, in jenen Zeiten gebrandmarkt; und dennoch haben sie ihre Menschlichkeit, Herzensgüte und die Fähigkeit sich des Lebens zu erfreuen nicht verloren.
Die meisten von ihnen haben ihre Familien verloren und hier, auf dem rauen und unwirtlichen sibirischen Boden, neue gegründet. Ihre unentgeltliche Arbeitskraft, Erniedrigungen und Kränkungen durch die Machthaber – aber sie sind nicht namenlos verschollen, sondern leben in ihren Kindern, Enkelkindern und Urenkeln weiter.
Sie haben überlebt und sind an dem Erlebten nicht zerbrochen: sie haben Häuser gebaut, haben die Grundstücke mit gepflanzten Bäumen verschönert, haben ihre Kinder unterrichtet und großgezogen. Und für ihre schwere Arbeit haben sie Auszeichnungen erhalten. Manch einer erhielt Orden und Medaillen, den Titel eines Veterans der Arbeit (wer bis dahin noch am Leben war), aber hauptsächlich wurde ihre Mühe mit Ehrenurkunden ausgezeichnet, die bis heute in den Familienarchiven aufbewahrt werden.
Die meisten Repressionsopfer kehrten in ihre Heimat zurück, doch für immer liegen in unserer Erde diejenigen, die freiwillig zum Leben und Arbeiten hier bliebenü, sich nicht auf den Weg machten, um ein besseres Los zu suchen, die diese Gegenden lieben lernten und hier ihren Schweiß und ihr Blut ließen. In Lugowskoje begraben sind: W.M. Boizow, B.I. Pawlowitsch, D.M. Pawljuk, I. Ramsa, M.I. Russaltschuk, E.K. Saap, D.P. Streltschuk, Salo, G.G. Semtkow, K.A. Spelmanis, N. Rachmatullas,A.G. Zupo, M.A. Zupo, W.I. Tschuwytschan, M.Ch. Tschugai; W.A. Jemeljanow (begraben in Bolschji Kantat), J. Kusnezow (in Balachta), P.F. Gretschko (in Schelesnogorsk), G. Schernowa (in Muratowo).
Und nun möchte ich von bemerkenswerten Menschen erzählen, die bis heute unter uns, in unserer Siedlung, leben. Ausnahmslos interessante Leute, «quirlige», aktive, gutmütige, ungewöhnliche, fleißige Arbeiter – und dazu noch sehr bescheidene. Sie haben sich nie bemüht, sich von den anderen Dorfbewohnern hervorzuheben, haben nie ihre Nase in fremde Angelegenheiten gesteckt, haben niemandem gesagt, wie er zu leben hat, sondern verwunderten die anderen durch ihre Arbeitsfähigkeit, Gewissenhaftigkeit und gleiches Verhalten gegenüber allen.
WILHELM PHILIPPOWITSCH WEGEL, geboren 1930 an der Wolga, im Gebiet Saratow, Rowensker Bezirk, Ortschaft Tschkalowo. Vater Philipp Philippowitsch und Mutter Luisa Ludwigowna zogen ihre sechs Kinder ihr ganzes Leben lang groß, lehrten sie eine gute Einstellung zur Arbeit und zu den Menschen.
Die Ortschaft, in der sie lebten, war groß, mit einer starken Kolchose: Farmen, auf denen schon in der Zeit vor dem Krieg automatische Tränk- und Melkanlagen in Betrieb waren. Es gab sogar einen Pferdezuchtbetrieb und eine Rennbahn, sieben Eineinhalbtonner; ein Blasorchester. Bei den Einwohnern handelte es sich vornehmlich um Deutsche, alle besaßen einen gediegenen Haushalt õîçÿéñòâà ó âñåõ áûëè êðåïêèå, verdienten gute Tagesarbeitseinheiten, für die sie Getreide und Kartoffeln bekamen.
Einmal, als die Eltern zur Arbeit gegangen waren, brachte man für die geleistete Tagesarbeit ein ganzes Auto voll Wassermelonen und luden sie im Hof ab. Sie wurden zwischen dem Getreide gelagert, denn in jenem Jahr hatten sie davon auch viel geerntet.
Zur Schule fuhr man die Kinder auf Leiterwagen oder Schlitten in Sperrholzkabinen in ein 2 km entferntes anderes Dorf. Vor dem Krieg konnte er drei Schulklassen beenden, und erst in der dritten Klasse fing er an Russisch zu lernen – die Lehrerin war Russin, konnte aber auch sehr gut Deutsch.
