Der Zugang zu einem bedeutenden Teil der Archive er Stalinepoche ist praktisch verschlossen – „geheim“! Die längst erfolgte Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten des Sowjet-Regimes wird sabotiert ...
Die Ankündigung über den guten Stand auf dem Gebiet des freien Archivzugangs im heutigen Rußland - ein reiner Mythos. Die Fakten bezeugen etwas ganz anderes. Russische Beamte haben voller Überzeugung die Funktion einer ungebetenen Zensur an der historischen Erinnerung des Volkes an sich gerissen. Die „Konterrevolution in den Archiven“ hat stattgefunden und feiert ihren Triumphzug.
Zu Beginn des Jahrhunderts befindet sich die Angelegenheit der Aufhebung der Geheimhaltung von Archivdokumenten ausschließlich in der Kompetenz der Zwischenbehördlichen Kommission zur Wahrung von Staatsgeheimnissen (MWK). Von den kümmerlichen Resultaten bekommt man durch das jährlich auf der Seite des Russischen Staatsarchivs zu veröffentlichenden Bulletins eine Vorstellung. Pro Jahr werden von mehreren hundert Akten die Geheimhaltungsvermerke entfernt – zum größten Teil von wenig bedeutsamen Dokumenten. Bis die angekündigte Aufhebung der Geheimhaltung endlich ihre Auswirkung auf die Geschichtsforscher hat, vergehen Jahre, und bis dahin kann es gut sein, dass man sie doch wieder in geheime Verwahrung genommen hat. Und so bleiben viele für Wissenschaft und Gesellschaft bedeutsame Akten und Dokumente nach dem Fazit der „Geheimhaltungsaufhebung“ der Kommission bis in alle Ewigkeit in geheimer Verwahrung.
Es gibt nur wenige Experten in der Kommission; unter ihnen gibt es offenbar reaktionäre, prokommunistische Ansichten, die nicht wirklich an der Öffnung der unangenehmen Seiten unserer Vergangenheit interessiert sind. Die Kommission selbst besteht ausschließlich aus Beamten unterschiedlicher Behörden, die kaum eine Vorstellung von dem haben, was für die historische Wissenschaft von Interesse ist. Ihre Arbeit wird charakterisiert durch extreme Langsamkeit, ein wahrschaft höhnisches „Schildkrötentempo“. Mehrere Jahre dauert es, bis die Protokolle aus Sondermappen des Politbüros des Zentralkomitees aus den Jahren 1922-1952 geöffnet waren, und etliche weitere Jahre brauchte die Aufhebung der Geheimhaltung für zugehörige Materialien – und dabei wurde ein Teil trotzdem auch weiterhin in geheimer Verwahrung belassen (darunter alles, was die Jahre 1937 und 1938 betraf). Es fällt schwer, das, was die MWK bisher auf diesem Gebiet geleistet hat, als eine für die Gesellschaft wichtige Arbeit zu bezeichnen – es ist nichts weiter, als die versuchte Imitation einer solchen.
Als schädlich erwies sich die Monopolisierung des Prozesses der Aufhebung der Geheimhaltung durch eben diese Kommission. Demzufolge wurden von dieser Sache professionelle Historiker und sogar Archivmitarbeiter jener Archive, in denen die Öffnung erfolgte, vollständig ferngehalten. Laut Eingeständnis der Leiterin der Föderalen Archivagentur A.N. Artisowa können die föderalen Archive auf die Aufhebung der Geheimhaltung keinerlei Einfluß nehmen, und ihre Versuche, eine Vollmacht zur Offenlegung von Dokumenten der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu erlangen, fand keine entsprechende Unterstützung – nicht einmal bei so „harmlosen Themenbereichen wie Kultur, Propaganda, Ideologie, Aufklärung und Sport“.
