Folgendes kann vorkommen: du siehst eine Frau, in ihrem Gesicht erstrahlt ein gutmütiges Lächeln, und du kommst überhaupt nicht darauf, wie viele Sorgen, Ängste und Leid in ihrem Schicksal geschehen sind, wie viel Kummer diese Frau in jungen Jahren durchmachen musste… Doch sie hat alles ertragen und überlebt.
Wir, die Bewohner von Lessosibirsk, hörten von ihr. Denn Schüler der Stadt, Studenten der örtlichen Universität hatten sie zu einem Treffen eingeladen. Die jungen Leute hörten ihr zu, hielten den Atem an, stellten zahlreiche Fragen. Wie hat sie nach all dem, was sie durchmachen musste, weitergelebt? Einer der Studenten dankte für die Begegnung, wobei der Lidia Charlampijewitsch Marussjak eine Legende nannte…
Und alles begann so.
In ihrer Kindheit und Jugend hieß sie Lidia Demtschenko. Geboren wurde sie in der Stadt Kirowograd in der Ukraine. Vor dem Krieg beendete sie sieben Schulklassen, reichte ihre Dokumente beim pädagogischen Technikum der Stadt Nikolajew ein. Doch sie konnte ihre Träume nicht verwirklichen. Am 22. Juni 1941 begann der Große Vaterländische Krieg. Vom 10. bis 15. August marschierten die Faschisten in Kirowograd ein. Lidia Charampijewnas Onkel, ehemaliger Leiter der Bezirksfinanz-Abteilung, blieb im Auftrag der Regierung in der Stadt zurück – für subversive Aktionen im Hinterland des Feindes. Lidia und ihre Mutter wurden nach Nowgorod, die Bezirkshauptstadt, evakuiert, wo Onkel Fjodor Schibotinskij arbeitete. Lida, drei ihrer Klassen Kameradinnen und der Onkel wechselten im September 1941 zu den Partisanen. Die Front befand sich in 12 Kilometern Entfernung. Die junge Partisanin musste allein (sie war Melderin) zweimal die Frontlinie überschreiten – um Medikamente und Salz zu holen. Die Mutter blieb in Nowgorod. Im September benötigte die Truppe einen Reisebegleiter. Der Onkel erteilte den Auftrag: aus Nowgorod den Juden Riwa Fleitmacher herzubringen. Dazu musste man Sümpfe durchqueren. 8 km gingen sie durch Schilf – bis zu dem Platz, wo sie die breite Straße überqueren sollten. Der Onkel sagte: „Es ist das letzte Mal, dass du gehst. Weiter werden wir dich nicht behelligen“. Die Melderin hatte noch nicht ganz die Straße überquert, als ein geschlossenes Fahrzeug mit Deutschen auftauchte. Sie hielten Lida an und befahlen ihr ins Auto zu steigen. Im Auto befanden sich Halbwüchsige; man brachte sie zur Bahnstation Kuzawka. Lida war nur leicht bekleidet. Ein betagter Mann fuhr an ihnen vorbei, der eine Fuhre Milch transportierte. Das Mädchen schrie ihm zu: „Sag meiner Mama, dass ich Kleidung benötige!“ Die Mutter kam in der Nacht und reichte durch den Stacheldraht einen Sack mit Kleidungsstücken und Lebensmitteln. Unter denen, die in dem Fahrzeug befördert wurden, entdeckte Lida auch einen Bekannten. Er meinte: „Beiß dir auf die Zunge, schweig still!“
So gelangten sie bis nach Przemysl (Polen). Ihre Nahrungsmittel gingen zu Ende. Eine Ration bestand aus – 200 Gramm Brot und einem halben Liter Wasser. Das Brot war bereits 1928 gebacken worden; das konnte man anhand der Verpackung sehen. Morgens wurde der Waggon geöffnet, das Brot hingeworfen, und dann schlossen sich die Türen wieder. Und das war alles. Davor kam eine Kommission. Es gab eine Spritze, welche Schwellungen auslöste. Sie kam in Quarantäne. Sie wurde gegen die Schwellungen und gegen Krätze behandelt. Ein halbes Jahr befand sie sich in Quarantäne. Von Polen wurde sie irgendwie durchgefüttert. 1943 – Stettin in Deutschland. Die Stadt wurde bombardiert. Kaum jemand überlebte.
