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In Stalins Wohnung

Warum spaltet der Führer aller Völker bis heute die Gesellschaft?

Andrej Chochlow:
Schon jetzt ist es ganz offensichtlich, daß unsere Gesellschaft wieder einmal in Gegener und Befürworter Stalins gespalten ist

Josef Stalin, der vor 57 Jahren gestorben ist, steht, was die Propaganda betrifft, tatsächlich lebendiger denn je vor uns. Sogar um Lenin ist alles irgendwie ruhig geworden, wenn man von den eher etwas trägen Aufrufen absieht, ihn aus dem Mausoleum zu befördern und auf christliche Art irgendwo auf dem Friedhof zu begraben.

In diesen Tagen wurde Moskau einmal wieder von der lautstarken Ankündigung seines Bürgermeisters Luschkow in Aufruhr versetzt, daß Stalins Porträts nun nicht nur während der Jubiläumsfeierlichkeiten zum Tag des Sieges in den Straßen hängen sollen, sondern – wenn nötig - auch in jedem anderen Moment, und zwar als Symbole der Geschichte Rußlands. Liberale und Vertreter der rechten Kräfte schlagen, in der Überzeugung, daß man den luschkowschen Charakter sowieso nicht zerbrechen kann, einen Kompromiß vor: neben den Darstellungen des Führers entweder statistische Angaben über die im GULAG Umgekommenen zu plazieren oder besonders schön leuchtende antistalinistische Bilder. Eines davon beispielsweise seine bemerkenswerte Tabakspfeife, in der winzige Menschlein glimmen („Schräubchen“, wie Josef Wissarionowitsch das sowjetische Volk in seiner Rede nach dem 9. Mai 1945 selber nannte). Auf diese Weise ist schon jetzt offensichtlich, daß unsere Gesellschaft wieder einmal in Gegner und Befürworter Stalins gespalten ist, und deswegen wird es wohl zum Mai hin in der Hauptstadt, aber vielleicht auch in anderen Städten, in denen die Obrigkeit die Absicht hat „nichts und niemanden aus der Geschichte des Landes hervorzuheben“, zu Massenaktionen und Zusammenstößen kommen. In diesem Sinne könnte es in Krasnojarsk wohl ruhig zugehen. Vor nunmehr fünf Jahren fand man im Stadtrat der Kommunisten eine 400 kg schwere Stalin-Statue, und im Frühjahr gab es eine heiße Diskussion darüber, ob man sie in der Regionshauptstadt als Denkmal aufstellen sollte oder nicht. Es gab eine Menge Lärm: auf der einen Seite – die krasnojarsker „Memorial“-Filiale, auf der anderen – alte Kommunisten und junge Anbeter des Generalissimus; aber erinnern sie sich noch, worauf sich schließlich alles beschränkte? Darauf, daß im Stadtzentrum ein paar Volontär-Soziologen beschlossen, die Bürger zu befragen, wie sie der Idee bezüglich der Aufstellung eines Bronzekopfes mit Schnurrbart gegenüberstünden. Und sie wurden von den Befürwortern des Kopfes heftig beschimpft. Anschließend gingen alle friedlich auseinander. Das Wesen der Sache liegt darin, daß keiner der Beamten, einschließlich Bürgermeister und Gouverneur, zu der Stalin-Sache irgendetwas hatte verlauten lassen, so daß mögliche Wogen im Volk von Anfang an abgeflacht und geglättet wurden. Ich weiß nicht, ob sie sich von den weisen Bemerkungen Jurij Andropows leiten ließen, die man ihnen bereits während der albanischen Ereignisse in den 1950er Jahren mitgeteilt hatte („keine Frage ist in der Lage, die Gesellschaft derart zu zersplittern, wie die Frage in puncto Stalin“), aber Gott sei Dank bereitet uns das Problem der Porträts des besten Freundes aller Sportler einstweilen überhaupt keine Sorgen.