Auch dieGründung einer Kommission zum Widerstand gegen Versuche der Geschichtsfälschung brachte nicht die erwartete Veränderung. Es schien, dass die Logik ihrer Arbeit selbst zu einer Massenöffnung der Archive führen sollte. Wie kann man eine Fälschung widerlegen, wenn man die geballte Faust in der Jackentasche läßt? Indessen führte die Angelegenheit zur Herausgabe einer ganzen Reihe von eindrucksvollen Sammelwerken durch die Kommission, wo neue Dokumente in sehr geringem Umfang verwendet wurden. Die kürzlich erfolgte Ankündigung ihres Vorsitzendebn S.J. Naryschkin (gleichzeitig auch Vorsitzender der MWK) gibt diesbezüglich ebenfalls keinen Anlaß zum Optimismus. Nachdem der Leiter ganz allgemein von der Notwendigkeit der Aufhebung der Geheimhaltung gesprochen hatte, rief er dazu auf, dabei nicht „die Grundlagen der Staatssicherheit zu untergraben“. Es ist ganz offensichtlich, dass die im Beamtenstand befindlichen Beschützer unter der Formulierung „nicht untergraben“, jedes beliebige Sujet der vaterländischen Geschichte „passend machen“ können.
Der sichtbare Teil an Dokumenten der Sowjetepoche wird nicht in den Staatsarchiven verwahrt, sondern „auf Abruf“ in Behördenarchiven, das heißt mit einer vorübergehenden Aufbewahrungsfrist, nach deren Ablauf die Dokumente wohl an die staatlichen Archive übergeben werden sollen. Das Gesetz sieht für diese Frist einen Zeitraum von 15 Jahren vor. Einige befinden sich allerdings an einem „Sonderstandort“ – dne privilegierten Behördenarchiven (Archiv des Präsidenten der RF, dem Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), Archiv für Außenpolitik dr RF, Zentralarchiv des Außenministeriums und andere), die sich das Recht herausgenommen haben, bedeutsame Dokumentenkomplexe aus der Sowjetepoche unbefristet in Verwahrung zu behalten.
So wird auch weiterhin ein umfangreicher „historischer Teil“ des Archivs des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewisten) aus den Jahren 1919-1952 im Archiv des Präsidenten der Russische Föderation verwahrt. Ähnliche Behördenarchive erinnern an „feudale Nester“, die hauptsächlich einem engen Kreis von „Ihresgleichen und zugelassener Personen“ dienen. Diese Einrichtungen monopolisieren auf illegale und unmoralische Weise Informationen über die Vergangenheit der Sowjetepoche in ihren behördlichen Interessen. Wem Zugang verschafft werden soll und wem nicht, welche Akten an die Forscher herausgegeben werden sollen und welche nicht – das entscheiden die Leiter dieser Archive ganz willkürlich nach eigenem Ermessen. Forscher, die nicht zu der zahlenmäßig sehr kleinen Elite der den Beamten nahestehenden Gruppen gehören, erhalten von diesen Organisationen massenhaft demütigende Absagen mit ausgedachten, bürokratischen Formulierungen.
Auch ich geriet vor einigen Jahren in eine derartige Situation, als ich aus dem Zentralarchiv des FSB ein unverständliches Stück Papier erhielt, aus dem man die Schlußfolgerung ziehen konnte, dass es unmöglich sei, irgendeinem Mitarbeiter des Instituts für russische Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften die Möglichkeit zu bewilligen, sich innerhalb der Lubjanka mit dem Thema des Verhältnisses von Tschekisten zur Religion in den 1920er bis 1940er Jahren zu befassen. Das Papiermit der Ablehnung erwies sich ebenfalls als streng geheim. Man zeigte es mit „unter der Hand“ und verbot mir eine Abschrift davon anzufertigen, - offenbar deswegen, damit das „Opfer“ der Verweigerung das Dokument nicht veröffentlichen oder damit vor Gericht ziehen konnte.
