Aufruf an die Gesellschaft und den Präsidenten Rußlands am Vorabend des Tages der Opfer politischer Repressionen.
Die heutige Russische Föderation kann als souveräner, demokratischer Rechtsstaat nicht Nachfolger der Politik des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion sein, der für die Massenrepressionen gegen Bürger des eigenen Staates, die abenteuerlichen Versuche zur Durchsetzung der „Weltrevolution“ verantwortlich ist usw. Die Rechtsnachfolge der Russischen Föderation und der UdSSR ist juristisch begrenzt und erstreckt sich lediglich auf einige Aspekte in den internationalen Beziehungen. Jedoch befindet sich ein Großteil der Archivdokumente der Sowjet- (und sogar der Stalin-) Ära nach wie vor unter geheimem Verschluß oder bleibt den Forschern (siehe dazu: Igar Kurlandskij „Über der Geschichte kreisen die Geier“. – „Neue Zeitung“; N° 117 vom 20.10.2010) mit Hilfe künstlich geschaffener Hindernisse unzugänglich. Die beharrliche Verwahrung unter Verschluß von Millionen Akten zur Geschichte der politischen Repressionen in der stalinistischen Epoche und in der Folgezeit ruft in der Öffentlichkeit Entrüstung und Unverständnis hervor.
Dieser Zustand in Bezug auf Geheimnise der Sowjetepoche ist für die heutigen Verhältnisse in der Gesellschaft, die voll und ganz bereit ist, alle Wahrheiten (auch die unangenehmsten) aufzunehmen und zu verstehen, äußerst unangemessen. Wir rufen daher zu einer grundlegenden Änderung der Sachlage im Hinblick auf die Aufhebung der Geheimhaltung und Zugängigmachung der Archive für die Geschichtsforscher sowie zur Vereinigung der Bemühungen von Gesellschaft und Staat in dieser Richtung auf.
Es ist unerläßlich, die an der Schwelle der Jahrhunderte entstandene Ordnung der Geheimhaltungsaufhebung von Archivdokumenten abzuschaffen, die sich nicht bewährt, sondern vielmehr dazu geführt hat, dass das Erforschen der Geschichte der Sowjetunion stagniert hat. Wir äußern unser Mißtrauen gegenüber der auf diesem Gebiet tätigen Zwischenbehördlichen Kommission zum Schutz von Staatsgeheimnissen und fordern, dass die Funktionen der Aufhebung der Geheimhaltung in Bezug auf die meisten Dokumenten-Komplexe der Sowjetepoche aus ihrem Zuständigkeitsbereich herausgenommen werden und dass zu dieser Arbeit Historiker, Archiv-Fachleute und namhafte Personen aus Wissenschaft und Kultur hinzugezogen werden.
Wir verlangen ferner, dass die im Gesetz über Archivangelegenheiten der Russischen Föderation festgelegten Normen endlich anfangen zu greifen, nach denen Dokumente, die eine Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren überschritten haben, zugängig zu machen sind (in der Realität sieht es so aus, dass derzeit die Mehrheit der Dokumente bereits seit 70-80 Jahren unter Verschluß liegt). Alle Ausnahmen von dieser Regel müssen ausdrücklich motiviert und juristisch festgelegt und bestätigt sein. Wir bestehen darauf, dass alle Dokumente, die den Zeitraum vor 1953 (einschließlich das Jahr 1953 selbst) betreffen, unverzüglich geöffnet und den Forschern zugängig gemacht werden. Ausnahmen dürfen allenfalls bei Materialien über Massenvernichtungswaffen und der äußeren Spionage vorgenommen werden.
Notwendig ist auch die Abschaffung des gemeinsamen Befehls des Ministeriums für Kultur, des MWD und des FSB der Russischen Föderation vom 25. Juli 2006 unter dem Aktenzeichen N° 375/584/352 über die Bestätigung der Situation „Zur Art und Weise des Zugangs zu Materialien .... in Bezug auf eingestellte Straf- und Verwaltungsverfahren gegenüber politisch repressierten Personen....“; es handelt sich hierbei um einen unrechtmäßigen und reaktionären Gesetzesakt, der die Historiker von der Arbeit mit den wichtigsten Quellen zur Geschichte der politischen Repressionen, wie beispielsweise den Archiv-Ermittlungsakten von Opfern politischer Verfolgung, fernhält.
Der Zugang derartiger Unterlagen für Geschichtsforscher muß in vollem Umfang wiederhergestellt werden. Die per Anordnung bestätigte Sanktion verletzt in grober Weise die Rechte von Wissenschaftlern und die Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft, aber auch den § 7 des Gesetzes über das Staatsgeheimnis und den geltenden Ukas „Über die Abschaffung einschränkender Vermerke...“ vom 23. Juni 1992. (Diese Gesetzesakte waren ebenfalls dazu berufen, der Öffentlichkeit den Zutritt zu Dokumenten zur Geschichte der Repressionen zu garantieren).
