Sonder-Bericht
Jedes Jahr am 5. August wird auf dem Flurstück Sandarmoch – dem Ort von Massenerschießungen politischer Gefangener in der Republik Karelien – der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Großen Terrors der Jahre 1937-1938 begangen. Diesen Sommer war zur Trauerfeier eine Delegation der öffentlichen Vereinigungen zum „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ aus Norilsk und Dudinka geladen. Aus Karelien hatten sich mit Bus und Kutter Einwohner aus Norilsk und dem Taimyr-Gebiet auf den Weg zu den Solowjezker Inseln gemacht, wo sie an den Tagen des Gedenkens an die Opfer der politischen Verfolgungen auf den Solowki-Inseln teilnahmen. Gerade hier begann die Entstehung des GULAG-Systems, und genau hier existierte zwei Jahre lang das SLON – das Solowjezker mit besonderer Bestimmung. Die unvergessliche Fahrt konnte dank der Unterstützung des „Norilsker Nickel“-Konzerns stattfinden.
Von Petersburg begaben sich die Norilsker mit dem Zug nach Medweschegorsk, das den Zeitgenossen nicht als eine der Hauptstädte des GULAG bekannt ist, sondern vielmehr deswegen, weil hier, am Ufer des Onega-Sees der Film „Liebe und Tauben“ gedreht wurde. Im Zug lernte ich die Petersburgerin Anastasia Dmitrijewna Wjalzewa kennen, eine vollständige Namensvetterin ihrer bekannten Verwandten – der Königin der Zigeunerromanze, Star der russischen Kleinkunstbühne des XIX. Jahrhunderts. Von ihr hörte ich die Geschichte über den verfolgten Großvater. Der einfache Hafen-Ladearbeiter wurde als „Organisator einer Sinowjew-Trotzkij-Gruppe“ verhaftet und verschwand in den Kerkern des GULAG.
Mit dem Zug Petersburg – Murmansk kamen Vertreter verschiedener Städte und Länder nach Sandarmoch: aus Norilsk, Dudinka, der Ukraine, Litauen, Deutschland. Die Polen kamen auf Motorrädern direkt zur Zeremonie. Praktisch jeder der Delegierten hatte seine eigene, unsinnige Anklage mit tragischem Ende, eine Geschichte, in der während des Großen Terrors Angehörige ums Leben kamen.
In Petersburg gesellte sich unserer Delegation Wjatscheslaw Blochin hinzu – der Herausgeber der Karte des Norillag (sie ist bei den städtischen Buch-Kiosken übrigens fast restlos ausverkauft), der vor einem Jahr in die Hauptstadt des Nordens umzog, um dort seinen ständigen Wohnsitz einzunehmen.
Die Unterbringung im Medweschegorsker Hotel, wie auch alle Transportmaßnahmen (per Zug, Autobus, Kutter sowie zu Fuß), lagen in der Hand von Tatjana Morgatschewa, der stellvertretenden Direktorin des Petersburger wissenschaftlichen Informationszentrums der „Memorial“-Organisation, auf deren Einladung die Norilsker dann auch nach Karelien kamen, und anschließend auf die Solowjezker Inseln.
Die Zeit ging auf Mitternacht. Auf den Straßen von Medweschegorsk, das bereits seit einem Monat unter einer unnatürlichen Hitze litt, jagte ein Sandsturm dahin, aber die Mutigsten aus den Reihen der Delegierten tauchten nach der unerträglichen Hitze im Zug mit Begeisterung in die Wasser des Onega-Sees ein und schliefen danach schnell ein.
Am Morgen besuchten die Teilnehmer aus Norilsk und Dudinka das Medweschegorsker Museum und waren total verwundert, dass es dort eine ständige Ausstellung über das GULAG gab. Der Autobus, der von der Medweschegorsker Administration zur Verfügung gestellt wurde, brachte die Gäste der Stadt nach Sandarmoch.