Allerdings heißt dies keineswegs, daß unsere Region weit von den Leidenschaften des Personenkults und der Überwindung seiner Folgen entfernt ist. Erstens – gibt es auch in der Region Krasnojarsk genügend Stalinisten, darunter solche, die sich innerhalb der Machtstrukturen befinden – und das Porträt des Führers hängt beispielsweise deas ganze Jahr hindurch in einem der Deputiertenkabinetts; zweitens bildet die Region als Örtlichkeit für Zwangsarbeit und Verbannung aus sich selbst heraus schon ein Dilemma – rechtfertigen große Ziele denn eine so große Anzahl von Opfern? Und so weiter. Es macht daher durchaus Sinn, auch noch 57 Jahre danach darüber zu sprechen. Hier gibt es einfach viel zu viele erhalten gebliebene Denkmäler aus Stalins Zeiten: „die Todesstraße“ Salechard-Igarka., die Überreste des Führer-Pantheons am Unterlauf des Jenisej und nicht zuletzt die Gräber des KrasLag.

Für den Anfang möchte man gern den gängigen Mythos darüber wiederlegen, daß Stalin, wie kein anderer, eine widersprüchliche Gestalt in der vaterländischen Geschichte ist. Versuchen Sie mir einen einzigen Staatschef zu nennen, der ausschließlich Anhänger oder Gegner hat.
Sie alle, einschließlich Katharina die Große in ihrem goldenen Zeitalter, haben buchstäblich die Gesellschaft zum Glühen gebracht – Leute, die mit der Staatsmacht unzufrieden waren, hat es immer gegeben. Eine andere Frage wäre die, inwieweit eine solche Spaltung krankhaft ist. Nehmen wir einmal Peter I. – er ist als erster Modernisator Rußlands bekannt geworden und hat durch gewaltsame Todesfälle auf Großbaustellen, in Kriegen sowie durch alle menschlichen Kräfte übersteigende Schwerstarbeit jeden fünften Einwohner des Imperiums ins Jenseits befördert. Nikolai I, der ebenso versessen auf Ordnung und eine allgemeine Rangordnung war wie Stalin (und übrigens reagierte er immerhin mehr als 30 Jahre), verstand es nicht nur, die Gesellschaft in die Kasernen zu treiben, sondern auch die Massenpsychologie in Richtung auf eine masochistische Paranoia zu zerbrechen. (Kuprins Erzählung „Der Zarenschreiber“, wo ein im Ruhestand befindlicher Kanzleischreiber sich mit Tränen der Rührung daran erinnert, wie man ihn für jeden falschen Schnörkel in den Dokumenten prügelte und schlug, illustriert diese Zeit in einleuchtender Weise). Im übrigen gibt es zwischen Nikolaj Palkin und Stalin viel zu viele historische Parallelen, als daß man Josef Wissarionowitsch einen einzigartigen Führer nennen könnte. Einzigartig ist da wohl eher die Gesellschaft, von der ein Teil nach dem Abgang des Tyrannen die schmerzhafte Wonne aufgezwungener Erinnerungen erfährt.

