Die Nachfahren dieser bekannten Dynastie sind schon nicht mehr am Leben
Die alten Häuser, die in den Hauptstraßen Krasnojarsks stehen, ziehen die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner möglicherweise schon nicht gar mehr an. Die meisten von ihnen sind verfallen und unbewohnbar. Allerdings sind, diese Denkmäler aus alten Zeiten, wie Spezialisten sagen, äußerst wertvoll für die Regionshauptstadt. Gerade sie erzählen der heutigen urbanisierten Gesellschaft davon, was in der sibirischen Stadt vor ein paar hundert Jahren geschah. Heimatkundler fügen hinzu: hinter jedem Fensterflügel eines alten Gebäudes verbirgt sich das Schicksal eines in der Vergangenheit bekannten Stadtbürgers. Eine Geschichte, an die die heutigen Krasnojarsker überhaupt nicht denken.
Das hölzerne Haus an der Karl-Marx-Straße 24 ist in den Verzeichnissen der Architektur-Denkmäler als „typisches Gebäude der städtischen Wohnhaus-Bebauung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts“ vermerkt. Errichtet wurde es im Jahre 1840 als „Musterprojekt“. Heute sind in dem Haus verschiedene Firmen und Architektenbüros untergebracht, aber damals, vor fast zwei Jahrhunderten, gehörte das Anwesen dem in Krasnojarsk bekannten Beamten von Eserskij.
Woher dieser Familienname nach Sibirien kam, ist nicht genau geklärt. Heutige Heimatkundler können lediglich von einer Familie erzählen, die einst in dem Haus wohnte.ö Zudem heißt es, dass der letzte Spross des von-Eserskij-Geschlechts – Nikolaj Nikolajewitsch – in seiner Kindheit keine Ahnung von seinem elterlichen Nest hatte, aber sorgsam den Degen seines Großvaters und die Familienfotos aufbewahrte. Seiner Familie widerfuhr das Schicksal aller bedeutenden Angehörigen der Intelligenz, welche in die Mahlsteine der Revolution und des stalinistischen Regimes gerieten. Unlängst ist auch er aus dem Leben geschieden. Damit gibt es nun aus der einst in der Stadt bekannten Dynastie keine Abkömmlinge mehr.
- Ich sammele bereits seit mehr als zwanzig Jahren Informationen über bekannte Krasnojarsker, die in den 1930er Jahren Opfer der Repressionen wurden, - berichtet die Heimatkundlerin Marina Wolkowa. – Seit 22 Jahren existiert in der Stadt die „Memorial“-Gesellschaft. Einmal kam zu uns ein Mann, welcher von den von-Eserskijs abstammte. Ich interessierte mich für seine Geschichte und begann Informationen über seine Familie zu sammeln.
Marina Georgiewna berichtet, wie sie in den Archiven des FSB tätig war und schließlich, während sie sich beharrlich an die kleinsten Bröckchen wertvoller Angaben klammerte, in alten Zeitungen Angaben über die von Eserskijs fand. Unter anderem machte sie ein Foto des ersten Bewohners des Hauses in der Marx-Straße 24 ausfindig (früher war das die Gostinaja-Straße 22 gewesen) und erfuhr, wie es mit der einst so bekannten Dynastie zu Ende ging.
Der erste Herr des Hauses (der es auch als „Musterprojekt“ für seine zahlreiche Familie erbauen ließ) – diente Nikolaj Aleksandrowitsch; mehr als dreißig Jahre, bis 1915, auf einem Jenisejsker Staatsposten – vom Amt des Sekretärs (im Rang eines Kollegien-Assessors) arbeitete er sich hinauf bis zum Schatzmeister. Er beendete seine Dienstlaufbahn als Staatsrat. In jenen Jahren kam dieser Rang dem eines Generals gleich und gab einem das Recht auf den persönlichen Adelsstand. Für die Erfolge während seiner Amtszeit erhielt der Beamte die Orden der Heiligen Anna 3. Grades sowie des Heiligen Stanislaus 2. Grades verliehen. Insgesamt hatte er sieben Kinder zu ernähren – seine Söhne Nikolaj, Viktor, Konstantin, Anatolij, Wladimir und die Töchter Sinaida und Jelena.
- Als ich dabei war, Informationen über die Familie zu sammeln, habe ich mich extra in dieses Haus begeben, - erzählt Marina Wolkowa. – Auf den ersten Blick sieht es klein aus, aber es ist auf eine Art und Weise gebaut, dass die ganze große Familie damals Platz darin finden konnte. Als zweite Etage wurde ein kleines, helles Zimmerchen für die Mädchen angebaut. Dort wohnten die Töchter, die auch nie heirateten.
Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurde ein zweigeschossiger Flügel zu dem hübschen Haus hinzugebaut – außerdem ein Pferdestall, eine Badehaus, Kellerräume und Speicher. In den zwanziger Jahren verloren die von Eserskijs einen großen Teil ihres Besitzes, und Anfang der 1930 er Jahre wurde das Haus konfisziert, wobei man der Familie allerdings insgesamt zwei Zimmer zur Verfügung ließ.
Der älteste Sohn – Nikolaj Nikolajewitsch - hatte damals bereits mit Auszeichnung das Jenisejsker Gymnasium und die medizinische Fakultät an der Tomsker Universität absolviert. Die Heimatkundlerin vermutet, dass der junge Mann bereits während seiner Studienzeit der Partei der Sozial-Revolutionäre beitrat und damit der Studentenmode jener Zeit Tribut zollte.
Das Jahr 1916. Es herrschte Krieg, und Nikolaj Nikolajewitsch wurde in die Armee, zur medizinischen Truppe, einberufen. An die Front wurden auch seine Brüder Konstantin und Viktor (der zusammen mit dem Vater im Staatsdienst gestanden hatte) geschickt. Am Abend vor der Abfahrt zum Kriegsdienst begaben sich alle drei zum Fotografen. Wie die Heimatkundlerin sagt, war es die letzte gemeinsame Aufnahme der älteren von Eserskijs.
Die Brüder brauchten nicht lange kämpfen. Die Revolution brach aus und anschließend der Bürgerkrieg. Gerade erst waren sie nach Hause zurückgekehrt, da wurden sie auch schon wieder mobilisiert. Und diesmal kamen sie in die Koltschak-Armee. Konstantin fiel irgendwo in der Nähe von Minusinsk. Viktor war Schriftführer einer Batterie. Nikolaj wurde wieder ins Lazarett geschickt. Und auch der jüngste Bruder von Eserskij, Anatolij, zollte dem Armeedienst seinen Tribut. Nach Koltschaks Vernichtung kehrten die Brüder nach Hause zurück.
Nikolaj Nikolajewitsch begann zusammen mit seiner Ehefrau Anna Wasiljewna (welche die Feldscher- und Hebammenschule absolviert hatte), als fahrender Arzt zu arbeiten.
- Leider sind die medizinischen Archive jener Jahre nicht erhalten geblieben, - sagt Marina Georgiewna. – Aber es ist mir gelungen, die monatlichen Rechenschaftsberichte zu finden, die Nikolaj Nikolajewitsch für das Jahr 1925 schrieb. Darin beschreibt er in allen Einzelheiten, welche Kranken er besuchte und welche Diagnosen er stellte. Jeden Monat unternahm der Arzt 250-360 Fahrten, und in den 1930er Jahren verband er die Reisen mit ärztlichen Tätigkeiten in den Polykliniken. In den Jahren galt er als Koryphäe des lokalen Gesundheitswesens. An ihn wandte man sich in besonders schweren Fällen zur Konsultation.
In seiner Familie gab es bereits zwei Söhne – Jewgenij und Nikolaj, - als der Massenterror auch die von Eserskijs erreichte. Der Arzt Nikolaj Nikolajewitsch wurde im Februar 1938 nach alten Listen der Sozial-Revolutionäre verhaftet und angeklagt: Mitwirkung in terroristischen Organisationen, d8ie angeblich den Sturz der Sowjetmacht, Spionage- und Terrorakte vorbereitet hätten. Zwei Monate später wurde er erschossen. Damals tauchten in der Akte die Nachnamen vieler in Krasnojarsk bekannter Ärzte auf – Kuskow, Olofinskij, Aisenberg, Sakun. Wenige Monate später verhafteten und erschossen sie auch Viktor von Eserskij. Nur der jüngste Bruder Anatolij, der aus seiner Heimatstadt geflohenen war, kam davon. Nach Nikolaj Nikolajewitschs Verhaftung konfiszierte man bei den von Eserskijs noch ein weiteres Zimmer. Das einstige Kabinett des praktischen Arztes nahm ein neuer Bewohner ein – er war NKWD-Mitarbeiter. Nikolajs Mutter, seine Ehefrau, beide Schwestern und die Söhne lebten eng zusammengepfercht in dem anderen.
Die jüngsten Geschwister der von Eserskijs hatten keine Kinder. Nach der Verhaftung des Vaters starb Nikolaj Nikolajewitschs ältester Sohn Jewgenij. Nur der jüngste – Nikolaj – blieb übrig…
Regina Dubowa
„Stadt-Neuigkeiten“, N° 38 (2139), 19.03.2010