Und wer bekommt ein offizielles Antwortschreiben mit einer Absage? Nicht irgendwelche Leute „von der Straße“ – sondern ehrbare Wissenschaftler, Dkoktorenanwärter, Mitarbeiter akademischer Institute und Universitätsdozenten. Bei einem derartigen verhalten fühlen sich die Forscher unfreiwillig als „Bürger zweiter Klasse“. In einer Welt, in der derartige Regeln gelten, ist auch die Ankündigung der Aufhebung der Geheimhaltung von mehreren Dokumentenkomplexen in den genannten Archiven tatsächlich völlig bedeutungslos: Geschichtsforscher werden sowieso nicht an sie herangelassen. Daher sollte man sich von den Zahlen über die formal „öffentlich zugänglichen“ Akten, die von den Beamten genannt werden, keinesfalls irreführen lassen.
Vielleicht ist es eine Sünde, wenn ich mich beklage. Schließlich besaß ich Zutritt zum allerheiligsten aller Archive – dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation. Aber was war dies für ein Zutritt? Man erlaubte mir lediglich, mich mit einem Teil Dokumente aus dem Verzeichnis „Antireligiöse Angelegenheiten“ vertraut zu machen. Die Herausgabe von etwa einem Drittel der Akten wurde mir aus äußerst merkwürdigen Beweggründen verweigert: „Wozu brauchen sie die denn? Darin ist die Rede von Muselmanen, Sektierern, Buddhisten (ich wollte die Geschichte der Religion als Ganzes erkunden, nicht nur den orthodxen Glauben. – I.K.), und außerdem gibt es in diesen Unterlagen viele Geheimdokumente“. Allerdings enthielten auch die an mich herausgegebenen Akten geheime Dokumente in verschlossenen Umschlägen. Das unbestrittene Recht des Forschers, Fakten zu seinenThemenbereichen in anderen Verzeichnissen und Archivbeständen zu enthüllen, wurde mir verweigert. Die Anwendung des Rechts „deine Hand ist der Herrscher“ hat zur Folge, dass die Funktion der Nutzung von Dokumenten in der Verordnung des Präsidenten überhaupt nicht vorgesehen ist. Es fehlt im Archiv sogar ein Lesessal, in dem die Wissenschaftler an den Dokumenten arbeiten können. Das Mitbringen von Notebooks als Zeichen einer überschüssigen Zivilisation ist strengstens verboten. So lassen sich also die wenigen zugelassenen „Glücklichen“ in den freien Zimmern der Archivmitarbeite nieder, um, wie zu Sowjetzeiten, Konspekte mit der Hand zu schreiben.
Was die historischen kirchlichen Sujets betrifft, so befindet sich beispielsweise im Archiv des Präsidenten der RF der Schriftverkehr zwischen Stalin un den Partei- und Tschekisten führern über die Liqidierung der unitarischen Kirche in der Ukraine Ende der 1940er Jahre unter Verschluß. Es stellt sich die Frage, welchen Schaden die Veröffentlichung ähnlicher „Geheimnisse“ wohl verursachen würde, außer dass sich die Beamten, welche diese auch im 21. Jahrhundert noch unter streng geheimenm Verschluß halten, wahrscheilich in heftigen Krämpfen winden würden?! Der Verschluß „themenbezogener Aktenordener“ des Politbüros des Zentralkomitees im Archive des Präsidenten der RF behindert das Studium der Geschichte der politischen Repressionen. In den Sammelwerken der Serie „Rußland . 20. Jahrhundert“ „Lubjanka. Stalin ....“ ist nur ein kleiner Teil der Dokumente aus den Aufzeichnungen der Straforgane veröffentlicht; die meisten liegen nach wie vor unter Verschluß. Und das entgegen dem § 7 des Gesetzes über das Staatsgeheimnis, das die Geheimhaltung von Informationen über Fakten der Rechts- und Freiheitsverletzung von Menschen verbietet. Verletzt wird auch der geltende Ukas von B.N. Jelzin vom 23. Juni 1992 über die Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten, die als Grundlage von Massen- repressionen dienten.