Oh, Wunder! Unser Transportmittel verfügte über eine Klima-Anlage. Einige dutzend Meter vor dem Bestimmungspunkt stiegen die Fahrgäste auf der Straße aus mehreren Bussen aus und machten sich auf dem Kreuzweg zu dem Waldsumpf auf. Orthodoxe Väterchen, Prozessionsfahnen, heiliges Wasser, das Gebet „Geheiligte russische Märtyrer, betet für uns zu Gott“ – alles war im Überfluss vorhanden. Voraus, in dem kleinen Kiefernwäldchen, auf das erbarmungslos die Sonne herniederbrannte, wurden eine Kapelle und zahlreiche Denkmäler hier erschossener Menschen sichtbar.
Etwas später, auf den Solowki-Inseln, als wir uns auf dem Weg von Sekirnaja zur Sawwatewsker Einsiedelei befanden, erzählte Tatjana Morgatschewa uns, wie das Petersburger „Memorial“ zwanzig Jahre zuvor Sandarmoch gefunden hatte. Zuerst wurde die Lage des Ortes anhand von Archiv-Angaben berechnet, anschließend öffnete man zusammen mit Forschern aus Petrosawodsk die Begräbnisstätte. Man fand Überreste von Menschen, entnahm einen Teil zur Erstellung von Gutachten, rief die Staatsanwaltschaft hinzu, welche die Expertise ausstellte. Weiter gruben sie nicht; sie zählten einfach die Aushöhlungen an der Stelle der Gemeinschaftsgräber und stellten dort Gedenkzeichen auf. Innerhalb von zwanzig Jahren tauchten in dem Waldsumpfgebiet dutzende, sogar hunderte Namenstafeln auf. Angehörige von Erschossenen betrieben selber jahrelang Forschungen, welche sich auf Sandarmoch bezogen.
Die Aufschrift eines Steines fiel einem ins Auge: „Leute, tötet einander nicht“. Die Versammlung begann. Das Oberhaupt der Administration des Medweschegorsker Bezirks, Nikolaj Tichonow, nannte die Jahre der Repressionen ein Verbrechen der Staatsmacht an seinem eigenen Volk. Der Abgeordnete der Obersten Rada der Ukraine, Jaroslaw Kendsor, rief die Vertreter aller Länder auf, alles Erdenkliche zu tun, damit ein so blutiges Regime sich nicht wiederholt. Feierlich wurde mit einem Gottesdienst in karelischer und russischer Sprache ein neues Denkmal eingeweiht – zu Ehren der Karelier, die in Sandarmoch erschossen wurden.
Einzelne Gedenk-Grabsteine für die Karelier wurden auf dem Memorial-Friedhof bereits von Angehörigen aufgestellt. Aus der Fotografie blicken der Fahrer Pjotr Kusmin und der Kolchosbauer Michail Mitrofanow, sowie der Schwede Oskar Frederik, ein Finne mit langem Familiennamen, die drei Brüder Samoilow… Viele Einwohner von Petersburg haben hier ihre Verwandten verloren; in diesem Waldsumpf ruht auch die Asche von Erbauern des Weißmeer-Ostsee-Kanals.
Nach dem feierlichen Teil zerstreuten sich die von allen Enden der Welt eingetroffenen Angehörigen der in Sandarmoch Erschossenen und begaben sich jeweils zu den Gräbern ihrer Angehörigen, die verständlicherweise nur ungefähr gekennzeichnet waren. Die Polen versammelten sich um das Denkmal für ihre Landsleute, die Ukrainer- an der Stelle, wo der Gedenkstein für dir Ihren stand.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Norilsker Museums Tatjana Rubin und die Tochter von Sondersiedlern im Taimyr-Gebiet Ljudmila Renner kamen mit dem Konsul der Litauischen Republik in Petersburg, Robertas Tamoschunas, ins Gespräch und tauschten mit ihm zum Abschied sogar einen Händedruck aus.
- Es war eine traurige Etappe in unserer Geschichte , - meinte der Konsul zur Epoche der politischen Verfolgungen. – „Memorial“ und das Völkermord-Zentrum in Litauen lassen ein Vergessen nicht zu.
