Nach der Errichtung der Sowjetmacht wurden der Norden der Region Krasnojarsk sowie auch andere sibirische Territorien in großem Umfang und planmäßig erschlossen. Hier begann man, Lagerstätten abzubauen und mitten in der Tundra Fabriken und Städte zu bauen. In der Zeit vor der Perestroika suggerierte die sowjetische Propaganda, dass die Hauptlast dieser unmöglichen Aufgabe von heldenhaften Komsomol-Freiwilligen geschultert wurde. Doch in den 1980er Jahren kam die Wahrheit über die Entwicklung des Nordens in ihrer ganzen hässlichen Nacktheit ans Licht: Diese Wirtschaftsmacht beruhte größtenteils auf den Knochen Tausender von Gefangenen. Die meisten von ihnen wurden unschuldig verurteilt. Alexej Babii, ein bekannter Krasnojarsker Menschenrechtsaktivist, Schriftsteller, Programmierer, Vorsitzender der regionalen Memorial-Gesellschaft und Gast unserer Redaktion, erzählt, wie es dazu kam.
- Alexej, es gibt die Meinung, dass Stalin keine andere Wahl hatte. Hätte er nicht den gefürchteten GULAG, das Schwungrad der politischen Unterdrückung, geschaffen, wäre die UdSSR nicht in der Lage gewesen, ihre Wirtschaft so schnell auf die Beine zu stellen.
— Es ist ein Mythos, ein sehr schädlicher und gefährlicher Mythos, der entlarvt werden muss. Andernfalls könnte ein Herrscher der Zukunft eines Tages auf die Idee kommen, diesen schrecklichen Versuch zu wiederholen. Sklavenarbeit ist am ineffizientesten, das weiß jeder Schuljunge. Es war der GULAG, der unsere Gesellschaft korrumpiert hat. Anstelle einer "Arbeitserziehung" wurde den Sträflingen eine Abscheu vor der Arbeit eingeimpft. Wie kann man es lieben, unter einem Stock zu arbeiten? Die einfachen Arbeiter hatten keine Freizeit: Wenn sie nach einem langen Arbeitstag in die Kaserne zurückkamen, träumten sie nur davon, auf ihre Pritschen zu kriechen und in einen tiefen Schlaf zu fallen. Damals wurden Begriffe wie "sich drücken" und "Tufta" (Fälschen von Statistiken, um das Plansoll zu erfüllen; Anm. d. Übers.) geboren.
— Mich hat immer schon interessiert, woher dieses Wort „Tufta“ eigentlich kommt…
— Tufta kommt von der Abkürzung TFT – «schwere körperliche Arbeit». Bei harter körperlicher Arbeit wurden die größten Beträge veruntreut. Als man die Menge an Erde zählte, die angeblich von Häftlingen beim Bau des Belomorkanals ausgehoben wurde, stellte sich heraus, dass sieben weitere solcher Kanäle hätten gebaut werden können. Oder es stellte sich heraus, dass die Gräben nicht im leichten Sandboden, sondern im harten, durch Kiefernwurzeln gebundenen und an der Schaufel haftenden Boden ausgehoben wurden. Den Berichten zufolge wurde das Erdreich nicht auf die obere Bodenkante geworfen, sondern zehn Meter weiter zur Seite getragen. Der Staat selbst zwang die Sträflinge, sich mit "schwerer körperlicher Arbeit" zu beschäftigen: Andernfalls waren sie zu einem frühen und schmerzhaften Tod verurteilt. Nicht nur die Häftlinge waren an gefälschten Aufzeichnungen interessiert, sondern auch die Chefs, die Prämien, Auszeichnungen und Beförderungen erhielten.
— Dann war die Arbeit möglicherweise uneffektiv, aber dafür billig.
— Es kommt darauf an, wie man es betrachtet. Ja, ein Sträfling arbeitete für eine Schale Wasserbrühe, lebte in einer eilig errichteten Baracke... Aber er musste bewacht und zur Arbeit gezwungen werden. Und die Wächter mussten ein Gehalt und angemessene Lebensbedingungen erhalten. Und das war nicht billig. Mehr als 16 Prozent des Staatshaushalts wurden für die Lager aufgewendet. Das ist eine riesige Zahl. Ich spreche hier nur über die wirtschaftlichen Aspekte dieses "Projekts", ohne die moralische und ethische Seite des Themas zu berühren. Dies steht meiner Meinung nach nicht einmal zur Diskussion.