Dieselbe Verletzung von Gesetz und Moral – bei den total geheim gehaltenen Dokumenten zur Geschichte des kommunistischen Terrors im Zentralarchiv des FSB. Die Beispiele kann man der kürzlich erstellten Arbeit von W.N. Chaustow „Stalin, das NKWD und die Repressionen der Jahre 1936-1938“ entnehmen. Dieses Buch gründet sich fast vollständig auf Materialien, die bis heute den Forschern nicht zugänglich gemacht worden sind. Wenige solcher geheimen Dokumente wurden von Chaustow im Anhang des Buches veröffentlicht (darunter eine Auskunft von Jeschow an Stalin über Repressionen gegen „Kirchenleute“ Ende 1937. Sie beweisen ganz klar und eindeutig, dass es sich bei vielen „Geheimnissen“, die sich auf die 1930er bis 1940er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beziehen und die im Zentralarchiv des FSB aufzubewahren sind, hauptsächlich um Geheimnisse aus der Zeit des stalinistischen Terrors handelt, die der Wissenschaft und der Öffentlichkeit auf gesetzwidrige Weise vorenthalten werden.
Zahlreiche Sondermitteilungen Jagodas, Jeschows, Berijas, Merkulow und Abakumows an Stalin, Schriftverkehr von Verwaltungsbehörden und NKWD-Abteilungen liegen unter Verschluß und werden unter dem „Siegel des Vergessens“ gehalten. Unzugänglich sind auch der Nachkriegsberichte von Abakumow über die Lage an der „Kirchenfront“ und die Dokumentationen entsprechender „Kirchen“-Abteilungen der stalinistischen Sonderdienste, die detaillierte Zusammenfassung eines Berichts von Jeschow auf dem Juni-Plenum des Zentralkomitees im Jahre 1937. zwei der wichtigsten Rundschreiben im Kampf gegen die „Kirchenleute“ in den Jahren des Terrors vom 27. März und 12. Oktober sowie vom 5. November 1937 (die den Historikern lediglich durch eine kurze Inhaltswiedergabe bekannt sind). Usw.
Es verhält sich so, dass das Zentralarchiv des FSB das objektive und
allumfassende Studium der Geschichte des stalinistischen Terrors unmittelbar
behindert, aber auch das der Beziehungen zwischen Kirche und Staat von den
1920er bis zum Beginn der 1950er Jahre, die sich in erheblichem Maße im Bereich
der Sonderdienste abspielten. So also wird durch künstliche Aufrechterhaltung
ganz spezifischer Elemente die Erinnerung an die sowjetische Vergangenheit in
wesentlichen Maße verhindert, und das Studium vieler wichtiger Themen der
vaterländischen Geschichte in einem wesentlichen Umfang zur Verarmung gebracht.
Eine
politische Welle seitens der Landesleitung ist zur Überwindung des Widerstands
der Archivverwahrer von unbedingter Notwendigkeit, damit die Geheimhaltung all
dieser Dokumente aufgehoben wird und sie er Öffentlichkeit und der Wissenschaft
zugänglich gemacht werden können.
Es gibt eine Unmenge dieser geheimen Dokumente im Zentralarchiv des FSB und im Archiv des Präsidenten der RF. Aber bislang hat sich noch niemand darangemacht, sie aus dem Verschluß zu holen, und sie stellen einen ganz schreckliches „Staatsgeheimnis“ dar. Ja, offenbar ist es vom „staatlichen“ Standpunkt aus sehr unangenehm, unpassend und überhaupt auch ganz unzweckmäßig den Leuten zu erlauben, Einzelheiten über die Techniken der Vernichtung und Ausbeutung des eigenen Volkes durch das totalitäre Regime zu erfahren, darüber, welche Mechanismen, Mittel und Kader dabei in Aktion waren. Des weiteren findet sich bis heute eine Masse von Dokumenten „im Verborgenen“, welche Stalins Rolle als Organisator und Leiter des Massenterrors, die Rolle der Vorgesetzten und Führer in den niederen Organen enthüllen. Die Bürger brauchen offenbar nichts Überflüssiges wissen, auch nichts über die Verfehlungen der Innenpolitik, die Geschichte der Landesverteidigung, die Geheimnisse politischer Terrorakte, usw.