Wie Tatjana und Ljudmila dem „Polar-Boten“ erzählten, gefiel es ihnen, wie der Konsul in seiner Rede die Akzente setzte, indem er erklärte, dass das Leid und die Tragödie allgemein waren. Zum Vergleich: einige Mitglieder der ukrainischen Delegation bestätigten, dass es eine gewisse Weltverschwörung gegen die Vernichtung gerade des ukrainischen Volkes gibt. Das Mitglied der Norilsker Gesandtschaft, Galina Mussatow, deren Vater seine Strafe im Norillag verbüßte, war gefesselt von der Aufschrift auf dem Gedenkstein für die Juden: „Wir sind in solchem Schmerz vereint“.
- Wie ruhig es hier ist, - wunderte sich plötzlich Tatjana Rubin. – Hier singen noch nicht einmal die Vögel.
Über Sandarmoch stand die Sonne des heißen Sommers 2010. Unter den Füßen knackten die vertrockneten Kiefernzapfen und –nadeln. Hätte es hier nicht die Gedenkkreuze gegeben, hätte man überhaupt nicht glauben können, dass vor nicht allzu langer Zeit hier zehntausend unschuldige Menschen erschossen wurden.
Nach der Zusammenkunft fuhren wir zur ersten Schleuse des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Hier kamen viele Menschen ums Leben; der Kanal rechtfertigte nicht die auf ihn gesetzten Hoffnungen, teilte die Reisebegleitung mit.
Ein paar Stunden im Autobus, einige weitere auf dem mit Menschen vollgestopften Kutter „Aleksandr Schabalin“ über das Weiße Meer, - und da zeichneten sich auch schon die Kuppeln des berühmten Klosters ab.
Das Solowezker Archipel – dieser Ort ist in unserem Land einzigartig, aufgrund seiner Geschichte, seines exotischen Flairs und seiner Natur nicht vergleichbar mit vielen ausländischen Staaten, die sich bemühen die Bürger Russlands zu besuchen. Sogleich verzaubern einen die riesigen Steine, aus denen die uralten Klosterwände und Türme zusammengefügt sind. Im Hof duftet es nach frischem Kloster-Backwerk, welches im Nu ausverkauft ist. Nach der Epoche des Atheismus wurde das Kloster erneut von strengen Mönchen bewohnt, und es kamen lange Pilgerzüge aus verschiedenen Städten. Der Eine fährt nach Solowki als Tourist, in der Hoffnung die Weißwale, lappländischen Rentiere und Stein-Labyrinthe aus der Zeit des Neolith zu begaffen. Auf den staubigen Straßen tauchten sogar ein paar Jeeps und Quads für ine Solowjezker Safari auf, es waren nette Hotels in Holzbauweise errichtet worden – mit einem Zimmerpreis von fünf- bis zehntausend Rubel. Uns brachte man in dem bescheidenen Hotel „Petersburg“ unter.
Die Delegierten kamen nach der langen Fahrt wieder zu sich und machten sich am nächsten Tag auf den Weg zu dem Treffen am Solowjezker Stein, abgezählt der 22. So viele Jahre schon findet es am 7. und 8. August mit dem wissenschaftlichen Informationszentrum von „Memorial“ und dem Staatlichen Solowjezker Museum und Naturschutzpark für Geschichte, Architektur und Natur statt.
- Bis zu der Einladung durch „Memorial“ nach Sandarmoch und zu den Solowjezker Inseln hatten wir noch nicht einmal gewusst, dass es so ein internationales Datum überhaupt gibt, - erzählte die Vorsitzende der Norilsker öffentlichen Vereinigung zum „Schutz der Opfer politischer Repressionen“ – Elisabeth Obst. – Wir sind es gewohnt, den 30. Oktober als Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Verfolgungen zu begehen.
Ab dem diesjährigen Sommer gelangten Norilsk und Dudinka auf internationales Niveau.
Am Solowjezker Stein – dem Denkmal für die Opfer des SLON – verlief die für derartige Veranstaltungen traditionell vorgesehene Maßnahme. Begonnen wurde sie von dem Ukrainer Taras Silenko mit einem Lied und Spiel auf der Bandura.
- Keine Heldentat des Landes kann den Preis für die Menschenleben aufwiegen. Und die Tatsache, dass sich heute „Memorial“-Vertreter verschiedener Länder hier zusammengefunden haben, ist sehr wichtig für die Wahrung des Gedenkens, - versuchte die stellvertretende Direktorin des Solowjezker Museums, Irina Kondraschowa, die wesentliche Idee dieser Begegnung.
