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Wenn ich mich an diese Zeit erinnere ...

Am 30. Oktober fand in der Schule N°. 2 in Atschinsk eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen statt. An demMeeting nahmen die Schüler der 10. Und 11. Klassen, eine Gruppe des Schulaktivs aus den Reihen der Zehntklässler, die Vorsitzende des öffentlichen Elternkomitees T. Dmitrijewa, der stellvertretende Leiter der Bildungsbehörde bei der Verwaltung der Sajaner Bezirksverwaltung und die Leiterin des Rentenfonds im Sajaner Bezirk – T. Karpowa, teil.

Die Form dieser Schul-Zusammenkunft von Schülern der oberen Klassenstufen zu einem bestimmten historischen Thema wurde in dieser Art und Weise zum ersten Mal getestet; aus diesem Grunde waren an den Vorbereitungen nicht nur die Geschichtslehrer und die Bibliothekarin T. Waruschkina beteiligt. Es gab auch Präsentationen von Referanten unter der Leitung der Informatiklehrerin O. Leontjewa sowie der stellvertretenden Schuldirektorin auf dem Gebiet der Erziehungsarbeit – L. Pylowaja.

Um die ganze Tragik und den wesentlichen Kern der politischen Repressionen im Lande an die Oberschüler heranzutragen, wurden authentische Geschichten einst repressierter Sajaner vorgestellt.

Anton Prokopjew lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass das System des totalitären Regimes und sein Führer auf jede nur erdenkliche Weise die besten menschlichen Qualitäten ausnutzte – den Glauben und die hoffnungsvollen Erwartungen von Millionen von Menschen. Als Beispiel führte er die Zeilen des Poeten Anatolij Schigulin an, der durch Stalins Lager gegangen war, weil er als Gegner des Regimes in Erscheinung getreten war.

„Wie so etwas geschehen konnte,
Vermag ich nicht zu verstehen,
Ich gehe unter Wachbegleitung,
Versinke im Schnee.
Nicht in deutscher Gefangenschaft,
Nicht durch schwarze Asche.
In meinem geliebten Heimatland“.

Das Thema der Zeit fortsetzend, ging Antons Klassenkameradin Marina Korkunowa auf die Aussagen des Geschichtswissenschaftlers und Sohnes von A. Antonow-Owsejenko, eines bedeutenden Akteurs der bolschewistischen Partei, der auch am Sturm auf den Winterpalst teilgenommen hatte und als Teilnehmer an einer Soldatenverschwörung repressiert worden war. Seiner Meinung nach wurden die Menschenin den Jahren 1917-1924 von ihrer Überzeugung gelenkt, von 1924-1930 durch Überzeugung und Angst und bereits ab 1935 nur noch von Angst.

Kaum hörbar und mit aufgeregter Stimme verlas Marina einenAuszug aus dem Gedicht „Der Leiter des kulturellen Schaffens“ des ehemaligen Stalinlager-Häftlings Naum Korschawin:

„Wenn ich mich an diese Zeit erinnere,
Denke ich an einen Wirbelsturm, an Donnergrollen,
Den Zusammenbruch der Wahrheit,
Über allen hängt wie Blei die Angst ...
Orchester, Versammlungen und Angst“.

Ganz unmittelbar war unser Bezirk vor allem von den Ereignissen der sogenannten Bauernverbannung betroffen, die mitunter auch als Kulakenverbannung bezeichnet wird. Wohlhabende Landwirte, eine gesunde Hofwirtschaft – das war für Sibirien stets eine gewohnte Erscheinung. Kristina Panschina gehört mütterlicherseits zum Geschlecht der Burjaks. Sie entdeckte im Buch der Erinnerungen vier ihrer Vorfahren, Zugewanderte aus dem Gouvernement Poltawa. Sie erzählte auch von ihrem 1880 geborenen Urgroßvater Semjon Nikolajewitsch Burjak. Er war seiner Nationalität nach Ukrainer, konnte kaum lesen und schreiben, war parteiloser Arbeiter in der Kolchose „Weg zum Kommunismus“ im Dorf Ust-Anscha. Semjon Burjak wurde am 1. November 1940 verhaftet und nach §58-10 angeklagt. Im Februar 1941 wurde er vom Krasnojarsker Regionsgericht zu 10 Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt. Einunddreißig Jahre später wurde er posthum rehabilitiert.

Semjon kehrte mit unverändertem Charakter aus dem Lager zurück. Er war fleißig und gutmütig und liebte seine Enkelkinder sehr. Er sprach Gebete, las die Bibel, aus der er auswendig ganze Kapitel aufsagen konnte: im Lager war sein Herz zu Gott gelangt.

Die Zehntklässlerin Natalia Waruschkina gehört mütterlicherseits zum Geschlecht der Guks aus dem Dorf Wjerchnij Agaschul. Ihr Urgroßvater, Pawel Iwanowitsch Guk war Bauer; auch er konnte kaum lesen und schreiben und arbeitete in der Kolchose „Roter Partisan“; er wurde nach §58, Abs. 1 und 2 des Strafgesetzes der RSFSR angeklagt und im Dezember 1931 zu 3 Jahren Arbeits- und Erzeihungslager verurteilt. Seine Rehabilitation erhielt er im Jahre 1975. Einer seiner Brüder, Wasilij Iwanowitsch, wurde zu 10 Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt, der zweite Bruder – Aleksej Iwanowitsch, saß 5 Monate im Kansker Gefängnis ein und wurde dann aus Mangel an Beweisen in die Freiheit entlassen.