Nichtsdestoweniger gibt es in der Stalinzeit ein nicht wiederholbares, und wollen wir hoffen nicht wiederkehrendes Merkmal. Der Generalsekretär der Partei war wohl seit der Zeit der ägyptischen Pharaonen in beiden Personen vereint. Der eine Stalin – ein lebhafter Mann von kleinem Wuchs, mit einer verletzten Hand, leichten Pockennarben und dem charakteristischen kaukasischen Akzent. Der andere Stalin – eine Gottheit, angesiedelt in den Köpfen etlicher Millionen Untertanen, dargestellt, gepriesen, verfilmt, genial und unsterblich. Eine Episode aus dem Leben seiner Familie: der kleine Wasja Stalin, der mal wieder etwas angestellt hat, hört sich die wundersame Belehrung des Vaters an: „Du denkst wohl, du bist Stalins Sohn und kannst dir alles erlauben? Nein. Der dort – der ist Stalin“. Und mit diesen Worten zeigt Josef Stalin auf sein eigenes Portrait, das aus irgendeinem Grunde auch bei ihm zuhause hing. Das könnte man natürlich als eine ganz gewöhnliche Fabel werten, aber es gibt darin eine ernsthafte Bestätigung für die beabsichtigte Autoreligiosität des Führers – als Stalin in einer Unterredung mit Lion Feuchtwanger auf die Frage des Schriftstellers nach den vielen Porträts des „Mannes mit dem Schnurrbart“ antwortet, schlägt er bekümmert die Hände über dem Kopf zusammen – das ist wohl für diesen Moment unbedingt nötig, und zudem hassen ihn die Arbeiter und Bauern oder sie lieben ihn unbändig. Es war wohl so, daß der Generalissimus beschlossen hatte, den eigenen Personenkult praktisch für das Tempo beim Wirtschaftsaufbau zu nutzen, damit die Menschenmassen weniger Schmerzen erfuhren und die Erschwernisse der vielstündigen Lagerarbeit leichter ertrugen. Gründe dafür gab es mehr als genug. Während der gesamten Regierungszeit Stalins befand sich die UdSSR entweder im Krieg oder am Rande des Krieges; und nach den elementaren Gesetzen der Selbsterhaltung war der Führer einfach verpflichtet, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, indem er Armee, Industrie und Geheimpolizei verstärkte. Es gibt charakteristische Fakten. Am Vorabend der anstehenden Prozesse der 1930er Jahre gegen Jagoda, Bucharin und andere „Volksfeinde“ wurden die Gehälter der NKWD-Mitarbeiter gleich um das Vierfache erhöht; in jeder territorialen Behörde gab es bei den Tschekisten eine „Sonder“-Abteilung, welche die Arbeit der gewöhnlichen Abteilung kontrollierte, während die „Sonder“-Abteilungen von den „Spezial“-Abteilungen überwacht wurden. Nikolaj Iwanowitsch Jeschow, der Jagoda auf dem Posten des Volkskommissars für innere Angelegenheiten ablöste, wandte sich an die Bevölkerung mit der bemerkenswerten Losung: „ Jeder Sowjetmensch ist eine Mitarbeiter des NKWD!“ All das geschah zweifellos mit dem Wissen und Einverständnis Stalins. Und diejenigen, die heute fordern, daß man die Porträts des Führers überall wieder aufhängt, vergessen ein wenig den Satz Dantons: „Jede Revolution verschlingt ihre Kinder“. Das ist nur ein Detail aus jenen Jahren.

„…. Der Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (Bolschewiken) der Ukraine – P.P. Postyschew – hatte einige Mühe, als er die ukrainischen Nationalkader noch in den Jahren 1932-33 vernichtete. 1937 schickte er dem NKWD-Bevollmächtigten in der Ukraine, W.A. Balizkij, dutzende Listen mit hunderten von Namen völlig unschuldiger Menschen. Im März 1937 wurde Postyschew wegen „mangelnder Wachsamkeit“ seines Amtes enthoben. Da er noch Anwärter auf die Mitgliedschaft im Politbüro des ZK der WKP (B) war, wurde er als Sekretär dem kujbyschewer Partei-Regionalkomitee zugewiesen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 wurde die Region Kujbyschew, die damals auch Mordowien umfaßte, in einer zuvor nie dagewesenen Art und Weise von „Volksfeinden gesäubert“. Dabei wurden fast alle regionalen Organisationen vernichtet und die Leiter aller 110 Bezirkskommissariate verhaftet. Unter der Leitung Postyschews fand in Kujbyschew ein „offener“ Prozeß gegen die „Schädlinge“ aus den regionalen Selbstverwaltungsbehörden statt, nach dem hunderte von Arbeitern der Landwirtschaft verhaftet wurden.Nachdem Postyschew die Gerichtsurteile bekommen hatte, verlangte er nicht selten die Erschießung in all den Fällen, in denen Staatsanwalt und Ermittlungsrichter es für möglich befunden hatten, die Haft auf 8 oder 10 Jahre zu beschränken. Als die Region „gesäubert“ war, holte man Postyschew von seinem Arbeitsplatz, schloß ihn aus dem Personalbestand des Politbüros „wegen Vernichtung der Kader“ aus und verhaftete ihn kurzerhand; anschließenmd wurde er erschossen. (Roy Mewdedjew, „Über Stalin und den Stalinismus“.)

… Der Eindruck läßt einen nicht los, daß nämlich die Gesellschaft immer noch in Stalins Wohnung lebt. Monumental, aber baufällig, mit hohen Zimemrdecken, die man irrtümlich für stabil hält, aber in deren Ecken sich bereits der Schimmel breitmacht.


Staatlicher Maßstab
Persönlichkeit oder Funktion
Die Zeit bringt Helden hervor – und Antihelden ebenfalls .

