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Aus dem faschistischen Lager in die - Verbannung

Menschliche Schicksale

Seit 40 Jahren lebt Julia Iwanowna Gilderman(n( in Bolschije Prudy. Im November letzten Jahres wurde sie 93 Jahre alt. Trotz der harten Schicksalsherausforderungen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges waren ihr Ärzte bis zu ihrem 90. Lebensjahr gänzlich unbekannt, und sie konnte sich über ihre Gesundheit nicht beklagen.

Als der Krieg ausbrach, wohnte Julia Iwanowna mit ihren zwei kleinen Kindern in der Ukraine, im Gebiet Schitomir, in der Ortschaft Grintal (Grünthal), heute Seljonaja Poljana (Grüne Lichtung; Anm. d. Übers.). Sie arbeitete als Melkerin in der Kolchose. Ihren Ehemann Woldemar Robertowitsch Doberstein holten sie 1939 in die Arbeitsarmee, als der jüngste Sohn das Licht der Welt erblickte. Ohne ihm zu gestatten sich noch von den Angehörigen zu verabschieden, transportierten Leute in Militäruniform ihn mit unbekanntem Ziel ab. Nachdem Julia Iwanowna mit 23 Jahren allein zurückgeblieben war, sollte sie ihren Mann auch nie mehr wiedersehen; nicht einmalüber sein Schicksal sollte sie etwas erfahren.

Die Erinnerung an die Jahre der faschistischen Okkupation muten wir ein schrecklicher Traum an. Doch das war erst der Anfang der Qualen, die auf das Los der Familie entfielen. Im Januar 1944 fingen die Deutschen an, aus diesem Gebiet der Ukraine zurückzuweichen. Die jungen Dorfbewohner, die noch am Leben geblieben waren, wurden nach Deutschland verschleppt. Den langen Weg durch Polen legten sie zu Fuß zurück, gelegentlich fuhren sie auf einem Fuhrwerk mit. Viele ertrugen die mühselige Reise nicht. Vielleicht hätte manch einer sich auch den Tod gewünscht, wenn er gewusst hätte, was ihn noch erwartete.

Der endgültige Bestimmungsort – ein Lager in der Stadt Eisleben. Und trotzdem war das Schicksal Julia gnädig, wie paradox das auch klingen mag. Man bestimmt sie nicht fürs Lagerleben, nicht für die Arbeit in einer Fabrik, sondern als Arbeiterin bei einem betagten, reichen Deutschen. Sie erledigte dort ungelernte Arbeiten im Haus, schuftete auf dem Feld. Auch wenn sie von früh bis spät mit krummem Rücken auf den Beinen war, gingen die bestialischen Handlungen der Faschisten zumindest an ihr vorüber. Aber ihre Seele war krank vor Sorge um die Kinder – der fünfjährige Willi und der achtjährige Ewald befanden sich im Lager. Das mütterliche Herz zerriss in Stücke, als es ihr aus der Ferne gelang, die abgezehrten Söhnchen zu sehen. Sie betete für ihre Rettung.

Willadij Wladimirowitsch Doberstein (bei der Ausstellung des Ausweises „übersetzten“ die Mitarbeiter der Pass-Behörde den deutschen Namen des Vaters) erinnert sich sehr dunkel an diese Zeit, als er noch ein kleines Kind war. Aber offensichtlich ist ein kindliches Gedächtnis insofern gut, als es die negativen Momente des Lebens ausradiert. Über jene Ereignisse könnte Ewald Wladimirowitsch etwas erzählen, doch leider wurde Julia Iwanownas älterer Sohn vor einigen Jahren beerdigt.

Im zeitigen Frühjahr des Jahres 1945 kamen die Amerikaner in die Stadt. Zuerst befreiten die Alliierten die gefangenen Serben und Polen; die Russen waren zuletzt an der Reihe. Der reiche Herr wanderte aus Furcht vor Gewaltakten der Sowjet-Armee auf einen anderen Kontinent aus. Julia, in vollen Zügen die frische Aprilluft einatmend, dachte, dass nun das Ende ihrer Seelenqualen gekommen sei, und träumte von der Rückkehr in die Heimat. Aber das Schicksal entschied anders – ihr Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.

Für die Überprüfung der Dokumente aller ehemaligen Gefangenen hielt man die Seinen nun schon mehrere Monate in einem Filtrationslager fest. Sie überprüften die Angaben darüber, wo sie tätig waren und ob sie mit den Faschisten zusammenarbeiteten. Aus dem Barackenfenster sah Julia auch das feierliche Maifeiertagsschießen. Nur gab es in ihrem Herzen in jenem Augenblick keine Glücks- und Freiheitsgefühle. Und die bitteren Vorahnungen waren nicht umsonst.

