Die Dachböden und Keller der Erinnerung ... Über Fundstücke in den Kellern halbzerstörter Gebäude der in Vergessenheit geratenen norilsker Fischfabrik, über die Fischer und ihre Schicksale, über die Fangflotten und Hauptfangzeiten am Kap Wchodnoj und Tarei, über Fahrten auf Frachtkähnen auf nördlichen Meeren hat unsere Zeitung vor fünf Jahren berichtet. Sie hat davon erzählt und gleichzeitig die spärlichen Informationen über eine der bedeutsamsten Seiten der norilsker Geschichte bedauert – und das Wenige, das wie durch ein Wunder erhalten geblieben ist, verrottet in irgendwelchen feuchten Ruinen – Rechnungsbücher, die Auskunft über Fangflotte und Fischvorkommen geben, Befehle und Anordnungen, operative Berichte und Telegramme.
Zu jenen unschätzbaren Werten, die sich, Gott sei Dank, diesmal unter einem Dach befinden – gehört auch das Archiv der Personalabteilung. Nach der Liquidierung der Fischfabrik und der darauf folgenden Vielzahl organisatorisch-rechtlicher Transformationen, sorgten sich die Besitzer und Günstlinge am allerwenigsten um das Schicksal der alten Dokumente, um das gesitz, das ihre ewige Aufbewahrung vorschrieb, obwohl es sich dabei doch schließlich um die ganz persönlichen Akten von MENSCHEN handelte, die von den 1940er bis hin zu den 1980er Jahren auf den Flüssen des Tajmyr Fischfang betrieben hatten. Sie liegen bis heute – Dank eines Mannes, der sie gewissenhaft hütet - in einem der Lagerräume eines im Großen und Ganzen bereits stillgeleten Gebäudes, das seinerzeit sowohl als Schule, als auch als Werksverwaltung diente, wenngleich für diese Dokumente eigentlich ein Platz im Stadt- oder Kombinatsarchiv zu finden sein müßte. Das Gebäude ist alt, aus Holz gebaut, und sehr baufällig; gebe Gott, dass es nicht einem Feuer oder einem anderen Unglück zum Opfer fällt! Aber die Prozedur der Übergabe von Archivmaterialien ist eine unangenehme, mit vielen Formalitäten verbundene Aufgabe – wer also soll sich damit befassen? Das Archiv wird zugrundegehen, es wird verschwinden, und dann ist es verloren – für immer....
Soll man sich mit neuen Informationen aus der Geschichte der Fischfabrik beschäftigen, ohne sich dabei einen solchen Reichtum zunutze zu machen? Aber es ist nicht möglich, sich in dem engen unbeheizten Gebäude, in dem es keine Stromanschlüsse gibt (und es herrschte tiefster Herbst), wo in den Regalen bereits jemand in äußerst barbarischer Weise in den Papieren herumgewühlt hat, mit den Personalunterlagen der Fischer vertraut zu machen. Und darum beschloß ich: zuerst werde ich die „Akten“ derer heraussuchen, die mindestens einmal in den bereits früher ausfindig gemachten Befehlen und Verfügungen der Fangstationen „Kap Wchodnoj“ Erwähnung finden. Ich fand mithilfe einer Taschenlampe die notwendigen Ordner in den Regalen und trug sie ans Tageslicht, indem ich sie auf dem Fensterbrett ausbreitete. Ich suchte und suchte – vergeblich: ich entdeckte einzelne Familiennamen, aber die Initialen ihrer Vornamen oder Vatersnamen stimmten nicht überein. Wie konnte das sein, gab es hier denn nicht wenigstens einen einzigen „Bekannten“? Schließlich kam ich dahinter: du darfst nicht hier suchen! Jene Frolows und Kiseljows, die mit den kleinen schicksalhaften Buchstaben, dem Zusatzvermerk „z/k“ (russische Abkürzung für „Gefangener“; Anm. d. Übers.) gekennzeichnet waren, konnte ich gar nicht unter den „Freien“ finden; vielleicht haben sie ihre Schuld abgegegolten und sind zum Fischen der nördlichsten Heringsarten in den eisigen Weiten geblieben. Man erzählt, dass es viele gab, bei denen das der Fall war, aber schließlich .....
Die journalistischen Notizblocks – dieselben Dachböden und Keller der Erinnerung, liegen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, vergilbt und unberührt, auf Arbeitstischen und heimischen Zwischenböden, bis die kapriziösen Wege des Erfolgs die Seiten mit vergessenen Helden oder längst vergessenen Ereignissen wiederbeleben.
