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Aili-Elwira Stirz (Stürz?): „Man hat uns auf den Weg des Lebens gebracht“

27. Januar – Aufhebung der Leningrader Blockade

In unserem Bezirk gibt es nur noch wenige Menschen, deren Leben für immer mit Leningrad verbunden sein sollte, vor allem aber mit der Blockade dieser Stadt während des Großen Vaterländischen Krieges. Insgesamt haben wir hier drei, welche die Blockade miterlebt haben. Eine von ihnen – eine betagte Frau mit dem Doppelnamen Aili-Elvira. Zudem trägt sie den Vatersnamen Iwanowna und den Nachnamen Stirz. In ihrem Stammbaum sind also finnische Wurzeln (das lässt sich aus dem Vornamen folgern) ganz eng mit russischen (der Vater hieß Iwan Matwejewitsch) und auch deutschen verflochten, denn sie heiratete einen Burschen, der 1941 aus der Republik der Wolga-Deutschen deportiert worden war.

Und ihre Familie lebte vor Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges unweit von Leningrad, in dem Dorf Berngardowka, Wsewoloschsker Bezirk. Jetzt befindet sich diese Ortschaft fünf Stationen mit der Vorortbahn von der nördlichen Hauptstadt entfernt. Und 500 Meter sind es dann noch bis zur Bahnlinie. In der Familie gab es drei Kinder. Aili-Elvira war die Älteste – geboren 1930. Die mittlere Schwester, Saima, wurde im darauffolgenden Jahr geboren. Und die jüngste, Irma, erblickte 1940 das Licht der Welt. Die Mutter trug ebenfalls einen Doppelnamen – Rosalia-Lilia Michailowna. Ihr Vater, Iwan Matwejewitsch, war Teilnehmer am sowjetisch-finnischen Krieg. Nach einer schweren Verwundung wurde er lange Zeit im Hospital behandelt und stellte seine Gesundheit dann bei einem Kuraufenthalt wieder her.

Nachdem die eigentlichen Kriegshandlungen begonnen hatten, begleiteten viele Bewohner der Stadt Leningrad und der Leningrader Region ihre Verwandten und Bekannten an die Front. Iwan Matwejewitsch arbeitete weiter und erhielt einstweilen keine Einberufung, keinen Mobilisierungsbescheid. Aber die tragischsten Ereignisse nahmen ihren Lauf im September 1941, als die Stadt sich im Ring der feindlichen Blockade befand. Fast gleichzeitig kam es zu Bränden und Zerstörungen der ständig bombardierten riesigen Lebensmittellager. Faktisch wurde Leningrad an den Abgrund des Überlebens gestellt. Aber trotz aller Bemühungen seitens der faschistischen Truppen die Stadt während des Winters 1941-1942 vollständig zu erobern, gelang dieser Plan nicht.

Aila-Elvira erinnert sich, dass sie und ihre Schwester Saima um vier Uhr morgens aufstanden und zum damals einzigen Laden in Berngardowka gingen, um Brot zu holen. Die Schlange der Anstehenden war endlos lang, deswegen mussten sie auch so früh aufstehen. Die Ausgabe-Norm für Brot auf Marken wurde im Winter auf 125 Gramm für jede nicht arbeitende Person gekürzt. Das ständige Hungergefühl im Magen führte dazu, dass sie, die Kinder, die Angst vollständig verloren. Einmal waren sie auf dem Heimweg, nachdem sie nach mehreren Stunden Stehens in der Warteschlange endlich das Brot für die ganze Familie in Empfang genommen hatten. Ein Mann näherte sich ihnen, hielt die Kinder an, nahm einen Laib Brot in die Hände und brach ihn entzwei. Eine Hälfte nahm er für sich, die andere gab er den beiden zurück. Aila-Elvira sagt: „Er hat uns wenigstens die Hälfte zurückgegeben; er hätte das auch nicht tun können“. Man kann sich vorstellen, welche Folgen das für die hungernde Familie unter Umständen hätte haben können.

Aila-Elvira kann sich bis heute daran erinnern, wie die völlig entkräfteten Menschen in den Straßen lagen und sich schon nicht mehr erheben konnten. Den Winter konnten sie noch durchhalten, aber gegen Ende März 1942, als der „Weg des Lebens“ über den Ladoga-See eröffnet wurde, da hat man alle Familienmitglieder hinter die Grenzen des Blockaderings gebracht. Dabei hatten sie viel Glück – das Eis war bereits brüchig geworden und brach unter dem Gewicht der Fahrzeuge ein. Und in Wahrheit wurden sie gewaltsam fortgebracht, auf administrativem Wege, weil sie eine finnische Familie waren. Aber im vorliegenden Fall bedeutete diese Ausweisung für sie die Rettung. Denn sämtliche Bewohner Leningrads und seiner Umgebung aus der Gegend fortzubringen, wäre irreal gewesen.