— War das dann Ihrer Meinung nach ein Sklavenstaat?
— Der klassische Sklavenhalterstaat der Antike füllte die Reihen der Sklaven auf Kosten der Bewohner anderer Länder auf, die im Krieg gefangen genommen worden waren. Ein Staat, der seine eigenen Bürger systematisch und bewusst zu Sklaven macht, ist ein historischer Unsinn. Aber so war es wirklich.
— Dennoch ist es für den modernen Menschen schwierig zu verstehen, wie dieses monströse System funktionierte...
— In den dreißiger Jahren war das ganz einfach. Wer die Norm erfüllte, bekam seine magere Ration. Bei Überschreitung wurde ein "Zuschlag" gewährt. Wenn Sie zu wenig geleistet hatten, wurde Ihre Ration gekürzt. Ein Mann musste also hart arbeiten, um mehr oder weniger gut zu schlafen. Aber in der Regel hatte man nicht lange genug Kraft - nach einer Weile würde ein Gefangener aufhören, den Plan über zu erfüllen und kaum noch mit der Norm mithalten können. Wenn er eine reguläre Ration erhielt und nicht genug aß, würde er den Plan bald nicht mehr erfüllen und eine reduzierte Ration erhalten. So begann er zu verfallen. Trotz aller Bemühungen der Verwaltung führte die Einsparung von Lebensmitteln für die Häftlinge zu einem Rückgang der Arbeitsproduktivität, die in den Lagern im Durchschnitt um 50 % niedriger war als in den Betrieben in Freiheit.
— Nun, da Übergewicht der Fluch der Gesellschaft ist, wissen viele Menschen, dass der Körper so viele Kalorien verbrennen muss, wie er täglich zu sich nimmt, damit sein Organismus normal funktioniert...
— Ganz genau. Ein chronischer Kalorienüberschuss führt zu Fettleibigkeit, ein Kalorienmangel führt zum Aussterben. Nach diesem System könnte eine Person drei bis fünf Jahre lang im Gefängnis leben. Eine Verurteilung zu 10 Jahren war also faktisch ein Todesurteil. Die Inhaftierung wurde von ständigen Schlägen begleitet. Je schwächer ein Mensch wurde, desto mehr wurde er von den Wachen und anderen Häftlingen geschlagen. Er konnte nie sicher sein, dass er bis morgen leben würde. Das lag an den ständigen Arbeitsunfällen, die durch seine von Hunger und Kälte getrübte Aufmerksamkeit und die Messer der Kriminellen verursacht wurden. "Die Verpflegung bestand in der Regel aus einem Stück halbgebackenem Schwarzbrot, einem Eintopf aus verfaulten Kartoffeln, in dem Fischschwänze schwammen, oder Saturycha - kochendes Wasser, in das Roggenmehl eingerührt wurde...
— Ja, bei so einer Verpflegung hält man nicht lange durch…
— Neben dem Hunger war auch die Kälte ein schrecklicher Feind der Gefangenen. Im NorilLag arbeiteten die Sträflinge bei 45-50 Grad Frost, bekleidet mit wattierten Jacken und trugen anstelle von Filzstiefeln Burkas, die aus abgenutzten Baumwollhosen genäht waren. Die Sohlen der Burkas waren aus demselben Material, das mehrfach abgesteppt war. Nur bei Temperaturen unter 50 Grad war es erlaubt, "den Tag freizuschreiben" und keine Häftlinge zur Arbeit zu führen.
Foto: Alexej Babij. Kolyma. Blick aus einer Baracke im Lager «Wjerchnij
Butugytschat“
Natürlich waren Skorbut und Pellagra in den Lagern weit verbreitet, und fast alle Häftlinge, die zu "allgemeinen Arbeiten" eingeteilt waren, erlitten schwere Erfrierungen. Hunger, Kälte und harte Arbeit von 14 bis 16 Stunden am Tag verwandelten einen gesunden, kräftigen Mann in einen "Todeskandidaten", der herumtaumelte und bereit war, die Schüsseln anderer Leute zu lecken - seine Psyche wurde unwiderruflich verändert.
— Gab es da denn überhaupt keine Chancen?