Tatjana Morgatschewa aus vom Petersburger „Memorial“ sagte etwas sehr Wichtiges: das Thema der Repressionen soll die Menschen vereinen.
- Wir sind hier nun schon zum 22. Mal zusammengetroffen – und es gibt keine Zersplitterung des Gedenkens aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit oder Nationalität, wir gedenken aller Umgekommenen. Heute sind auch Norilsk und Krasnojarsk mit uns… Der Terror hat überall seine Spuren hinterlassen.
Die Redner wurden unterstützt vom Deputierten der Ukrainischen Rada – Jaroslaw Kendsor:
- Wir dürfen nicht den geringsten Anflug von Stalinismus zulassen, wenn wir nicht wollen, dass eine Gruppe von Abenteurern die halbe oder sogar die ganze Welt vernichtet.
Walerij Dunajew, Vorsitzender des Moskauer „Memorial“, zog Bilanz:
- Es sind bereits fast 70 Jahre seit dem Jahr 1937 vergangen, als hier, auf den Solowki-Inseln, die Vernichtung des eigenen Volkes durch die Staatsmacht begann. Warum fahren wir hierher? Jeder von uns stellt eine Insel des riesigen Archipel GULAG dar. Wenn wir viele sind, dann hilft das, den Maßstab der Zügellosigkeit der Staatsmacht zu sehen. Das Leben ist dem Menschen von Gott gegeben, nicht von den Führern, aber sie haben versucht, sich dieses Recht zu eigen zu machen. Der Mensch besitzt das Recht auf Leben.
Alle Delegationen legten am Solowezker Stein Blumen und Trauerkränze nieder und ehrten das Gedenken an die unschuldig Umgekommenen mit einer Schweigeminute.
Am folgenden Tag gelangten wir mit einem Pasik (Autobus der Pavlovo-Busfabrik; Anm. d. Übers.) auf der Straße des 16. Jahrhunderts (ach, wie das rüttelt!) zur Swjato-Wosnessensker Einsiedelei, die auf dem Sekirnaja-Berg gelegen ist. Hier befand sich 1937-1938 der Männer-Strafisolator des SLON. Die Solowki-Inseln liegen auf dem 65. Breitengrad; hier ist es nicht viel wärmer als in Norilsk. Die bestraften Gefangenen legten sich zu jeder beliebigen Jahreszeit nackt und stapelweise in vier Reihen zum Schlafen nieder, um sich warm zu halten. Der steinerne Raum war unbeheizt, am Morgen trug man die Leichen hinaus auf die Straße.
Hier auf dem Sekirka dachte man sich die raffinierten Strafmaßnahmen aus, die als „Komarka“, „Scherdotschki“ und „Pjenki“ bezeichnet wurden. Im ersten Fall band man den Sträfling an einen Baum und überließ ihn den Mückenschwärmen. In den beiden anderen zwang man ihn, stundenlang unbeweglich in der Hocke zu sitzen oder aufrecht still zu stehen; wer das nicht durchhielt, bekam eine Kugel in den Kopf. Der Sekirka-Berg war auch Ort von Erschießungen. Das bestätigten Ausgrabungen, bei denen Schädel mit einem einzigen Loch im Hinterkopf entdeckt wurden.
Was bedeutet Totalitarismus? Mit welchem Paragraphen vernichtete der Staat 20 Millionen seiner Mitbürger?
- Es ist sehr schwierig, das zu erklären, - antwortet Tatjana Morgatschewa auf die Frage. – Es gibt dafür keine geeignete Sprache. Alle erinnerten sich ihrer Angehörigen, doch dieses zutiefst persönliche Thema wurde nicht verbalisiert. Verfälschte Worte, sie spiegeln nichts wider, sie erklären nichts, die jungen Leute verstehen nicht und fangen an zu fragen: „Was war das denn nun eigentlich?“ – Und wir können ihnen darauf keine Antwort geben.
Nach Tatjanas Meinung hilft das virtuelle GULAG-Museum auf seiner Website, die Fragen zu beantworten; dort sind persönliche Dinge, Fotos, Dokumente politischer Häftlinge aus den Beständen verschiedener Museen ausgestellt.