Als der Krieg ausbrach, war er 11 Jahre alt. Und da kam das von Kalinin unterzeichnete Dekret über die Aussiedlung aller Wolgadeutschen nach Sibirien heraus. Und da waren die Eltern und ihre sechs Kinder Emma, Eduard, Wilhelm, Philipp, Leo und Amalia gezwungen, die Heimat zu verlassen. Es war Herbst, sie mussten alles zurücklassen, das Vieh und die Nahrungsmittel abgeben, und durften nur das Allernotwendigste an Kleidung und Essen mitnehmen. Für den zurück gelassenen Haushalt erhielten sie ein Dokument ausgehändigt, nach dem ihnen am neuen Wohnort eine Wohnung und Vieh zugeteilt werden sollte. Es war sehr schwer; man brachte sie zur Bahnstation, verlud sie auf Güterzüge, in „Kälber-Waggons“. Es war eng und stickig, alle zusammen – Männer, Frauen, alte Menschen und Kinder – und keinerlei Bequemlichkeiten. Sie litten Hunger, manchmal bekam sie ein Stück Brot. Oft stand der Zug für lange Zeit still, weil sie Militärzüge passieren lassen mussten. Sie fuhren bis Krasnojarsk; dort wählte der Vorsitzende des Bolschemurtinsker Bezirks die von ihm benötigte Anzahl Familien aus und ließ sie auf Leiterwagen verladen. Man brachte sie in die Ortschaft Aitat, wo sie bis Neujahr blieben. Der Vater erfuhr, dass die Bewohner aus dem gleichen Dorf in Orlowka wohnten, und so zogen sie dorthin um. Sie hausten in einer kleinen Hütte. 1942, im Frühjahr, stellte die Kolchose ein Häuschen bereit, in dem zwei Familien – Wegel und Damsen – untergebracht wurden. Zu der Zeit mobilisierten sie alle Männer in die Arbeitsarmee – dort kam der Vater ums Leben, Vetter Andrej kehrte zurück – doch er war «nur noch ein Schatten seiner selbst». Ein paar Jahre später teilte man ihnen eine Kuh zu. Die Mütter arbeiteten von früh bis spät in der Kolchose, und die Burschen mühten sich mit Brennholz ab; alles, was sie mitgebracht hatten, tauschten sie gegen Lebensmittel ein. Einmal nahmen die Mütter in einem Eimer Getreide mit, aber die Säcke waren dünn, so dass die Körner auf den Weg fielen. Man machte sie ausfindig und verurteilte sie zu fünf Jahren. Die Kinder der Familie Damsen wurden ins Kinderheim nach Dudowka im Kasatschinsker Bezirk gebracht, aber Luisa Ludwigowna kehrte nach fast einem Jahr zurück; Schwesterchen Amalia ging verloren, niemand sah, wo und wie sie begraben wurde; ob sie vielleicht noch lebt?!
Im Winter gingen die Alten in die Provinz nach Jenisseisk und weiter nach Tassejewo – um Salz zu holen, und die Kinder nahmen sie mit. Mit 12 Jahren begann Wilhelm auf dem Anhänger eines Traktors, auf dem Mäher, auf der Erntemaschine zu arbeiten und reinigte das Getreide. Christian Guber, Arbeiter bei der Traktorenbrigade, half ihm dabei, sich mit dem Traktor vertraut zu machen, anhand der ausgehängten Plakate war das schwierig, weil er nur schlecht Russisch konnte. Im Selbststudium erlernte er das Fahren mit dem Rad-Traktor, er liebte und verstand die Technik. So haben sie gearbeitet! Es gab so viele Ehrenurkunden, aber sie sind nicht alle erhalten geblieben. Mit 18 Jahren lernte er Lisa Dsjuba kennen, und mit 19 heiratete er sie. Auf dem Traktor fuhr er – ab 1952 – als echter Traktorist.
1957 zogen sie nach Lugowskoje; sie hatten bereits zwei Söhne – Viktor und Wolodja. Anfangs arbeitete er als Festbinder, Holzfäller beim Holzeinschlag und ab 1960 als Traktor- und Bulldozer-Fahrer. Und so ging es bis zur Rente, bis 1990.