Im September 1943 kam Lidia nach Österreich in ein Metallhüttenwerk. Der Faschismus begann. Es war eine Krematoriumslager. Auf den Arm brannten sie einem eine Nummer ein (Stempel). Auch Lidia wurde davon nicht verschont. Eineinhalb Monate später schickte man die Menschen ins Krematorium. In der Gaskammer wurde sie ausgeladen, am dritten Tag wurden die Kammern von der Asche gereinigt; man brachte sie aufs Feld; dort arbeiteten die noch lebenden, mit Nummern gekennzeichneten Männer des Lagers. Sie wurden so schlecht verpflegt, dass sie praktisch am Hungertuch nagten: 250 Gramm Brot, schwarzer Gerstenkaffee – 0,5 l, gekochte Steckrübe. Di Häftlinge bekamen Hungerödeme. Lidia wog 43 kg. Zudem nahm man ihr 3,5 l Blut ab, jedes Mal 0,5 Liter. Man zwang die jungen Leute, die zwischen 1925 und 1927 geboren waren, ihr Blut zu spenden. Zur Arbeit, die jeweils 12 Stunden dauerte, trieb man sie mit Hunden.
Wie viele Menschen sie einäscherten! Ohne Namen, ohne Datum… Es ist schrecklich vergessen zu werden… Denn wir klammern uns doch schließlich an die Erinnerung. In der Fremde begegnete Lidia Charlampijewna bestialischen Menschen. Sie wurden von allen Gefangenen gefürchtet, sie benahmen sich satanisch, vergingen sich, marterten – diese Ausgeburten, diese Bestien.
Derartige körperliche Misshandlungen, derartige Misshandlungen der Seele, ein derart ausgeklügelter Sadismus!
Lida Demtschenko befand sich in diesem Nummernlager bis Mai 1945. Im weiteren Verlauf ging das Territorium an die Amerikaner. Alle wurden entlassen, und man erklärte: „Morgen trifft das russische Kommando ein!“
Im Juni fand die Registrierung für die Verschickung in die Heimat statt. Aber Lida wartete noch weitere zwei Monate. Die ganze Zeit über lebten sie in Baracken und schliefen jeweils Kopf an Fuß mit den anderen. Einmal kam nachts ein Tschekisten-Offizier: „Wer von euch ist Demtschenko?“ Sie brachten Lida in den Keller… Nacht für Nacht wurden die Menschen aus der Ukraine, aus Polen weniger. Vier Tage später brachten sie Lida zur Untersuchung ins Gefängnis. Sie schlugen sie lange, fragten: „ Wer ist dieser Sergej Mitrofanowitsch Kimlatsch?“ So hielten sie sie noch weitere acht Monate im Untersuchungs- und Isolationsgefängnis; die Ermittlungen wurden nachts geführt, und tagsüber ließ man sie nicht schlafen. Aufgrund der nervlichen Belastung begann Lida an einem Zucken zu leiden. Zu essen bekam sie lediglich 350 Gramm Brot und einen halben Liter Wasser. Im Dezember, bereits verurteilt, schickten sie Lida nach Russland in ein Nummernlager. Man hatte sie zu 10 Jahren verurteilt. Sie gingen zu Fuß – 12 Kilometer. Lida war Brigadeführerin von weiteren 18 ausgezehrten, erschöpften Menschen. „Gebe Gott, dass niemand dorthin gerät. Auch was du gar nicht weißt, nicht gesehen hast – unterschreib, was sie verlangen“, - sagt Lidia Charlampijewna mit bitterer Stimme.
Bis zum Ende der Haftzeit saß Lidia in Mordwinien. Sie kannte nur ihre Baracke und die Arbeit, ohne das Recht auf Briefwechsel. Im Gefängnis – die Baracke mit verschärftem Regime – die BUR.