Längst wurden Versuche unternommen, Fakten und Fäden der Zeit zur ungeschriebenen Geschichte der norilsker Fischfabrik aufzudecken, und bei der Durchsicht der Museumsschätze (was zu meiner Redakteursaufgabe gehörte), beim Durchblättern der Unterlagen, stieß ich auf die Nachnamen Berger, Bilscho. Birger, Berger? Irgendwo war ich dem Namen schon einmal begegnet, weshalb war er mir so geläufig? Josef Michailowitsch? So-ooo, lesen wir das auf jeden Fall mal: „1904 geboren... Krakau.... konterrevolutionäre Aktivitäten .... 5 Jahre .... Haftstrafe erhöht....“. War er denn Fischer am Kap Wchodnoj gewesen? Ich gehe nachHause, finde ein Notizbuch – genau! Er ist es, er ist von hier! Ich erinnerte mich an Berger, weil wir im Journalistenhandwerk Kollegen sind. Der vielleicht hauchdünne Faden wird länger und führt langsam zur Verkettung der Geschichte! Ich kehre ins Museum zurück, lese, und lasse dabei keinen einzigen Buchstaben mehr aus.
Das Schicksal des Mannes mit dem biblischen namen Josef kann man, trotz all seiner Unwahrscheinlichkeit, nocht als einzigartig bezeichnen. In den GULAG-Veröffentlichungen Schalamows, Solschenitzyns, Wolkows, Ginsburgs und Schigulins gibt es viele menschliche Schicksale wie das, welches Berger erlitten hat. „Sohn eines polnischen Fabrikanten“ – lautet eine der Aussagen in seinem Urteil. Und davon gab es viele in Josef Bergers Verbannten- und Lagerschicksal – in seiner Jugend schloß er sich der kommunistischen Internationale an, in dem Glauben, wie man denken könnte, an den Triumph der allgemeinen Gleichheit aller Menschen auf der Welt. Lobenswerte Gedanken und Träume! Nach etwas über 20 Jahren Verbannung und Lageraufenthalt (und, wie wir herausfanden, Fischfangalltag in den allernördlichsten Regionen) ist nur wenig vom Lebensoptimismus und vom Leben überhaupt geblieben; wie soll man es wohl sonst erklären, daß im Fragebogen Anfang der 1950er Jahre, der mit den Worten von Josef Michailowitsch durch den wackeren operativen Tschekisten – Unterleutnant Polujanow, verfaßt wurde in der Spalte „Eltern“ das Wort „keine“ geschrieben stand. Wie kommt das? Hatten die Überzeugungen eines Jungkommunisten ihn dazu gezwungen, sich von den bourgeoisen Eltern loszusagen oder hatten die eifrigen Tschekisten ganze Arbeit geleistet?
Schließlich sagt er sich auch von seiner Ehefrau und Tochter los (übrigens konnten die sich schon vorher von ihm lossagen können, um ihre eigene Haut zu retten), doch das geschieht noch im Jahre 1953, als die Sterblichkeitsrate abnahm. Noch früher aber, 1932, ändert der 28-jährige Kominternanhänger „im Zusammenhang mit einem Befehl der Parteiorgane“ seinen Nachnamen Scheljasnik auf Empfehlung der Partei in Berger um. Da stand er nun also – ohne Verwandte, ohne Nahestehende, ohne eigenen Namen, mit einem Schicksal, wie von Achmatowa beschrieben, wie ein Zug am Abhang …
Ist von dem jugendlichen Humanismus irgendetwas übgriggeblieben? Zumindest wollte er nach all dem Lagerunheil nicht in dem humanitärsten aller Staaten bleiben, und so bat er 1951 darum, ihn in die Heimat, nach Polen, zu deportieren. Aber sie ließen ihn nicht.
Dabei hatte doch alles so ruhmreich begonnen! Auf Anordnung des Exekutivkomitees der Komintern kommt 1932 der mehrere Sprachen fließend sprechende Journalist Berger aus Berlin nach Moskau, ein eingefleischter Spaßvogel und perspektivenreicher Apparatschik. Nachdem die Internationalisten im „Metropol“ Quartier bezogen hatten, schöpften sie keinerlei Verdacht, daß sie eigentlich eine „Zimmerreservierung“ von zweifacher Bedeutung erhalten hatten – zum Bezug einer komfortablen Untersuchungszelle, die nicht nur mit Stuckdecken im stalinschen Empirestil verziert war, sondern auch mit einer Vielzahl von NKWD-Mikrofonen. Hat denn der zukünftige norilsker Fischer dem unermüdlichen Radek den konterrevolutionären Witz auch richtig erzählt, indem er ganz unüberlegt Kritik übte, weil er von dem, was er gesehen hatte, so enttäuscht war, oder geschah das alles aufgrund des Zuteilungsschlüssel der Komintern? Jedenfalls verpaßt ihm ein Sonderkollegium des NKWD der UdSSR am 02.04.1935 wegen konterrevolutionärer Aktivitäten die ersten 5 Jahre Haft in einem Holzfällerlager – im Oserlag (Tajschet). Dort bekam er dann aufgrund seiner mangelnden Qualifikation als Holzfäller und wohl mit dem Ziel, diese Fähigkeiten im Laufe der Zeit zu vervollkommnen, auf einer Gerichtssitzung des Sonderkollegiums eine Hafterhöhung auf 8 Jahre aufgebrummt. Und so geriet er ins NorilLag.