Kompromittierendes Material über Julia Doberstein fanden die NKWD-Mitarbeiter nicht. Trotz dieses Umstandes wurden sie und ihre Söhne, ebenso wie viele andere Menschen deutscher Nationalität, welche das volle Leidensprogramm in Deutschland abbekommen hatten, im Januar 1946 per Direktive des NKWD vom 11.10.1945 aus nationalen Gründen nach Sibirien in die Verbannung geschickt.

Zuerst arbeitete sie in einer Kalkfabrik in Bolschaja Murta, später in einer Glasfabrik unweit von Krasnojarsk.

Es kam das Jahr 1953. An einem bestimmten Tag eines jeden Monats mussten die Verbannten sich in der Kommandantur melden. Und an einem dieser Tage flüsterte einer der Landsleute, der erst vor kurzem aus dem Sewero-Jenisseisker Bezirk in die Glasfabrik gekommen war, Julia heimlich zu, dass er ihre Mutter gesehen habe; sie wäre am Leben und nach dem Krieg ebenfalls verfolgt worden.

Ganze zehn Jahre lang bekamen sie voneinander keinerlei Nachrichten. Und nach einer so langen Zeit harter Schicksalsherausforderungen hegten Mutter und Tochter auch schon keine Hoffnung mehr sich jemals wiederzusehen.

- Der Herr ist gnädig, - wiederholte die junge Frau.

Wie sehr hätte sie hier, in der Fremde, die Hilfe und Unterstützung eines Familienangehörigen gebrauchen können! Doch die Gesetze jener Zeit waren grausam. Von einer Wiederbegegnung konnte überhaupt keine Rede sein; für eigenmächtiges Verlassen des Territoriums drohte den Verbannten eine Lagerstrafe. Erst drei Jahre später konnten sie sich endlich wieder in die Arme fallen.

Willadij Wladimirowitsch mag sich nicht gern an seine Kindheit erinnern.

Mitunter hatten sie ein – zwei Tage nichts zu beißen. Die von uns Kindern am meisten herbeigesehnte Jahreszeit war der Frühling. Neben den Bäumen der Taiga taute der Schnee, und wir gruben gierig Wurzeln, junge Schösslinge der Türkenbundlilie aus. Und den zarten Geschmack der Kiefernmilch werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Keine Süßigkeit der Welt kann man damit vergleichen.

Um nicht vor Hunger zu sterben, begann Willadij nach der Sechsten Klasse in der Glasfabrik z arbeiten, wo die Verbannten Lampenglas, Laternen und Geschirr produzierten. Innerhalb von drei Jahren wurde er Meister. Er erlernte die Beruf eines Metallurgen, Monteurs und Fensterbauers. Mit 17 Jahren teilte man dem Bürschchen Wohnraum zu; 1958 händigten sie ihm einen Ausweis aus und beriefen ihn zum Militärdienst ein. Als er zurückkehrte, ließ sich die Familie in Istok nieder. Dort erlernte Willadij das Drechsler-Handwerk. Er heiratete ein deutsches Mädchen aus dem Wolga-Gebiet, Kinder wurden geboren. Die sibirische Erde wurde zur Heimat. 1969 zogen sie nach Bolschie Prudy. Bis zur Rente arbeitete er als Drechsler in der Filiale der Sowchose „Tajoschniy“.

Im Oktober 1991 wurden Julia Iwanowna und ihre Söhne rehabilitiert.

Ihr ganzes langes Leben lang verbrachte sie in der Familie des jüngsten Sohnes, half dort im Haushalt, zog die Enkelkinder mit groß. Die langlebige Frau verfügt auch heute noch über einen klaren Verstand und Interesse am Leben. Nur die Erinnerung, welche die bittersten Momente im Leben ausradiert hat, versagt.

Die eindrucksvollen Informationen aus der Archivakte N° 33589 des russischen Innen-Ministeriums bestätigen jene Tatsache, dass ihre Söhne sich in einem deutschen Lager befanden. Fünf Zeilen – in trockenem Kanzleistil. Und hinter ihnen verbergen sich – Erniedrigung, Leid, Schmerz und Angst um das Schicksal der Angehörigen.

Tatjana Badenkowa, Foto der Autorin

„Land-Leben“ (Suchubusimskoje), 26. März 2010


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