Wir protestieren gegen die Fetischisierung des sogenannten Personen- und Familien-Datenschutzes durch Archivmitarbeiter und Beamte, die diesen Datenschutz zum Vorwand nehmen, nun in großem Umfang den Historikern den Zugang zu den Archiven und die Herausgabe der meisten Akten, die formell längst nicht mehr der Geheimhaltung unterliegen, zu verweigern – ein Verhalten, welches der Wissenschaft, aber auch der Gesellschaft im allgemeinen, kolossalen Schaden zufügt. Es ist notwendig, den Begriff „persönlicher Datenschutz“ endgültig per Gesetz streng zu definieren, seine Anwendung im Hinblick auf Verstorbene auszuschließen und ihn auch bei biographischen Daten, Zeugenaussagen über repressierte Personen oder die Teilnahme von Personen an Repressionsmaßnahmen aufzuheben.
Wir fordern für Historiker die Gewährleistung eines ungehinderten Zutritts zu den Behördenarchiven, in denen die umfangreichsten Materialkomplexe aus der Sowjetepoche , beginnend mit den Jahren 1917-1918, zur Verwahrung liegen. Es handelt sich dabei um das Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation, das Zentralarchiv des FSB, das Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, das Zentralarchiv des Ministeriums für Verteidigung und andere. In den genannten Aufbewahrungsorten, sofern diese nicht die vom Gesetz vorgegebene Übergabe ihrer Dokumente in staatliche Verwahrung durchführen, sollten dann im Zusammenhang mit Forschern zumindest dieselben Arbeitsregeln gelten, die auch in den staatlichen Archiven des Landes existieren.
Wissenschaftler müssen Zugang zum wissenschaftlichen Auskunftsapparat behördlicher Archive erhalten und dort die Möglichkeit einer ungehinderten Suche zu den sie interessierenden Themen bekommen. Die bisherige Verfahrensweise muß abgeschafft werden, nach der die Archiv-Mitarbeiter des Archivs des Präsidenten, des Zentralarchivs des FSB, des Archivs der Außenpolitik der Russischen Föderation und anderen nach den Anfragen der Forscher eigenmächtig Akten heraussuchen und nach eigenem Ermessen und anhand ihrere eigenen Beweggründe entscheiden, was sie den Wissenschaftlern aushändigen wollen, wobei sie auf diese Weise eine gesetzeswidrige Zensur von Information betreiben. Die Nichtherausgabe von Dokumenten aufgrund irgendwelcher engstirnigen Behördenabsichten, deren Geheimhaltung längst aufgehoben wurde, muß per Gesetz verboten werden. Bei einer fast vollständigen Nichtzugängichkeit umfangreicher Behördenarchive verliert jeder Besuch eines Archivs für den Historiker seinen Sinn, selbst wenn dort zumindest formell und in kleinem Umfang eine Aufhebung der Gehimhaltung erfolgt ist.
Wir wenden uns mit dem Appell an den Präsidenten Rußlands, an die Akteure des staatlichen und des politischen Lebens im Lande, die notwendigen gesetzlichen und politischen Schritte zur Lösung des Problems der Öffnung und Zugängigkeit der Archive der Sowjetepoche zu unternehmen.
Wir wenden uns an die Masseninformationsmittel mit der Bitte, sich mit dem Problem der Archivgeheimnise an die Menschen zu wenden, es zum Gegenstand der Diskussion in Presse, Rundfunk und Fernsehen zu machen. Wir rufen zur Schaffung einer informativen Datenbase über alle Fälle von rechtswidriger und antidemokratischer Geheimhaltung von Dokumenten aus der Stalin-Epoche in staatlichen und behördlichen Archiven des Landes auf.
Wir wenden uns an die Akteure in Wissenschaft und Kultur, die Vorsitzenden religiöser Konfessionen mit dem Appell, verstärkt am Kampf für die Öffnung der Geheimnise der kommunistischen Epoche teilzunehmen, um die Aufhebung der Geheimhaltung in den Archiven, die Abschaffung der derzeitigen Zulassungsordnung für Historiker zu den Archivquellen und die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für eine ausführliche, objektive Erforschung der Sowjetzeit unserer vaterländischen Geschichte zu erreichen.
Wladimir Lawrow ,
Doktor der Geschichtswissenschaft,
stellvertretender Direktor des Instituts für russische Geschichte der Russischen
Akademie der Wissenschaften;
Igor Kurljandskij,
Kandidat der Geschichtswissenschaft,
leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für russische Geschichte
der Russischen Akademie der Wissenschaften
„Neue Zeitung“, 27.10.2010