Als ihr Lastwagen die Eisenbahnlinie erreichte, wartete dort schon der Zug. Man verlud alle „Hungerkandidaten“ auf Güterwaggons, in denen sich Kanonenöfen befanden. Und dann setzte sich der Zug Richtung Osten in Bewegung. Lange waren sie unterwegs, mehr als einen Monat, und oft hielt der Zug an den kleinen Bahnstationen. Sie wurden nur spärlich verpflegt. Viele starben vor Hunger und Kälte, und ihre Leichen wurden, während der Zug Halt machte, aus den Waggons geholt. Unter den Toten befanden sich auch Aili-Elviras Oma mütterlicherseits sowie der Bruder der Großmutter. Sie waren Esten und hätten daher nicht mit diesem Zug fahren brauchen, aber sie hatten es vorgezogen, nicht innerhalb des Blockaderings auszuharren.

In Atschinsk blieb der Zug stehen, und man teilte ihnen mit, dass sie nun angekommen seien. Hier standen Fuhrwerke, auf die sie dann auch mitsamt ihrem spärlichen Hab und Gut verladen wurden. Der Kutscher meinte, dass sie noch bis ins Dorf Simonowo fahren müssten. Damals hielten sie obligatorisch in Simowja (Winterquartier; Anm. d. Übers.), viele Alteingesessene erinnern sich bis heute daran. Aili-Elvira ist der Ort dadurch im Gedächtnis haften geblieben, weil der Kutscher hier die Leiche eines Mannes vom Fuhrwerk heben musste, der die Blockade durchgemacht hatte – ein noch junger Bursche, der zusammen mit seiner Schwester aus Leningrad gekommen war. In Simonowo trafen sie am Morgen des 1. Mai 1942 ein, ein Haus war speziell für Leningrad-evakuierte vorbereitet worden. Später wohnte ihre Familie in der Wohnung der Kortschewnijs. Die Mutter arbeitete zuerst in der Kolchose, und später half ihr die Arbeit in der Hilfswirtschaft des 105. Reserve-Schützenregiments ganz gut weiter. Auch Aili-Elvira war dort beschäftigt, Schade nur, dass sie sich darüber keine Bescheinigung hat geben lassen. Daher kann sie ihre Berufstätigkeit während des Großen Vaterländischen Krieges nicht nachweisen. Und in ihrem Arbeitsnachweisbuch ist vermerkt, dass sie 15 Jahre als Briefträgerin gearbeitet hat.

Das Nachkriegsschicksal verstreute die Familienmitglieder in alle Himmelsrichtungen. Der Vater, der mehrere Jahre in der Trudarmee gearbeitet hatte, kehrte nach Simonowo zurück. Aber später fuhr er in die Heimat und gründete eine neue Familie. Er starb im Alter von 92 Jahren. Mama ist hier verstorben. Schwester Saima hielt sich ebenfalls im Leningrader Gebiet auf. Irma lebte viele Jahre in Litauen; vor kurzem schied sie nach schwerer Krankheit aus dem Leben. Zu guter Letzt fuhr Aili-Elvira in die Region Leningrad, um sich von ihr zu verabschieden. Die Schwestern waren zusammengekommen und hatten zehn Tage miteinander verbracht, und jetzt erinnern nur noch Fotos daran.

Aili-Elvira heiratete in der Siedlung Sagotskot (heute Tichij Rutschej) Andrej Karlowitsch Stirz. 1951 zogen sie nach Bolschoj Uluj um und bauten hier als eine der Ersten ein Haus in der Tschpajew-Straße; sie leben hier heute noch. Sie haben fünf Kinder gehabt, von denen allerdings zwei leider bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind. Deswegen mussten die Großeltern zwei Enkelinnen großziehen, Olesja und Anjuta. Große Hilfe gewährte ihnen dabei auch die Straßenbau-Behörde. Inzwischen haben beide Mädchen das Institut beendet, leben und arbeiten in der Regionshauptstadt. Olesja ist verheiratet. Den ältesten Sohn Viktor hat der Wille des Schicksals in den Bezirk Lomonossow im Gebiet Leningrad verschlagen. Am 16. August 2009 ist er 60 Jahre alt geworden, aber er arbeitet trotzdem weiter in der Kolchose. Das heißt, dass die Eheleute Stirz schon mehr als 61 Jahre zusammenleben. Aili-Elvira begeht bald ihr Jubiläum – am 25. Februar wird sie 80 Jahre alt. Wir wünschen ihr, dass sie genau so energisch und tatkräftig bleibt, wie sie es in all diesen Jahren war, und dass sie sich einer guten Gesundheit erfreuen möge.

Wladimir Uskow

Zeitung „Bote des Bolscheulujsker Bezirks“, N° 5 vom 29.01.2010


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