Wjatscheslaw Sasypkin:
Stalin ist heute unmöglich. Welche Ideologie zwingt heute die Russen jene Opfer zu bringen, die sie auch in den 1930er und 1940er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebracht haben?

Stalin hatte Glück. Die Geschichte kennt nicht wenige Herrscher und Führer mit paranoiden Neigungen Aber nur wenige von ihnen hatten die Gelegenheit, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.

Und das Ausmaß der Veränderungen, die in Rußland im 20. Jahrhundert vor sich gingen, ist riesengroß. Und auch Winston Churchills Worte darüber, daß Stalin Rußland mit dem Hakenpflug aufgenommen und mit der Atombombe verlassen hat, charakterisieren kurz und knapp diesen Maßstab. Aber hier taucht nun eine gesetzmäßige Frage auf: war es denn wirklich unausweichlich, daß alles ausgerechnet SO geschehen mußte? Mit dem Terror der Revolution, mit den Schauprozessen gegen Volksfeinde, den Urteilen der „Trojkas“ und millionenfachem „Lagerstaub“?

Man kann nicht sagen, daß Rußland eine reiche Auswahl an Möglichkeiten zur Verfügung hatte. Heute wird mitunter daran gedacht, daß das Land im letzten Jahrzehnt vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs vom Entwicklungstempo her an dritter Stelle der damaligen Welt lag. Und wäre doch dieser unglückselige Krieg nicht gewesen! Warum mußte denn auch das russische Imperium den Serben zu Hilfe kommen? Um so mehr zahlten die slawischen Brüder dafür mit finsterer Undankbarkeit ….

Dem Krieg konnte man wohl kaum entrinnen. Denn dem Jahre 1914 gingen einige Krisensituationen voraus, und der Krieg hätte eigentlich auch schon früher beginnen können. Beispielsweise 1911, nach der Krise von Agadir. Die Logik der Entwicklung warf Deutschland in den Kampf um den Absatzmarkt für die stürmisch aufstrebende Ökonomie. Und in dieser Eigenschaft war es Feind sowohl des hochindustrialisierten Englands, als auch Frankreichs und Rußlands, dessen Markt es sich unterordenen wollte. Es genügt sich daran zu erinnern, daß Deutschland, indem es sich die Erschwernisse, die während des Russisch-Japanischen Krieges und der 1. Revolution entstanden waren, zunutzte machte, der Regierung Nikolaus II das Einverständnis aufzwangt, seine (deutschen) Waren zu importieren. Rußland war sogar gezwungen, deutsches Getreide aufzukaufen, obwohl es zu jener Zeit selber großer Exporteur von Lebensmitteln war.

Es lohnt sich, gründlich darüber nachzudenken, daß, wäre nicht Samsons und Rönnekamps Korps in Ost-Preußen vernichtet worden, sehr wohl die Möglichkeit bestanden hätte, daß die deutschen Armeen, in voller Übereinstimmung mit Schlieffens Plan, Frankreich vernichtet hätten. Und dann hätte Rußland ganz allein gegen einen vielfach stärkeren Gegner dagestanden. Das heißt – das Land konnte einfach nicht umhin, am allgemeineuropäischen Krieg teilnehmen, denn sonst hätte es seine Lebensinteressen gefährdet. Aber auch in den Krieg eingreifen konnte Rußland eigentlich nicht! Und zwar nicht aufgrund seiner ökonomischen Rückständigkeit. Der wirtschaftliche Ruck der Vorkriegsjahre ging einher mit einer tektonischen Verlagerung in der Gesellschaft. Vor allem spaltete sich die unteilbare Monarchie in Strömungen, Bewegungen, Gruppierungen und Grüppchen. Der Umbaui hatte gerade erst begonnen – die alten Pfeiler faulten bereits und neue gab es nch nicht. Und wenn man ersteres fast überall wahrnahm – alle fanden die Selbtherrschaft als störend, so befanden sich die neu aufgetauchten Wohlerbauer des Landes im Hinblick auf die eigenen Möglichkeiten im Irrtum. Was das Jahr 1917 dann auch bewies.

