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Staatlich verordnete Kindheit

Zum 65. Jahrestag des Großen Sieges

In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges waren in unserem Bezirk mehrere Kinderheime in Betrieb. Die Einwohnerin von Podsopki, Frieda Davidowna Baranowa (Bauer) wuchs im örtlichen Kinderheim auf und arbeitete später auch dort.


Auf dem Foto: Zöglinge des Podsopker Kinderheims und Schüler der Dorfschule.
1948
Das Foto wurde von der Bibliothekarin der Podsopker Dorfbibliothek, W.I. Prigoda, zur Verfügung gestellt.

Die Unzuverlässigen

1941 besuchte die neunjährige Frieda Bauer die erste Klasse der Dorfschule in Straßburg, Bezirk Pallasowka. Die Eltern arbeiteten in der Kolchose, und außer Frieda wuchs in der Familie auch noch die kleine Irma heran. Doch das Lernen in der Schule sollte nicht lange währen.

Wir hatten gerade erst gelernt, wie die Lehrerin hieß und wie man sich in der Schule zu benehmen hat. Mit dem Alphabeten hatten wir noch gar nicht angefangen. Gerade 10 Tage war ich zur Schule gegangen, als man uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel verkündete, dass alle Deutschen nach Sibirien ausgesiedelt würden.

Großfamilien hatten es etwas leichter: sie durften mehr Sachen mitnehmen, einige packten sogar ihre Nähmaschine ein. Aber ihre Eltern suchten nur das Allernötigste an Kleidung und Essen für unterwegs zusammen.

Der Vater –David Bauer – war kein junger Mann mehr. Als die kleine Irma geboren wurde, war er bereits über 60 Jahre alt. Als die Menschen auf die Züge verteilten wurden, bemühte sich der Vater in einen der Züge zu kommen, in dem bereits seine älteren Söhne aus erster Ehe saßen – Alexander und David. Er war der Meinung, dass es gemeinsam leichter wäre, am neuen Wohnort zu überleben. Doch die andere Familie kam mit einem anderen Zug nach Kasachstan, während er selber mit Frau und Töchtern nach Sibirien gelangte.

Frieda Davidowna erinnert sich, dass sie lange mit dem Zug fahren mussten. Gelegentlich hielt er an, und an die Passagiere wurde eine Essensration ausgeteilt: ein Stückchen Brot, Grütze und Fruchtsaft. An ihrem Bestimmungsort, dem Dorf Bereg-Taskino, trafen sie erst im Spätherbst ein.

Für ein Stückchen Brot verrichten mussten die Eltern jede Arbeit verrichten. Es war keine Rede davon, dass Frieda hier wieder die Schule besuchen sollte. Später wurde die Familie Bauer nach Krasnye Gorki umgesiedelt. Aber auch hier fanden sie kein Einkommen. In großer Not verging ein Jahr. Die Mutter erkrankte schwer. Aber sie vernachlässigte nie die Sorge um ihre Kinder, sondern verschaffte ihnen mit allerletzter Kraft einen kleinen Lebensunterhalt.

- Einmal machten sie die Eltern auf den Weg zum Feld, um Ähren zu sammeln. Es war Spätherbst, aber auf dem Stoppelfeld konnte man noch kleine Ähren finden. Plötzlich fiel Mama um. Und in der kleinen Hütte, die auf dem Feld stand, verstarb sie. Erfüllt vom Schmerz besaß Vater nicht die Kraft, mich und meine Schwester allein groß zu ziehen. Daher war er gezwungen, uns in ein Kinderheim zu geben.

Wahrscheinlich dachte David, dass man ihnen hier wenigstens jeden Tag ein Stückchen Brot geben würde. Das Kinderheim in Atamanowo war überfüllt; deswegen schickte man die Kinder nach Kekur, wo es ebenfalls eine solche Einrichtung gab. Der Vater besuchte seine Töchter regelmäßig. Doch einmal kam er nicht. Später teilte man den Bauer-Schwestern mit, dass sie den Vater nie wieder sehen würden. Er war gestorben.