Der Bandura-Spieler Tarras Silenko, der am Solowezker Stein so wunderbar das Lied gespielt hatte, bot seine Version von der Entstehung der Repressionen dar. Der GULAG ist die Maschinerie der Vernichtung Andersdenkender, der Verschwörung gegen Personen einer bestimmten Nationalität, die bestrebt sind, andere Völker auszurotten – vorwiegend Ukrainer.
Eine andere Variante für die Gründe der Massen-Erschießungen schlug das Väterchen vor, das die Totenmesse für die Opfer des SLON hielt. Er sagte:
- Das waren keine Verbrecher, keine Diebe. Ihre einzige Schuld bestand darin, dass sie an Gott glaubten und ihr Leben Christus verschrieben hatten.
Allerdings wissen wir alle: unter den Opfern des GULAG gab es auch viele Atheisten. Was die Verschwörung betrifft, so mögen sich damit die Historiker auseinandersetzen. Gedenken wir lieber derer, die versucht haben, gegenüber dem Terror seitens der Staatsmacht Widerstand zu leisten.
Über sie erzählte Tatjana Morgatschewa, als wir vom Sekirka-Berg zur Sawwatjewsker Einsiedelei gingen. Hier ließen sich 1429 die Staritzen Sawwatij und German nieder, von denen dann auch das Solowezker Kloster ausging. In den 1940er Jahren des vergangenen Jarhunderts lernte an der hier gegründeten Schiffsjungen-Schule der zukünftige Schriftsteller Walentin Pikul. 1922 befand sich in der Einsiedelei ein Lager für Sozialrevolutionäre, Monarchisten und Menschewiken, die hier ein recht ungebundenes Leben führten. Als der Lagerleiter beschloss, ihnen die Zeit für ihre Spaziergänge zu kürzen, ordneten sie sich nicht unter. Im Endergebnis starben vier Menschen, es gab Verwundete. Und von eben dieser Stelle holte das wissenschaftliche Forschungszentrum von „Memorial“ den Stein, der in Petersburg auf dem Troika-Platz steht. Weil Sawwatewo im Unterschied zum Sekirka – das Symbol des Widerstands darstellt, erklärt Tatjana die Wahl.
Im Programm zum Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen war ein runder Tisch vermerkt. Eröffnet wurde er vom Vorsitzenden des Moskauer „Memorial“, Walerij Dinajew, der Grüße von der Moskauer Regierung.
Solide sahen unsere Delegierten aus. Die Mitarbeiterin des Museums für die Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Norilsker Industriegebiets, Tatjana Rubin, erzählte von den Gedenkstätten, die auf dem Norilsker Golgatha errichtet worden seien und zeigte sie in einer Dia-Show. Die Bilder riefen großen Eindruck hervor. Ebenso wie der Bericht der Norilskerin Jelisweta Obst über die Aufklärungsarbeit der Vereinigung „Zum Schutz der Repressionsopfer“ und besonders über die Hilfe, welche das Kombinat und die Stadt erweisen.
„Das müsste man auch aufs Festland übertragen“, - vernahm man einen Zwischenruf aus dem Saal, als Jelisaweta Josifowna alle Vergünstigungen für die Norilsker Rehabilitierten aufzählte: ein Tausender extra zur Rente, eine Auswahl an Lebensmitteln im Wert von 1300 Rubel monatlich, materielle Hilfe aus dem Budget, eine medizinische Untersuchung pro Quartal, ein schönes Büro. Alle auftauchenden Fragen werden über eine Kommission für Rehabilitierten-Angelegenheiten entschieden, „“Norilsk Nickel“ finanziert Fahrten zu ähnlichen Begegnungen. Über die Gesetzgebende Versammlung der Region wurden Vergünstigungen für Reisen wieder eingeführt, die man den GULAG-Opfern in anderen Städten wieder weggenommen hat.
Die Solowezker zeigten großes Interesse an der Rede Walentina Beilmans aus Dudinka, die von den Sondersiedlern im Taimyr-Gebiet erzählte: Kalmücken, Chinesen, Koreaner, Wolga-Deutsche – und einer Häftlingsetappe, die 1939 von den Solowki-Inseln in Dudinka eintraf.