„Aus Versehen“ ins Zentralarchiv des FSB geratene vereinzelte „kultivierte“ Wissenschaftler sind ebenfalls ihrer freiheitlichen, kreativen Suche beraubt und werden gezwungen, das zu „fressen“, was man ihnen vorsetzt. Der einst zum Zentralarchiv des FSB zugelassene Forscher der Repressionspolitik der Sowjetmacht – W.F. Sima – erhielt einen „Almosen“: man erlaubte ihm ganz plötzlich, sich mit den archivierten Ermittlungsunterlagen von Robert Eich vertraut zu machen, einst einflußreicher Parteiführer, über dessen Folterungen N.S. Chruschtschow noch in einem geheimen Bericht auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gesprochen hatte. Zum Befremden des Doktors der Geschichtswissenschaften wurden ihm anstatt der Eich-Akte lediglich unbedeutende Fragmente zur Verfügung gestellt. Die überwiegende Mehreheit der Blätter wurde von den Archivwächtern vor der Neugier des Forschers zuverlässig in zugeklebten Umschlägen verborgen gehalten. Aber der Forsche hatte trotzdem noch Glück. Jetzt ist selbst eine so kurze und inhaltslose Bekanntmachung mit Repressiertenakten für die Forscher zur Unmöglichkeit geworden. Das Jahr 2006 wurde zu einer wichtigen Hürde, die von den Mitarbeitern des „Ministeriums der Justiz“ im siegreichen Vormarsch für die geschichtliche Erinnerung genommen wurde. Man verabschiedete die Verordnung über die Art und Weise des Zugangs zu Materialien eingestellter Straf- und Verwaltungsverfahren in Bezug auf Personen, die politischen Repressionen ausgesetzt waren. Auf Grundlage dieses staatlichen Gesetzesaktes können entweder die ehmals Repressierten selbst, ihre Verwandten oder Nachfahren mit notarieller Sondervollmacht Zutritt zu den Archivunterlagen bekommen.
Von diesem Moment an wurde the Teilhabe von Wissenschaftlern am Studium von Ermittlungsverfahren (die reichhaltigste Quelle der Sowjetepoche) fast gänzlich unmöglich. Versuch doch mal, irgendwelche „Nachfahen“ von verschollenen Mitarbeitern des Gebietskomitees oder geweöhnliche Geistliche, die nach dem regulären Zuteilungsschlüssel liquidiert wurden, ausfindig zu machen. Und die Akten nicht rehabilitierter Personen liegen im Zentralarchiv des FSB unter festem Verschluß – allein schon aufgrund des Niedergangs der sich windenden, normenschaffenden Beamtenschaft. Aber verzeihen Sie, meine Herren Vorgesetzten, wie soll man denn überhaupt die Geschichte des Stalin-Terrors erforschen, wenn man nicht einmal die Ermittlungsakten von Jeschew, Berija, Abakumow, Frinowskij, Merkulow und anderen Handlangern zur Verfügung hat?
Dieser ganz offensichtliche und obskur-konservative „Erlaß“ schuf ein unüberwindliches Hindernis sogar in Bezug auf die Arbeit der Kirchenhistoriker und der Russischen orthodoxen Kirche beim Studium des Lebens der neuen Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Für die orthodoxe Universität des Heiligen Tichonow wurde einstweilen eine Ausnahme gemacht, aber vor Ort hat sich das Bild auf radikale Weise verändert.