Nasar Pawlowitsch Guk war laut Meldekartei einMensch ohne besondere Beschäftigung – er wurde wegen konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt, zur Höchststrafe verurteilt und am 4. November 1937 in der Stadt Kansk erschossen. 1959 rehabilitiert man ihn posthum.

Schrecklich verlief auch das Schicksal der vierzehn Familien Dadeusch und Dedeusch aus Wjerchnij Agaschul im Amtsbezirk Aginsk. Es waren fleißige Menschen – bis hin zum Fanatismus. Alteingesessene berichten, dass wenn die Pferde müde geworden waren und man sie zum Ausruhen ausspannen mußte, die Gebrüder Dedeusch sich selber vor den Pflug stellten und ihre Weiden zuende umpflügten. Sie alle wurden entkulakisiert, zu unterschiedlichen Freiheitsstrafen verurteilt und zwei Familienmitglieder sogar im Kansker Gefängnis erschossen.

Die Schule befaßt sich mit der Suche nach Angehörigen dieser Menschen und hat bereits die Mitteilung erhalten, dass eine der Enkelinnen Dedeusch in Krasnojarsk-45 lebt und derzeit ein Buch über ihre unschuldig umgekommenen Verwandten schreibt.

Bemerkenswert war die Präsentation, die der Schüler Konstantin Kraus hielt. Sein Bericht über seine Großmutter Jekaterina Petrowna und Großvater FilippowitschKraus war derart aufrichtig, ohne jegliche Überteibungen und Erfindungen, dass sie die Herzen aller Anwesenden zutiefst berührte. Jekaterinas Vater, Peter Scheller, wurde noch vor dem Kriege, im Jahre 1937, erschossen. Jekaterina heiratete unmittelbar vor dem Krieg den Witwer Filipp Kraus und wurde Mutter von zwei Söhnen. Als Tochter eines Volksfeindes schickte man sie in denHohen Norden in die Verbannung.

Auf den Armen zwei kleine Kinder, eine erst wenige Zeit zuvor geborene Tochter. Um die Windeln zu trocknen, wickelte sie sie um ihren Körper. Bald darauf starb die kleine Tochter. Und Jekaterina Petrowna mußte um Almosen betteln, um ihren Sohn durchzubringen. Später arbeitete sie in einer Fischfangbrigade mit ebenso schuldlos schuldigen Frauen zusammen.

Erst 1948 konnte die Familie Kraus ihre Familienmitglieder wieder zusammenführen und lebte dann in der Ortschaft Nagornoje.

Jelena Finogenowa und Wasilij Miller berichteten über eine Arbeiterfamilie der Kolchose „Sieg“, die repressierten Deutschen Jakob Wasiljewitsch und Maria Alexandrowna Miller. Jakob Wasiljewitschs Urenkel Wasilij bereitete ebenfalls eine Präsentation über Lehrer der Tugatschinsker Schule vor, die in verschiedenen Jahren Opfer von Repressionen wurden. Es handelte sich um Nikolaj Sergejewitsch Probst und Klawdija Grigorjewna Gurjanowa (Ljamkina), die im Alter von 15 Jahren als Volksfeindin vom Dschmbuler NKWD zu 10 ahren Freiheitsentzug verurteilt wurde. In Tugatsch traf diese kluge, ordentliche, höchstmoralische junge Frau mit einer Häftlingsetappe ein.

Ihr Schicksal füfte sich im weiteren Verlauf zum Guten. Sie träumte davon Lehrerin zu werden – und sie wurde es auch. Sie heiratete den ehemaligen Frontsoldaten Boris Gurjanow, bekam zwei Kinder. Nach dem Tode ihres Mannes fuhr sie in ihre Heimat – in die Stadt Dschambul, wo sie später auch verstarb.

Große Herausforderungen entfielen auf das Schicksal des Nikolaj Probst (Gottlieb) – Lehrer für Arbeitslehre und von allemim Dorf als Mechaniker geschätzt. Auch ein Arzt und Chirurg, der Nationalität nach Tscheche, hinterließ nur gute Erinnerungen an sich; er war mit einer Gefangenenetappe aus Tula nach Tugatsch gekommen. Es handelte sichum Genrich (Heinrich) Josifowitsch (Osipowitsch) Nowotnij (in Tugatsch nannten sie ihn Nawodnij); er war Arzt von Gottes Gnaden, der in der Siedlung ab den 1940er Jahren bis in die sechziger Jahre tätig war. Igor Schluthaver und Michael Tumar hielten ein Referat über die Geschichte des KrasLag, erzählten von seinen berühmten Häftlingen – Wissenschaftlern, Schriftstellern, Ingenieuren, Lehrern und Ärzten.

Die Geschichtslehrerin Tatjana Viktorowna lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die Gedenksteine, Mahnmale und Gedenktafeln zu Ehren der Opfer politischer Repressionen in der Region Krasnojarsk. So etwas gibt es auch in den dörflichen Regionen: Irbej, Karatus, Kuragino, Motygino, Nischneingasch usw.

Die Leiterin des Rentenfonds, Tamara Aleksandrowna Karpowa, teilte mit, dass in unserer Region 158 Menschen leben, die in verschiedenen Jahren Opfer von Repressionen wurden. Die Teilnehmer des Meetings faßten den Beschluß, sich an den Bezirksdeputiertenrat sowie die Bezirksverwaltung mit dem Vorschlag zu wenden, ei Zeichen des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen auch in der Siedlung Tugatsch zu errichten, wo es Außenlagerstellen des KrasLag und der Sonderkommandantur gab.

L. Miller

„Sajaner Zeitung“, Nowember 2010


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