„Zusammen mit mir saßen Lidia Ruslanowa, Lalja Tschernaja, das halbe Mariinsker Theater aus Leningrad, Solschenitzyn – ihm begegnete ich 1951“. Aus seiner Stiftung erhält Lidia Charlampijewna zweimal im Jahr zwischen 1000 und 3000 Rubel-
Nach Verbüßung der Haftstrafe wurde Lidia Charlampijewna zur Ansiedlung in den Jenisseisker Bezirk, Region Krasnojarsk, geschickt, in die Siedlung Strelka. Dort bauten sie Baracken. Leichte Arbeit gab es nicht. Dort heiratete Lidia einen guten Mann und zog mit ihm drei Kinder groß – zwei Söhne und eine Tochter. Sie lebten ganz gut. Im Fernlehrgang beendete Lidia das Straßenbau-Technikum in Krasnojarsk. In der Siedlung Strelka lebten sie von 1954 bis 1974.
1965 wurde Lidia Charlampijewna rehabilitiert. Sie begaben sich mit der Familie in den Kaukasus, in den Maikopsker Bezirk. Doch es ereignete sich ein Unglücksfall, bei dem der Ehemann von Banditen ermordet und das Haus in Brand gesteckt wurde. Damals zog Lidia Charlampijewna nach Omsk zur Tochter. Von dort unternahm sie im Jahr 2000 eine Reise nach Deutschland und weiter nach Österreich. So eine zweiwöchige Reise wurde ehemaligen minderjährigen Gefangenen bewilligt. Im Übrigen erwies meinen einstigen Häftlingen hinreichende Aufmerksamkeit: viele Male gab es kostenlose Reiseschecks für den Aufenthalt in einem Sanatorium, und bis 2000 konnten sie einmal pro Jahr mit dem Flugzeug reisen.
Und trotzdem sind Sie, Lidia Charlampijewna, ein glücklicher Mensch! Immerhin hatten Sie Träume, Arbeit, eine Wohnung, sogar ein eigenes Haus, einen Ehemann, den Sie geliebt haben, zwei Söhne und eine Tochter. Es gab auch viel Leid, doch das hat eine andere Färbung angenommen. Es hilft Ihnen heute zu leben.
Und was ist schon ein Mensch ohne Leiden? Ein Leben ohne Kummer ist leer. Unglücklich sind diejenigen, die ein auswegloses Leben führen, die im Leben keinerlei Prüfungen und Herausforderungen erfahren haben: keine Liebe, kein hartes Leben – nichts, was den Menschen stark macht. Sie, Lidia Charlampijewna hatten und haben alles.
Und es ist ein Wunder, dass Sie überlebt haben. Ist Ihnen leicht zumute? Es kommt einem so vor, als ob Sie bereit sind, sich aufzuschwingen, die Arme mit Federn bewachsen – sich emporzuheben über unsere Welt. Und so genießen Sie mit diesem Gefühl Ruhe und seelische Leichtigkeit.
L.M. Mukina, L.I. Lendel
Veteraninnen der Arbeit
Unterschriften zu den Fotos:
Lidia Charlampijewna Marussjak
Im Krankenhaus in Stalins Lagern
Deutschland. 1943: an der Werkbank in der Fabrik
Siedlung Strelka. 1955 in der Verbannung
Irgendeine Lessosibirsker Zeitung, vermutlich aus dem Jahr 2009.
Anmerkung: nach Informationen von lists.memo.ru
Lidia Charlampijewna Demtschenko (Ehename Marussjak)
Geb. 1925 im Gebiet Kirowograd
Arbeitsstelle: ungelernte Fabrik-Arbeiterin
Lebte eine Zeit lang in Österreich, Stadt Ferlag. (?)
Anklage: § 58-1a
Urteil: Militärtribunal der 57. Armee vom 07.08.1945 – 10 Jahre Erziehungs-/Arbeitslager;
verbüßte die Strafe in Mordwinien, Bahnstation Potma.
Rehabilitiert: Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR vom 20.05.1965
Quelle: Archiv des wissenschaftlichen Forschungs- und Aufklärungszentrums der „Memorial“-Organisation,
Moskau