Auf der wissenschaftlichen Konferenz in Jekaterinburg zum Thema „Der orthodoxe Glauben im Schicksal des Urals und Rußlands“ wurden im April dieses Jahres Fakten angeführt, wie die zuvor so „gastfreundlichen“ Archive der lokalen FSB-Behörden vor den Kirchenhistorikern ihre Pforten schlossen. Na, wie soll man denn unter solchen Voraussetzungen die Geschichte der Kirchenverfolgungen erforschen? Überhaupt nicht! Bei diesen neuen, aus irgendwelchen Fieberphantasien heraus entstandenen Bedingungen konnte W.A. Schentalinskij bereits nicht mehr die Serie seiner wunderbaren Bücher über Schriftsteller in den Folterkammern der Lubjanka schaffen. Er konnte einfach die meisten Nachfahren der in den Mühlsteinen des Terrors umgekommenen Akteure auf dem Gebiet der Kultur nicht auffinden, um die Archivleiter mit ihren geliebten Papierchen zuzuschütten.
Für die heutigen Beamten ist die rechtswidrige Absolutisierung eines „persönlichen Geheimnisses“ mit seiner 75-jährigen Aufbewahrungsfrist, zur universellen Methode im Kampf gegen die Geschichtswissenschaft geworden, mitsamt ihren Gelehrten und Forschungsarbeiten. Es wurde bereits mehrfach erklärt, dass das Recht von Toten auf persönlichen Datenschutz zweifelhaft ist und dass dazu höchstens intime und finanzielle Angelegenheiten zählen können, nicht jedoch biographische Personendaten, und schon gar nicht die von ihnen begangenen Verbrechen, ihr Amts- und Machtmißbrauch. Indem sie unter dem Vorwand des „persönlichen Datenschutzes“ die Herausgabe von Aktenmaterial zur Geschichte der Repressionen verweigern, spucken die Beamten genau damit auf die Rechte der Opfer, respektieren und schützen dabei aber gleichzeitig die Rechte auf Verhüllung der Verbrechen und Schandtaten der zahlreichen Henker und Denunzianten, Soldaten und Offiziere der Armee des kommunistischen Terrors.
Die 75-jährige Geheimhaltungsfrist in den Archiven wurde seit Beginn des neuen Jahrhunderts faktisch insgeheim ersetzt durch die im geltenden Gesetz über Archivangelegenheiten verankerte 30-Jahres-Frist bis zur Aufhebung der Geheimhaltungpflicht. Die durch die Beamten vorgenommene Fetischisierung des „persönlichen Datenschutzes“ flößt den Forschern schon eine gehörige Angst ein. Sie sind gezwungen, unter dem Damokles-Schwert vermeintlicher Verfolgung zu einer List zu greifen. Ein Beispiel dafür ist die kürzliche Veröffentlichung eines Sammelwerks von Dokumenten zur Geschichte der Repressionen im Altai-Gebiet. Die Redaktion hat die Vor-, Vaters- und Familiennamen der Repressierten durch die ersten Buchstaben ihres Nachnamens ersetzt, denn nach der hirnrissigen Logik der Beamtenwillkür stellt die vollständige Nennung der Namen dieser einfachen Bauern, Arbeiter und Beamte eine Gesetzwidrigkeit dar .... es fällt unter ihren persönlichen Datenschutz, es geht um Vertrautheiten aus ihrem Leben!
Aber wie kann man denn überhaupt die Geschichte ohne Menchen und ohne Persönlichkeiten aufzeichnen, die als große, aber auch wenig bekannte Akteuere des Geschichtsprozesses „von Bord“ gegangen sind? So kann man keine Geschichte der Sowjetunion und Rußlands schreiben; das ergibt allenfalls ein paar trockene Nachschlagewerke.
Warum kann man in der Zeit, in der über die Teilnahme der sowjetischen Seite an den Plänen einer geopolitischen Weltumgestaltung diskutiert wird, den Wissenschaftlern nicht Bedingungen für eine allumfassende Erforschung der Außenpolitk schaffen – wenigstens aus der Lenin-Stalin-Chruschtschow-Periode? Aber das ist nicht das edelmütige Ziel, was die Mitarbeiter des Archivs der Außenpolitk der RF in Besorgnis versetzt. Sie suchen sich dort nicht selbst die Sie interesierenden Akten anhand der verzeichnis heraus, wie es sonst in der wissenschaftlichen Welt üblich ist. Nein! Nach einem für Sie erstellten Plan oder Programm werden die Unterlagen für Sie herausgesucht ... der Archivbeamte macht das, der häufig noch nicht einmal Spezialist auf Ihrem Gebiet ist, und er trifft für Sie die Entscheidung, was Sie sich anzuschauen haben und was nicht.