Leckereien – Milch und Zucker

Es kam das Jahr 1943, der Höhepunkt des Kriegsgeschehens. An die Zeit im Kinderheim Kekur erinnere ich mich nur wenig. Es befand sich in einem zweigeschossigen steinern und sehr kalten Gebäude. Sofort muss ich an das heftige Hungergefühl denken, dass mich keine einzige Sekund verließ. Es kam vor, dass sie einem eine ganze Woche kein Brot gaben. Schulunterricht gab es hier nicht. Sie brachten uns weder lesen noch schreiben bei. Ich weiß noch, wie wir uns gemeinsam mit der Hand Unterwäsche und Hemden aus schwarzem Kattun nähten.

1944 trafen, zusammen mit einer Prüfungskommission, Ärzte aus der Bezirksstadt im Kinderheim ein. Und sie seufzten erschrocken auf. Die Kinder waren völlig entkräftet.

- Ich erinnere mich auch noch, dass die Erwachsenen sich danach untereinander erzählten, irgendjemand habe den Bezirksbehörden von unserer elendigen Lage berichtet. Daher waren auch nicht nur Ärzte aus der Bezirksstadt gekommen, sondern auch gleich eine Untersuchungskommission. Sie sagten, dass sie in den steinernen Kellern des Kinderheims ein richtiges Vorratslager entdeckt hätten, in dem es säckeweise Mehl und Graupen, Konserven sowie auch Stoffballen entdeckt hätten, die eigentlich für Kleider für die Kinder bestimmt gewesen wären. Man flüsterte, dass die Direktorin hinter Schloss und Riegel gekommen sei.

Wie dem auch sei – das Kinderheim in Kekur wurde aufgelöst. Die etwas kräftigeren Kinder wurden nach Atamanowo geschickt.

- Aber uns, die schwächlichen Wesen und ersten Kandidaten für den Hungertod, brachten sie sofort zur medizinischen Behandlung. Offensichtlich fürchteten die Ärzte, dass sie es nicht schaffen würden, uns lebend bis in die Bezirksstadt zu bringen. Deswegen brachten sie uns mit fünf Fuhrwerken nach Wyssotino. In der örtlichen Schule wurden die Tische zusammengerückt, und darauf legten wir uns dann. Hier begann unsere Behandlung.

Einige Zeit später schickten sie die Kinderheim-Bewohner ins Bezirkskrankenhaus. Und dort wurden alle zusammen im Krankenzimmer N° 6 untergebracht. Als wahre Leckereien erwiesen sich Milch und Zucker. Das bekamen die geschwächten Kinder jeden Tag. Aber außerdem stand ihnen auch Medizin zu. Frieda Davidown erinnert sich auch heute noch an den bitteren Geschmack dieser dunklen Flüssigkeit und den Geruch des Wermuts, der das Zimmer erfüllte, als die Kräutermixtur hereingebracht wurde.

Die Kindererholten sich. Aus dem Krankenhaus kamen sie ins Podsopker Kinderheim.

Das neue Zuhause

- Erst hier konnte ich wieder die Schulbank drücken. Der Lehrer fragt: in welcher Klasse warst du denn vorher? Und ich schäme mich zugeben zu müssen, dass ich noch nicht einmal das Alphabet kenne, und ich sage: „Ich gehe in die vierte!“ Eine schöne „vierte“ ist das! Obwohl ich bereits 14 Jahr alt war, bestimmten sie mich für die zweite Klasse.

Wenigstens lernte ich rechnen, aber mit dem Lesen und Schreiben war es ein Elend. Das Alphabet erlernte ich selber, das Lesen eignete ich mir an, aber richtig schreiben – das klappte nicht. So wie ich rede, schreibe ich auch. Die Buchstaben „t“, „z“ und „sch“ habe ich immer verwechselt. Und da bin ich schließlich nicht die Einzige.

Im Podsopker Kinderheim wuchsen 120 Kinder auf, von denen viele aus wolgadeutschen Familien stammten, deren Mütter man in die Arbeitsarmee geschickt hatte. Die Kinder lernten weniger lesen und schreiben, als vielmehr arbeiten. Die Einrichtung verfügte über eine eigene Hilfswirtschaft – sechs Kühe, Schweine, Geflügel. Und außerdem noch einen Acker. Die Kolchose war beim Pflügen des Bodens behilflich, und dann mussten die älteren Heimkinder selber den Weizen aussäen und ernten. Auch die Ähren droschen sie selber.