Wjatscheslaw Blochin präsentierte seine exklusives Werk – eine Karte des Norillag, auf deren Erstellung er zehn Jahre verwandte. Die Begegnung endete mit einer anderen Präsentation – einem Buch des Moskauer Fotografen Jurij Brodskij über die Solowki-Inseln und das Solowezker Lager. Am Abend, im Kulturpalast, sangen und spielten auf ihren Gitarren Barden der Moskauer Gruppe „Brussilow-Offensive“. Das Repertoire entsprach der GULAG-Thematik. Am nächsten Tag legte die „Aleksander Schabalin“ von der Solowezker Anlegestelle ab und brachte die Gäste des Treffens von der gastfreundlichen, vom Meereswind umwehten Insel wieder fort. Uns stand der Weg nach Kem bevor, von wo aus wir mit dem Zug nach Petersburg weiterfahren sollten – und von dort mit dem Flugzeug nach Norilsk.
Die Solowezker Inseln verschwanden im Nebel. Die Unseren, Taimyr-Deutsche, einst von der Wolga deportiert, kamen mit einem richtigen Deutschen ins Gespräch – Andreas Dekker vom Berliner „Memorial“. Galina Mussatowa fütterte an Deck Weißmeer-Möwen. Ljudmila Renner argumentierte gegenüber den Vertretern des ukrainischen “Memorial“, dass das Thema der Repressionen die Leute zusammenführen sollte – und nicht das Gegenteil eintreten dürfe.
Ich interessierte mich für die Meinung der Norilsker über die Begegnung in Sandarmoch und auf den Solowezki-Inseln.
- Wunderbar, - äußerte sich der Schöpfer der Karte des Norillag, Wjatscheslawe Blochin. –
„Norilsk Nickel“, der Organisator der Reise, vermutet wohl noch nicht einmal, dass es eine so gute Tat vollbracht hat. Das Solowezker Museum ist ganz hervorragend, da wurde eine große Arbeit geleistet.
- Dank der Gespräche am runden Tisch entstanden neue Kontakte. Die Solowezker zeigen großes Interesse am Norillag, insbesondere jene Gefangenen-Etappe, die 1939 von den Solowki-Inseln zu uns kam, - sagte die Einwohnerin von Dudinka Walentina Beilman. – Sie wandten sich mit der Bitte an und, ihnen die bei uns vorhandenen Informationen zuzusenden, wenigstens eine Liste derer, die sich damals in diesem Häftlingszug befanden. Jelisaweta Josifowna versprach Hilfe. Sehr gern möchte der Direktor des Museums der Repressionen einmal zu uns kommen. Meine Rede löste großes Interesse aus; sie war anhand von Materialien der Leiterin der historischen Abteilung des Taimyrer Museums, Nina Predtetschenskaja, vorbereitet worden. Als sie das Norilsker Golgatha zeigten, fragten die Vertreter der Delegation aus Deutschland, ob man nicht dort ein Denkmal für die Landsleute errichten könne. Wir sagten, dass man über diese Frage entscheiden werde.
- In den Medweschegorsker und Solowezker Museen – sind die Dauer-Ausstellungen zu den Repressionen bemerkenswert, - teilte Jelisaweta Obst ihre Eindrücke mit uns. – Dem Norilsker Museum fehlt es an so einer Exposition. Gefallen hat mir die Begegnung in Sandarmoch, alles war äußerst bedeutsam und berührend. Die Solowki-Inseln haben einen belastenden, bedrückenden Eindruck hinterlassen, aber am runden Tisch erfuhren wir, womit sich die anderen öffentlichen Vereinigungen beschäftigen; auch Geschenke wurden ausgetauscht. Viele waren verwundert, wie man sich bei uns in der Stadt um die Repressionsopfer kümmert. Dank dem „Norilsker Nickel“ konnten wir diese Orte sehen und dem Gedenken an die Opfern der politischen Repressionen unseren Tribut zollen.
Foto: Tatjana Rytschkowa
Text: Tatjana Rytschkowa
„Polar-Bote“, 19, 23.08.2010