Im Augenblick des Zerfalls der Monarchie brach die Zeit gleicher Möglichkeiten herein. Aber es siegte die Gruppe, die folgende Trümpfe in der Hand hielt: eiserne innerparteiliche Disziplin, vollständige politische Prinzipienlosigkeit (was ein Brester Abkommen nur wert ist) und Kompromißlosigkeit im Kampf gegen Feinde. Und Stalin war im Sinne der Anwendung dieser Parteipraxis ein vollkommen Orthodoxer. So entsprach zum Beispiel der Molotow-Ribbentrop-Pakt völlig dem Stil des Brester Abkommens. Offenbar gestattete diese Orthodoxizität es Stalin auch, sich in jedem beliebigen Augenblick im Zentrum zu befinden, weiter von den einstürzenden Randgebieten entfernt. Indem er dort selber ein Vertreter „der schweigenden Mehrheit“ war, begriff er nur allzu gut die Kraft dieser Mehrheit im Kampf gegen die glänzenden Führer. Und er bezwang sie – einen nach dem anderen.

Eigentlich ist Stalin noch nicht einmal eine Persönlichkeit. Er ist eine Erscheinung, die sich zusammen mit den historischen Gegebenheiten veränderte.

Mehr oder weniger ruhig gehen die 1920er Jahre ihrem Ende entgegen. Die Welt wird von der Großen Depression erschüttert. Deutlich wahrnehmbar ist das Herannahen jenes Krieges, der dort einen Punkt markieren wird, wo im Jahre 1918 in Versailles Auslassungspunkte zurückblieben. In Deutschland kommt Hitler an die Macht, man beginnt mit dem Bau von Konzetrationslagern, entscheidet die „Judenfrage“; die Armee wird wiedergeboren. Aber auch in der UdSSR nimmt die NEP (Neue Ökonomische Politik; Anm. d. Übers) eine Wendung, es beginnt eine beschleunigte Industrialisierung (und Militarisierung); das System des GULAG wird errichtet. Und der Stalin der 1930er Jahre ist bereits nicht mehr der Stalin der 1920er Jahre. Es kommen die schrecklichen 1940er Jahre, und der Führer aller Zeiten und Völker verändert sich ein weiteres Mal, indem er die Funktion des Vaters des Vaterlandes auf sich nimmt. Und selbst Sir Winston Churchill, ein hartgesottener Politiker und konsequenter Feind der Sowjets, kann Stalin seine Größe in dieser Rolle nicht absprechen.

Es zeugt von einer großen Geschicklichkeit – sich im Zentrum zu befinden, in und auch mit der Mehrheit zu sein. Interessant, daß in den Biographien des Führers, die sowohl von seinen Befürwortern, als auch von seinen Gegnern geschrieben wurden, des Rätsel um Stalins Persönlichkeit einen beträchtlichen Platz einnimmt. Unter anderem auch deswegen, weil diese Persönlichkeit auf dem alltäglichen Niveau nicht sonderlich interessant ist, ebenso wie auch die theoretischen Erforschungen des Führers, die eher an eine Kathechese erinnern, vor allem Langeweile hervorrufen. Sie dienen nicht zum Nachdenken, sondern zum Einpauken. Aber vielleicht gibt es hier auch gar kein Rätsel, wenn man Stalin als reinen Funktionsmenschen betrachtet. Übrigens weist man Stalin oft die Schuld zu, er habe die Mensche4n als Schräubchen bezeichnet. Anders gesagt, als funktionale Elemente, die sehr leicht ersetzt werden können. Aber liegt in dieser Definition des obersten Führers irgendeine Verachtung? Es ist möglich, daß der Generalsekretär auch sich selber für ein solches Schräubchen hielt. Vielleicht das wichtigste, aber prinzipiell nicht von den anderen zu unterscheiden. Und als Mitstreiter wählter er sich gesichtslose Funktionäre aus. Oder Leute, die ihm zumindest als solche erschienen.