In den Unterlagen der norilsker Fischfabrik wird Berger 1942 als gewöhnlicher
Fischer einer
der anonymen Fischkutter erwähnt, dem Jahr, in dem er an der Fangstation eintraf.
Wieviel er
am Unterlauf des Jenisej zusammenfischte ist nicht bekannt. Aber aus
irgendwelchen
Gründen weiß man auf den Tag genau, wann er dort ausgeschieden ist: am 22.
September
1943. Im Namen des großen Staates verurteilten die Inquisitoren des NKWD – der
Vorsitzende des tajmyrer Gerichts Gorochow zusammen mit den beiden Schöffen
Ananin und
Koslow, den Sohn des jüdischen Fabrikanten Josef Berger und mit ihm den
Österreich-
Deutschen Karl Friedrich Schneider (Steiner) sowie den Sohn eines weiteren
jüdischen
Angehörigen der Bourgeoisie – Georg Solomonowitsch Belezkij. Dafür, daß sie „unter
den
Häftlingen des dem NKWD unterstellten NorilLag systematisch antisowjetische
Agitation
zur Untergrabung und Schwächung der Swojetmacht betrieben hatten. 1940 war es in
Baracke N° 17 am 2. Lagerpunkt zu einer Zusammenkunft gekommen, auf der man
Verleumdungen geäußert…. und das Leben der Werktätigen in der UdSSR banalisiert
hatte“.
Schließlich – das Gruseligste: „Nach dem Überfall des faschistischen
Deutschlands ….
verbreiteten sie schädliche und verleumderische Gerüchte, äußerten sich
feindlich gegenüber
der sowjetischen Presse sowie der Macht der Roten Armee und sagten die
Niederlage der
UdSSR in diesem Krieg voraus“.
Und wieder erhöhten sie uns die Haftzeit,
die Häftlinge Wasiljew und Petrow …
Nach dem „streng geheimen Gutachten“ der Kommission, die sich aus dem Leiter für operative Tschekistenarbeit des Norilsker Arbeits- und Erziehungslagers – P-kow, dem Vorsitzenden des MGB – Oberst R-ko sowie dem Staatsanwalt des Norilsker Arbeits- und Erziehungslagers S-ko zusammensetzte, wurde 1948, nach mehrmaliger Überprüfung der Personenakte N° 21648 des I.M. Berger, beschlossen, diesen in ein Sondergefängnis des MWD der UdSSR zu verlegen. Der Kerl ließ sich nicht umerziehen! Er war und blieb ein Konterrevolutionär! Im Sondergefängnis wird man mit ihm schon in besonderer Weise verfahren!
Diese ganzen inquisitorischen Fieberphantasien wurden von uns nur deswegen auf geduldiges Papier übertragen, um zu zeigen, wie nach 21 Jahren, im Jahre 1956, das Präsidium des Obersten Gerichts der RSFSR, nachdem es wieder einmal eine geheime Sitzung abgehalten und im Protokoll die Namen der geheimen Mitarbeiter und Judenverleumder durchgelesen hatte, mit deren Hilfe tausende ähnlicher „Verfahren“ zurechtgezimmert worden waren, Josef, Karl und Georg schließlich vollends freisprach. „Angesichts sich neu ergebender Umstände“. Belezkij allerdings erlebte diesen glücklichen Tag nicht mehr. Und vor dieser Gerichtsverhandlung hatte es noch all die Jahre der Verbannung, Häftlingsetappen, Aufenthalte in Durchgangslagern in der Region Krasnojarsk und im Baikalgebiet gegeben….
An einem Oktobertag des Jahres 1956 fährt vom Weißrussischen Bahnhof ein Zug in Richtung Warschau, ins sozialistische Polen, ab; in einem seiner Waggons sitzt Josef Michailowitsch Berger, der sich auf dem Weg zurück in seine Heimat befindet. Was und wer wird ihn dort nach all den unheilvollen Jahrzehnten, dem Krieg und den vielen Opfern erwarten, wird er die Ideale seinetr Jugendzeit wiederfinden, deretwegen er mit dem Teuersten auf der Welt , das es gibt, bezahlt hat? Gott allein weiß es …. Über sein weiteres Schicksal ist uns nichts bekannt.
P.S. Wissen Sie, es fanden sich auch noch andere Helden der Geschichte der norilsker Fischfabrik. Irgendwann werde ich auch darüber berichten.
Viktor MASKIN
Foto aus dem Redaktionsarchiv
Der Autor dankt dem Museum für die Geschichte der Erschließung und Entwicklung
des Norilsker Industriegebiets für seine Hilfe und Zurverfügungstellung des
vorliegenden Materials.
„Polar-Wahrheit“26.10.2010