— Die einzige Möglichkeit, bei einer langen Haftstrafe am Leben zu bleiben, bestand darin, im Kontor, in der Instandhaltungsabteilung, im Lagerdienst oder im Krankenhaus zu arbeiten. Doch hauptsächlich wurden diese Positionen von Kriminellen eingenommen, da es "Volksfeinden" verboten war, Verwaltungs- oder Wirtschaftsposten zu bekleiden. Der Koch, der Bäcker und der Lagerverwalter aus den Reihen der Verbrecher klaute fast immer ohne kontrolliert zu werden und verdammte damit die übrigen Insassen zu noch größeren Qualen. Jeder, der versuchte, sich dieser Ordnung zu widersetzen, wurde sofort getötet. Die "Feinde des Volkes" wurden unerbittlich zur allgemeinen Arbeit geschickt und starben. Die Lager der Jahre 1937-1938 waren im Wesentlichen Vernichtungslager.
— Und trotzdem starben nicht alle?
— Die Führung des Landes dachte über die wirtschaftliche Effizienz des Systems nach. Der GULAG wurde zu einem Staat im Staat. Damit es richtig funktionieren konnte, brauchte man qualifizierte Fachleute - Menschen mit technischen und wirtschaftlichen Kenntnissen, Ärzte, Ingenieure und Buchhalter. Und sie waren unter den "Feinden des Volkes" zu finden.
Alles geschah auf völlig zynische Weise: Angenommen, eine Baustelle des Norilsker Kombinats benötigte einen kompetenten Spezialisten für Betonmischungen. Das GULAG-System wurde genutzt, um einen Auftrag zu erteilen, und die Personalakten der "Verurteilten" wurden studiert. Und es ist ein Segen, wenn irgendwo in irgendeinem Lager ein solcher "Spezialist" sitzt und zum Beispiel Holz hackt. Er wird aus dem Holzfällerlager abgeholt und in das Lager Norilsk gebracht. Und wenn nicht, erhält das NKWD den Auftrag, einen solchen Spezialisten von außen zu finden. Jemandem einen "Prozess anzuhängen" - eine kinderliechte Sache.
Foto: Alexej Babij. Alles, was von den Häftlingen überigblieb.
Übrigens wurde auch Sergej Koroljow, der später den ersten Menschen in den Weltraum schoss, von Kolyma in das Konstruktionsbüro des GULAG, die so genannte "Scharaschka", gebracht. Er galt mit einer gekürzten Ration in der Maldyak-Mine bereits als "Todeskandidat" und hatte nur noch wenige Wochen zu leben...
Waren es in den dreißiger Jahren vor allem die "Kleinkriminellen", auf die sich die Lagerleitung stützte, die in den Lagern das Sagen hatten, während die "Volksfeinde" "Staub", menschlicher Abfall, waren, so begannen in den vierziger Jahren die politischen Häftlinge die Kriminellen an der Spitze des Lagers zu verdrängen. Dies war ein objektiver Prozess: Der GULAG brauchte kompetente Spezialisten und Manager. Sie konnten jedoch nicht unter den "Verbrechern" gefunden werden.
Dementsprechend begann sich das Lagerregime zu entspannen.
Übrigens war die prozentuale Verteilung unter den Häftlingen ungefähr wie folgt: etwa 40 % waren die so genannten politischen Gefangenen (die später fast alle rehabilitiert wurden), weitere 40 % waren "Ukasniks" - wegen des Diebstahls von ein paar Ähren, Zuspätkommens zur Arbeit usw. Verurteilte, und nur 20 % waren Kriminelle im eigentlichen Sinne.
— Soweit ich weiß, existieren gegenüber dem Leiter des NorilLag, Awramij SAWENJAGIN, immer noch zwei Meinungen. Einerseits hatte er eine Menge Leben auf dem Gewissen. Andererseits war das Regime unter seiner Führung sanfter. Und er baute das Kombinat.