Möglicherweise werden die Historiker der Gegenwart irgendwann aufhören, die großen Kriege des 20. Jahrhunderts als zwei verschiedene zu betrachten und sie stattdessen zu einem ein halbes Jahrhundert umfassenden Zeitraum weltlicher Kataklysmen mit einer 20-jährigen Unterbrechung vereinen. Wenngleich es im Großen und Ganzen eigentlich überhaupt keine Unterbrechung gab. Es gab eine ganze Anzahl kleinerer Kriege, angefangen mit dem griechisch-türkischen und endend mit dem Bürgerkrieg in Spanien Die Zeit einer grausamen Umgestaltung der Welt, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges global wurde. Die im ersten Krieg unentschiedenen gebliebenen Konflikte ließen in den Ländern, die eine Niederlage erlitten hatten (und dazu gehören gerechterweise sowohl Deutschland, als auch Rußland) Regime entstehen, deren Hauptaufgabe die Revanche war. Und wenn im mononationalen Deutschland der Nationalsozialismus triumphierte, so war es im multinationalen Rußland – der Bolschewismus, der die Seinen und die Feinde nicht nach dem National-, sondern nach dem Klassenprinzip unterschied. Es ist ganz offensichtlich, daß jede beliebige Ideologie, die ein Feindbild aufgebaut hat, früher oder später zur Praxis der Lagerinhaftierung und Todesstrafe führt. Augenscheinlich kann die Gesellschaft ohne diese
Ideologisierung nicht auskommen. Und sobald Nikita Chruschtschow die Methoden des Führers aller Zeiten und Völker der Kritik unterzog, da begann die Ideologie auch gleich Rost anzusetzen.

Im wesentlichen war es gerade Chruschtschow, der dem Aufbau den Todesstoß beibrachte, denn weder das Verschweigen zu Breschnjews Zeiten, noch die Versuche , die Repressionsmethoden zur Regierungszeit Andropows zu restaurieren, konnten irgendwelche Anderungen bewirken. Und hier ist es nun interessant, daß Chruschtschow die ideologischen Grundlagen keineswegs in Zweifel zog. Er sprach lediglich vom Personenkult. Aber wenn es eine Persönlichkeit gibt – dann gibt es auch eine Funktion, wenn es eine Persönlichkeit gibt – dann gibt es auch ein wichtigstes Schräubchen, und dann findet auch alles in vollem Umfang seine Erklärung.

Von hier aus kann man zum Thema „Stalin heute“ überleiten. Es ist kein Geheimnis, daß viele die Nostalgie der harten Hand des Führers wahrnehmen. Aber man denkt, daß Stalin in heutiger Zeit nicht möglich wäre. Denn ohne Ideologie macht er einfach keinen Sinn. Und welche Ideologie zwingt heutzutage die Russen, jene Opfer zu bringen, die in den 1930er und 1940er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebracht wurden? Bisher hat man nichts erfunden, was dem Marxismus gleichkommt. Das Maximum des Möglichen wäre ein Militär- und Polizeistaat. Aber wie die Praxis, unter anderem auch die russische, zeigt, ist ein solcher ökonomisch nicht konkurrenzfähig… Obwohl die Wahrscheinlichkeit der Realsierung eines solchen Szenarios in Rußland nicht ausgeschlossen ist – für den Fall, daß die Reformen endgültig in einer Sackgasse landen. Ist es nicht das, wovon die heutigen Verehrer Josef Wissarionowitschs träumen? Übrigens befinden sich unter ihnen ganz unterschiedliche Menschen. Von Rentnern, die während der sozialen Transformationen mehrfach beraubt wurden, bis hin zu Leuten, die in derselben Zeit nicht wenig Kapital angehäuft haben. Und wenn erstere von sozialer Gerechtigkeit träumen, so träumen letztere von „Ordnung“. Schließlich gibt es noch diejenigen, die mit Stalins Namen den Triumph Rußlands im 20. Jahrhundert verbinden. Vor allen Dingen den großen Sieg, dessen 65. Jahrestag wir in diesem Jahr feiern werden. Aber es ist der Sieg eines Volkes, das in der Lage war große Heerführer und standhafte Soldaten hervorzubringen. Der Sieg wurde nicht dank, sondern trotz des „Genies aller Zeiten und Völker“ gewonnen. Friedrich dem Großen, einem außergewöhnlichen Feldherren, wird der bedeutende Satz zugeschrieben: „Den russischzen Soldaten kann man nicht einfach töten, man muß ihn auch noch umstoßen, damit er zu Fall kommt!“ Diese Eigenschaft trug dazu bei, daß Rußland standhielt.

„Stadt-Neuigkeiten“, N° 34 (2135), 12.03.2010


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