- Dreimal im Monat gingen wir ins Badehaus. Aber das half auch nicht gegen Parasiten. Wir waren von Läusen ganz zerfressen. Einmal kam zu uns eine Prüferin aus dem Bezirksgesundheitsamt. Aber wie sollten wir ihr mitteilen, dass wir unter d8iesen Blutsaugern litten? Dann wandten wir eine List an. Dem Pferdestall war ein kleiner Leder-Betrieb angeschlossen. Die Kinder walzten dort Lederhäute. Und so sammelten sie die wohlgenährten Vieh-Läuse von den frisch abgezogenen Häuten ab und brachten sie heimlich in einer Streichholzschachtel ins Kinderheim.

Die Mitarbeiterin vom Gesundheitsamt blieb über Nacht dort. Die Wäscheverwalterin bezog für sie in einem separaten Zimmer ein Bett und geleitete den Gast zum Abendessen. Während ihrer Abwesenheit schlichen sich die Kinder zu ihrem Bett und schütteten den Inhalt der Schachtel aufs das Bettlaken. Wir, die wir ihr Vorhaben kannten, erstarrten vor lauter Erwartung, wagten uns nicht zu atmen. Da kehrte sie zurück. Und sogleich ertönte ein lauter Schrei! Unsere Besucherin schleuderte die Bettdecke fort und sah darunter riesige Läuse, die über das Bettzeug krochen. Da war was los! Alle standen auf und schauten sich das an. Erst spät in der Nacht beruhigte sich das Kinderheim wieder.

Am Morgen wurde bereits das Badehaus geheizt. Man hatte aus der Bezirkshauptstadt einen Heizschrank gebracht, in dem nun die gesamte Unterwäsche und Kleidung „hitzebehandelt“ wurde. Auf diese Weise wurden wir die Läuse los.

- Hier war es bloß deshalb besser, weil wir etwas reichlicher zu essen bekamen. Trotzdem war das Leben hier kein Zuckerschlecken. Es gab aber Erzieherinnen, die Mitleid mit uns hatten und sich uns gegenüber menschlich verhielten – so wie meine Lieblingserzieherin Nina Makarowna Lesnaja. Doch da waren auch ganz andere.

Der Weg ins Leben

Endlich war der Krieg zu Ende. Aber in Frieda Bauers Erinnerung war der Tag des Sieges kein heller, glücklicher Tag der Hoffnung. Aus der Arbeitsarmee kehrten nach und nach die Mütter der Zöglinge des Podsopker Kinderheims zurück und holten ihre Kinder nach Hause. Aber Frieda und Irma hatten niemanden, der sie hätte abholen können. Und die nähere Zukunft gestaltete sich für die beiden Schwestern keineswegs erfreulich.

- Im Kinderheim konnten die Schützlinge bis zu ihrem 16. Lebensjahr bleiben. Bei der Entlassung führte man uns zu einem großen Haufen aufgelisteter Sachen. Hier lagen abgetragene Kleidungsstücke und Schuhe, zerrissene Decken, gestopfte und immer wieder gestopfte Unterwäsche wahllos durcheinander. Jeder kann sich wegnehmen, was er gebrauchen kann, meinten sie.

Außerdem gaben sie einem im Kinderheim Arbeit. Da ist der erste Eintrag in Frieda Davidownas Arbeitsbuch aus dem Jahr 1948: „Eingestellt als Viehwärterin der Hilfswirtschaft des Podsopker Kinderheims“. Außer ein paar Kopeken Lohn erhielt sie vom Kinderheim noch 500 Gramm Brot pro Tag. Nirgends konnte das Mädchen leben. Doch es gibt keine Welt ohne gute Menschen. Es fand sich ein Mensch, der Mitleid mit dem Waisenkind hatte. Jelisaweta Aleksandrowna Monossowa, die Kinderheim-Köchin, wurde dem Mädchen zur zweiten Mutter. Oma Lisa, wie alle sie nannten, hatte keine Kinder und keinen Ehemann.

- Sie bedauerte mich. Sie fütterte mich zusätzlich, wenn nach dem Mittagessen etwas übrig geblieben war. Und später, als das Heim im Jahre 1950 aufgelöst wurde, erwarb sie ein Häuschen und holte mich zu sich.