Töchter wurden geboren, die älteste starb früh. Die Ehefrau arbeitete als Haushälterin, sie unterhielten eine Hofwirtschaft. Sie lebten. Sie zogen Kinder groß, die zogen fort und heirateten. Die Tochter wohnt nebenan. 2004 hat er seine Frau begraben.
Wilhelm Philippowitsch – ein verdienter Arbeitsveteran Russlands. In seinem Arbeitsbuch – nichts als Belobigungen und Dankesbekundungen. Für seine gewissenhafte Arbeit erhielt er eine Medaille, das Abzeichen «Sieger im Sozialistischen Wettbewerb», den Orden «Ehren-Abzeichen», die Medaille «Veteran der Arbeit». Er leistete 49 Arbeitsjahre! Er führt ein sehr bescheidenes Leben, ist aber nach wie vor ein lebensfroher Mensch, in dessen Nähe sich Enkel und Urenkel wohl fühlen. Aber die Hände schmerzen ihm sehr…
GILDA (HILDE) CHRISTIANOWNA GUBER wurde 1927 im Gebiet Saratow, im Besymensker Bezirk, in der Ortschaft Friedenthal, geboren. Er absolvierte fünf Schulklassen. Das Dorf ist nicht groß, es gibt eine gute Kolchose. Vater Christian Petrowitsch Guber und Mutter Luisa Andrejewna arbeiteten dort. Sie hatten sieben Kinder: Kristina, Christian, Andrej, Berta, Maria, Gilda, Amalia. Im Dorf gab es eine Schweinefarm, einen Kuhstall, in dem die älteren Schwestern Berta und Maria als Melkerinnen arbeiteten. Sie arbeiteten so gut, dass sie mit einer Zugfahrt nach Moskau belohnt wurden. Sie führten ein gutes Leben, pflanzten viele Wassermelonen. Als der Krieg ausbrach, war Gilda 14 Jahre alt. Bruder Christian arbeitete als Vorsitzender, deswegen fuhr er las letzter ab – nicht bevor er über den gesamten, von den Einwohnern abgelieferten Besitz (Vieh, Getreide…) Bericht erstattet hatte. Sie wurden im September in Eisenbahnwaggons nach Krasnojarsk abtransportiert, von dort auf einem offenen Lastkahn bis nach Juksejewo, dann mit Pferden bis Murta, wo sie auf verschiedene Dörfer verteilt wurden. Anfangs waren sie in der Kolchose «Zündfunke», später in Orlowka. Bruder Christian war Arbeiter einer Traktoren-Brigade. Der Vater war in der Imkerei als Bienenzüchter tätig.
An der Wolga mussten sie ihr Haus und zwei Kühe abgeben; hier erhielten sie ein kleines Häuschen. Sie mussten sofort auf der Tenne arbeiten.
Maria holten sie in die Arbeitsarmee. Ein schwieriges Leben war das, sehr schwer. Sie schleppten Bärlauch nach Hause, viel Brot aßen sie nicht. Es gab genug Kummer und Gram. Hilda transportierte bis 1954 Heu und Stroh mit Hilfe von Ochsen; außerdem arbeitete sie als Buchhalterin in der Traktoren-Brigade. 1954 zog sie nach Lugowskoje, arbeitet in der Bahnschwellen-Fabrik; sie zog zwei Söhne groß, es kamen Enkelkinder und sogar schon Urenkel. Gilda Christianownas Gesamtarbeitszeit beträgt 41 Jahre, sie ist verdiente Arbeitsveteranin Russlands. Sie spricht nicht gern von sich. 1982 ging sie in Rente, 1999 beerdigte sie ihren Mann, es starb der älteste Sohn. Gilda Christianowna wohnt mit dem jüngsten Sohn – Anatolij – zusammen. Sie ist immer noch agil, lebensfroh, gastfreundlich und erinnert sich gern an andere Menschen. Und sie beklagt ihre «Wehwehchen» nicht.
Ihnen, verehrte Veteranen, eine gute Gesundheit und noch viele Lebensjahre. Mögen eure Kinder, Enkel und Urenkelinder nur Freude machen! Mögen alle Unbilden an euch vorübergehen, liebe Mitbewohner aus unserem Dorfíå!
N.D. Streltschuk, Leiterin der Logowsker Dorf-Bibliothek
„NEUE ZEIT“, ¹ 44, 7.11.2009.