Auch in den Staatsarchiven herrscht eine unglückliche Situation in puncto Aufhebung der Geheimhaltung. Das größte Archiv, in dem Dokumente zur geschichte der kommunistischen Partei aufbewahrt werden, ist das Russische Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI). Wichtige Aktenkomplexe befinden sich auch dort immer noch unter strengem Verschluß. So weigerte sich beispielsweise unlängst die Zwischenbehördliche Kommission zur Wahrung von Staatsgeheimnissen Materialien von Sonderakten des Sekretariats des Zentralkomitees der WKP (B) aus den Jahren 1922-1952 sowie der Kommission des Politbüros der WKP (B) (Fond 17, Verz. 161, 164) zugänglich zu machen. Unter den letztgenannten befinden sich ungefähr 500, für die Forscher der stalinistischen Repressionen äußerst interessanten Akten der Kommission zu Gerichtsangelegenheiten, an deren Spitze M.I. Kalinin stand. Ihre Materialien würden es uns gestatten, unser Wissen zur Geschichte des Terrors wesentlich zu erweitern.
Seitens der Historiker besteht ebenfalls großes Interesse an den Kommission des Zentralkomitees für Verteidigung, für Staatssicherheit und anderen. Aber Dank den unbekannten Helden an der Aufbewahrungsfront ist es unmöglich, dieses Interesse zu befriedigen. Viele Archivbestände, Verzeichnisse und Akten, deren Geheimhaltung formell längst aufgehoben wurde sind den Forschern auch tatsächlich „zugänglich“ – allerdings nur äußerst lückenhaft.
Seit vielen Jahren gilt die Sorge der Forscher die Geheimhaltung eines bedeutenden Teils des Stalin-Archivfonds. Von den 1703 aus dem Archiv des Präsidenten der RF an das Russische Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte übergebenen Akten des persönlichen Staatsarchivs (Fond 558, Verz. 11) – sind mehr als 300 (!) bis heute unter Verschluß. Fast der gesamte Schriftwechsel des Führers mit den Straforganen, den Verteidigungbehörden, in ausländischen Angelegenheiten usw. dürfen nicht gezeigt werden. Ebenso verschlossen sind die meisten analogen Dokumente in den formell längst geöffneten Akten des Molotow-Fonds.
Interessant verhält es sich auch mit der „Aufhebung der Geheimhaltung“ von Dokumenten der Außenpolitischen Kommission des Zentralkomitees (Fond 17, Verz. 137), das von Stalin in den Nachkriegsjahren geschaffen wurde. Eine Durchsicht der Verzeichnisse enthüllte, dass ein erheblicher Teil ihrer Aktenbestände den Forschern überhaupt nicht zugänglich war. In der Hauptsache handelt es sich dabei um Materialien in Zusammenhang mit den geheimen Operationen des Zentralkomitees zum Vorantreiben der „Weltrevolution“ und die Ausrichtung von Kadern und Finanzen mittels Propagandamethoden u.ä. an diese Front. Braucht es eine Bestätigung dafür, dass die Verwahrung solcher „Geheimnisse“ mit den Interessen des heutigen Rußlands nichts gemein hat?