Nach der Entlassung aus dem Kinderheim stellte man Frieda Davidowna unter Meldepflicht bei der Kommandantur. Für sie, ebenso wie die anderen Deportierten und Verbannten war der Zwang sich monatlich einmal zu „melden und registrieren“ zu lassen, eine äußerst demütigende Prozedur.

- Mehrere Jahre durften wir, die Deutschen, den Ort nicht verlassen. Nach der Liquidierung des Kinderheims schickten sie die Zöglinge nach Atamanowo und verteilten sie von dort auf die umliegenden Dörfer. Meine Schwester Irotschka (sie wurde schon lange nicht mehr Irma genannt) schickten sie nach Kowrigino, zwei andere Mädel – Lusja Wochmina und Vera Leiman – nach Schestakowo. Und ich durfte noch nicht einmal meine Schwester besuchen. Und im Sommer musstest du losziehen und Beeren sammeln, aber verkaufen durftest du die überschüssigen nicht. Wenn die Ortsansässigen sich damit einverstanden erklärten, den einen oder anderen Eimer zum Verkauf mit in die Stadt zu nehmen, dann mussten wir ihnen auch dafür dankbar sein. Im Großen und Ganzen waren die Leute aus dem Dorf uns Deutschen gegenüber freundlich gesinnt.

Nach der Auflösung des Kinderheims stellte man Frieda Davidowna als Gehilfin des Meisters der Podsopker Butterfabrik ein, später - als Melkerin in der Kolchose. Sie heiratete, aber ein Familienleben kam nicht zustande. Sohn und Tochter musste sie allein großziehen. Schwer hatte sie es. Sie musste die Kinder allein in der abgeschlossenen Unterkunft zurücklassen und dann zur Farm eilen. Frieda Davidowna war eine der besten Melkerinnen der Minderlinsker Sowchose, zu deren Bestand auch die Kujbyschew-Kolchose gehörte.

- Ich arbeitete 360 Tage im Jahr, ohne freie Tage und Urlaub. Ich erarbeitete mir den Titel einer Stoßarbeiterin der sozialistischen Arbeit und den Orden des Roten Arbeitsbanners. Wegen der Kinder schuftete ich. Ich wollte ihnen so gern das geben, was ich selber in der Kindheit nicht bekommen hatte. Sie sollten keine Not leiden; sie erhielten eine Ausbildung und, was das Wichtigste war, elterliche Liebe, die man uns seinerzeit entzogen hatte… Und 1977 gaben sie mir als beste Melkerin diese Wohnung.

Sie wohnt auch heute noch in dieser winzigen Wohnung mit Zimmern so groß wie Käfige und einem zerfallenen Ofen. Sohn Albert besucht die alte Mutter, und auch die Enkel und Urenkel kommen; ebenso Tochter Ndjeschda aus Schelesnogorsk. Aber mit jedem Jahr wird das Leben so mutterseelenallein schwieriger. Niemand ist da, der das Wasser vom fernen Brunnen heranschleppt, den Hof vom Schnee befreit. Sie muss andere Leute fragen und deren Dienstleistungen von ihrer kleinen Rente bezahlen. Und an den einsamen Abenden wird ihr Fernseher zum Gesprächspartner. Manchmal zeigt er ihr Zöglinge heutiger Kinderheime.

- Jetzt herrschen in den Heimen gute Bedingungen. Auf dem Bildschirm siehst du wohlgenährte und schön angezogene Kinder, helle Zimmer und freundliche Klassenräume, eine Vielfalt an tollen Spielsachen. Aber wer weiß, was in diesem Heim passiert, wenn sich hintern den Reportern die Türen geschlossen haben? Ein Kinderheim, wie gut es auch sein mag, bleibt trotzdem immer eine staatliche Einrichtung und wird niemals zu einem richtigen Zuhause.


Die Zöglinge des Podsopker Kinderheims Tamara Beljajewa und Lilia Parnikowa.
Foto aus dem persönlichem Archiv von F.D. Baranowa.

Natalia Golowina
„Dorf-Leben“ (Suchobusimskoje), 11.06.2010


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