— Dies ist sicherlich eine umstrittene Figur. Eine noch interessantere Persönlichkeit in diesem Sinne mag eine weniger bekannte sein - General BARABANOW, Leiter des Baus der Salechard-Igarka-Eisenbahn, ein Projekt, das letztendlich nicht realisiert wurde. Es wird erzählt, dass nach seinem Tod, noch während des "Tauwetters", ehemalige Sträflinge aus dem ganzen Land zu seiner Beerdigung kamen. Natürlich waren weder Sawenjagin noch Barabanow überzeugte Humanisten. Sie waren die Ausgeburt des Systems. Unter ihnen gab es Erschießungen und Todesfälle durch Hunger und Kälte... Aber wenn Barabanows Vorgänger zu neu angekommenen Gefangenen sagte: "Ihr wurdet hierhergebracht, um zu sterben, und ich werde euch dabei helfen...", sagte Barabanow: "Wir haben die Aufgabe, eine Straße zu bauen, und wir werden sie bauen...". Anstelle von Henkern traten nun Ingenieure an die Spitze der Lager, deren Ziel nicht die Vernichtung der Häftlinge, sondern deren Aufbau war. In den vierziger und fünfziger Jahren starben weiterhin Sträflinge. Aber vielleicht nicht so sinnlos wie in den Dreißigern...
— Hat die Tatsache, dass es im Norden so viele Gefangene gab, irgendwelche Spuren in der heutigen Bevölkerung hinterlassen?
— Nein, wohl nicht. Sie haben dem Leben in den nördlichen Dörfern der Region keine neue Farbe verliehen. Die meisten von ihnen verließen diese Orte nach Verbüßung ihrer Strafe. Gleichzeitig kenne ich einige Einwohner von Norilsk, die in der Stalinzeit Sträflinge waren und die die Stadt mochten und für immer dortgeblieben sind. Aber sie sind eher die Ausnahme.
Den größten Einfluss auf die nördlichen Siedlungen unserer Region hatten sicherlich die Exilanten und diejenigen, die der Kommandantur unterstanden - Wolgadeutsche, Letten, Litauer, Kalmücken, Finnen sowie die enteigneten Bauern und ihre Nachkommen der ersten Generation. Diese Menschen verschiedener Nationalitäten, die in ihrem Leben schon viel gesehen hatten, waren gewissenhafte Arbeiter, die oft das Rückgrat der Fischereibrigaden und Holzfarmen bildeten.
Als Mitte der fünfziger Jahre viele von ihnen zurückkehren durften, sanken die Wirtschaftsindikatoren beispielsweise des Bezirks Turuchansk buchstäblich um das Zehnfache. Aber einige von ihnen sind geblieben, sie haben überlebt und sind nicht verbittert. Sie gewöhnten sich an das Leben in der Taiga und gründeten Haushalte. Ihre harte Arbeit und Integrität verhalfen den neuen Generationen von Sibiriern zum Erfolg.
— Zum Abschluss unseres Gesprächs - noch ein wenig Statistik: Welche Einrichtungen in der Region wurden mit Hilfe von Häftlingen gebaut?
— Es ist wahrscheinlich einfacher, die Einrichtungen in der Region aufzulisten, die seinerzeit ohne Häftlinge gebaut wurden. Als erstes wurde überall dort, wo eine Fabrik oder eine Straße gebaut wurde, ein Lager errichtet. Das gesamte rechte Ufer von Krasnojarsk war in den vierziger Jahren eine Kette von Lagern. Industriekomplex Norilsk, Raffinerie (später Buntmetallwerk), Krasnojarsk-26 (Schelesnogorsk), Krasnojarsk-45 (Selenogorsk), Tschernogorsker Bergwerke, Ulensker Kupfer-Molybdän-Betrieb und viele andere. Man kann sich auch ans KrasLag (Holzindustrie im Osten der Region) und viele kleine Objekte erinnern.
Die Zahl der Gefangenen in der Region Krasnojarsk beläuft sich auf nicht weniger als eine halbe Million, hinzu kommt die gleiche Zahl von Sondersiedlern. In den dreißiger Jahren betrug die Anzahl der Bevölkerung in der Region etwas mehr als eine Million, d.h. auf Kosten der gewaltsam dorthin gebrachten Menschen verdoppelte sich die Zahl!
Aus irgendeinem Grund glaubt man, dass es keine andere Lösung gab. Man braucht sich jedoch nur Finnland anzusehen (der einzige Teil des ehemaligen russischen Reiches, der glücklicherweise der sowjetischen Herrschaft entkommen ist) oder die DDR mit der BRD oder Taiwan mit China vor dreißig Jahren zu vergleichen, um zu sehen, dass mit weit weniger Blut (Blut ist leider keine Redewendung, sondern im wahrsten Sinne des Wortes gemeint) weit mehr hätte erreicht werden können.
Das Gespräck führte Dmitrij GOLOWANOW
Büro für journalistische Nachforschungen, 12.06.2010