Womit soll man beispielsweise den Verbleib in geheimer Verwahrung von Akten mit derartigen Aufschriften erklären: „Mai 1949 – April 1950. Berichte, Übersichten, Briefe des Ministeriums für ausländische Angelegenheiten der UdSSR, der Hauptverwaltung des Obersten Gerichts der UdSSR, der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland über politische Parteien und Gruppen in China <...> über die Haltung gegenüber geflohenen Gutsbesitzern und ihrem nach China geschickten Eigentum <...> über die Arbeit der Gesellschaft für chinesisch-sowjetische Freundschaft. <...> Informationsmaterialien über Territorien, Bevölkerung, Strukturen <...> Machtorgane, Verstaatlichung von Grund und Boden, landwirtschaftliche Produktion, Lage der Propaganda- und Kulturabeit in der Mandschurei u.a. mit Auskünften und Vermerken der Unterabteilungen Chinas, Koreas und der Mongolei. Gegenüber den Bezeichnungen für die einzelnen Akten prangt im Verzeichnis die Aufschrift: „Geheim“.
Ebenso freudlos verhält es sich auch mit der Aufhebung der Geheimhaltung des Verzeichnisses der Administrativ-Abteilung des Zentralkomitees (Fond 17, Verz. 136), das nach dem Krieg von den Kadern der Straf-, Militär-, Kontroll-, Finanz- und anderen Behördendes Stalinschen Staatsapparates geführt wurde. Muß man erst beweisen, dass auch in diesem Fall die Gesellschaft das Recht besitzt, nicht nur eine von irgendeinem der weiter oben erwähnten Personen dosierte, sondern die vollständige Wahrheit zu erfahren? Der reichhaltige Archivfond der Zeitung „Prawda“ („Wahrheit“) (Fond 364) ist formell geöffnet, aber er ist nicht zugänglich, weil er bis heute ... nicht ordentlich sortiert wurde. Im Russischen Staatsarchiv für Sozial- undOPolitikgeschichte arbeiten bemerkenswerte professionelle Archivmitarbeiter, aber sie sind nicht imstande, die Situation zu verändern. Um die Lage bezüglich der Zugänglichkeit der Archive zu verbessern, reicht es nicht, lediglich die Geheimhaltung aufzuheben; genauso notwendig ist es, die Archive mit Personalbestand und Finanzen zu stärken und den Beruf des Archivmitarbeiters zu einem angesehenen und gut bezahlten Job zu machen.
„Ein heiliger Ort bleibt nicht leer“. Das künstlich herbeigeführte Ausbremsen
der Geschichtsforschung der Sowjetepoche mittels bürokratischer Hindernisse, die
zwangsmäßige
Begrenzung ihrer Quellengrundlagen schafft ein breites Feld für die historische
Mythologie und pseudohostorische Publizistik. Der fortgesetzte wiederrechtliche
Verschluß eines Großteils der Archive der Sowjetepoche – bedeutet eine
Ausbremsen auch in der kulturellen und geistigen Entwicklung der Gesellschaft,
ein schädliches Zerstäuben ihrer historischen Erinnerung und eine ganz
offensichtliche Untergrabung des von D.A. Medwedjew verkündeten Progarmms der
Modernisierung des Landes durch bürokratische Beamte. Es ist erforderlich, die
Worte des Präsidenten der Russischen Föderation darüber, dass „die Behörden die
Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten im Zusammenhang mit den strittigen
Seiten der Geschichte“ in die Realität umzusetzen.
Man darf die neue Generation nicht anhand von Halbwahrheiten erziehen. Man muß in ihnen bewußte Staatsbürger sehen und nicht Schwachsinnige, die man besser nicht mit schrecklichen und unangenehmen Geschichten erschrecken sollte. Die Linie zur Kultivierung eines positiven Musters der Sowjetgeschichte zum Nachteil ihres objektiven Studiums, mit all seinen Plus- und Minusvorzeichen, Errungenschaften, Verbrechern und Tragödien, - ist schon in der Wurzel fehlerhaft; sie führt durch ihre Lügen zum Zerfall der Gesellschaft, der Aufzucht anormaler Zyniker, die nach dem Prinzip „der Zweck heiligt die Mittel“ regieren.
Der Sarkophag der Archiv-Geheimhaltung muß zerstört werden.
Igor Kurlandskij,
Doktor der Geschichtswissenschaften,
Leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für russische Geschichte
der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Neue Zeitung, 20.10.2010