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Die Erinnerung ist stärker als die Zeit

In der Geschichte eines jeden Landes gibt es Wunden, die mit dumpfem Schmerz Er8innerungen wecken. Solche Wunden gibt es in der Geschichte eines jeden Landes. Eine der Narben der Geschichte unserer Heimat sind die Stalinistischen Repressionen. Dieses Unheil berührte viele Familien; auch die unsere blieb davon nicht verschont.

In meiner Familie ist das Leben der Großväter und Urgroßväter mit der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges verbunden. Der Krieg brachte eine Menge Kummer und Leid in ihrer Familie. Von ihrem Schicksal weiß ich nur durch Erzählungen, weil sie schon lange vor meiner Geburt starben.

Eine jähe Wende im Schicksal der Russland-Deutschen vollzog sich 1941. Am 28. August 1941 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets ein Gesetz, nach dem die gesamte deutsche Bevölkerung der Autonomen Deutschen Wolga-Republik, der Bezirke Saratow und Stalingrad nach Kasachstan und Sibirien ausgesiedelt werden sollten. Die Operation zur Aussiedlung wurde schnell und in organsierter Weise durchgeführt.

Innerhalb von 17 Tagen, zwischen dem 3. und 20. September 1941 wurden 446480 Deutsche in 230 Zügen deportiert – jeweils etwa 50 Personen pro Waggon und ungefähr 2000 Menschen in jedem Zug. Diese Züge, die sich nur wenige Kilometer pro Stunde voran bewegten, fuhren bis an ihren Bestimmungsort zwischen vier und acht Wochen, und sie fuhren in Richtung der Bezirke Omsk und Nowosibirsk, den Bezirk Barnaul, in den Süden Sibiriens und nach Krasnojarsk.

Die Deportation besaß totalen Charakter, das heißt der Umsiedlung war, ohne jede Ausnahme, die gesamte deutsche Bevölkerung der UdSSR, die westliche des Urals lebte, ausgesetzt. Unter den repressierten Familien befand sich auch die Familie von Martin Iwanowitsch Lotz und Jekaterina Jakowlewna, meine Urgroßeltern. Sie lebten in dem Dorf Schimjotowo im Gebiet Odessa, im Rasdeljansker Bezirk, wo sie ihr eigenes Haus besaßen. Dort zogen sie ihre Kinder groß: Iwan, Grigorij, Adam, Anna-Maria.

1941 wurden alle erwachsenen Männer weggeholt und in Arbeitslager ins Archangelsker Gebiet geschickt, während Frauen und Kinder auf Fuhrwerken gesammelt und nach Odessa – oder auf Züge verladen und gen Westen abtransportiert wurden. Der erste Zug-Halt fand in Polen statt, eine Zeit lang lebten sie dort auch. 1942 schickte man die ganze Familie von Polen nach Deutschland.

In Deutschland wohnten sie bei Bauern, für die sie auch arbeiteten. Und so ging das bis zum Ende des Krieges. Im August 1945 schlug man ihnen vor, nach Hause zurückzufahren, und alle erwarteten mit Freude die Abreise. „Alle waren sehr glücklich, dass sie in die Heimat zurückkehren konnten, - erinnert sich Ida Adamowna, die Schwester meines Vaters. – Im Zug schliefen sie abwechselnd auf Gestellen. Nachdem wir bis in die Ukraine gekommen waren und eigentlich gen Süden, ins Gebiet Odessa, abbiegen sollten, sahen wir, dass wir bereits durch Moskau fuhren. Und erst später erfuhren wir, dass man uns in den Ural brachte. Alle gerieten in Aufregung, und da sagte man uns, dass wir nach Sibirien in die Verbannung kämen“.

Als man die Deutschen nach Krasnojarsk brachte, lebten sie fast einen Monat lang auf der rechten Seite der Stadt, in einem Lager. Im Oktober wurden sie auf Lastkähne verladen und in den Hohen Norden abt4ransportiert. In jenem Jahr herrschte ein eisiger Winter, auf dem Jenissei schwamm dicker Eisschlamm; man setzte sie in dem Dorf Pokrowka, Bolschemurtinsker Bezirk, Region Krasnojarsk ab.

Im ersten Jahr lebten sie in einer Baracke neben der Schule, einige Siedler gruben Erd-Hütten aus. Die Erwachsenen arbeiteten im Wald, die Kinder ließen sie zu Hause. Diejenigen, die mit ihren Kindern zu Hause blieben, strickten Socken, Handschuhe und zogen später durch die in der Umgebung gelegenen Dörfer, um ihre Handarbeiten gegen Lebensmittel einzutauschen. Manche einer aus dem Dorf gab ihnen ein paar Kartoffeln, andere ein wenig Mehl, Brot oder sogar Kartoffelschalen. Und so überlebten sie. Viele Familien konnten den Winter nicht überleben.

1950 kehrte der Großvater aus dem Lager zurück und nahm eine Arbeit im Prediwinsker Forstrevier auf – zuerst als Verladearbeiter, später als Meister. Tante Ida, Opa Adams Tochter, arbeitete als Köchin und Reinmachefrau. Jeden Abend sollten sie sich in der Kommandantur melden, weil s8ie Verbannte waren. Wenn sie es plötzlich nicht rechtzeitig schafften, dann mussten sie zu Fuß ins Dorf Possolnoje gehen, mehrere Kilometer auf einem schmalen Pfad am Flussufer entlang. Nach ihrer Registrierung kehrten sie dann spät in der Nacht nach Hause zurück und mussten um 3-4 Uhr morgens schon wieder aufstehen, um sich wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen.

Tante Magdalena absolvierte 4 Klassen im Dorf Possolnoje, danach fuhr sie in das Dorf Iwanowschtschina, das sich am gegenüberliegenden Ufer des Jenissei befand, um dort ihr Examina abzulegen. Tante Ida war, nachdem sie vier Klassen absolviert hatte, gezwungen, als Kindermädchen zu arbeiten, bei der Familie Prokopjew, die eine schöne Wohnung hatten, sie mit durchfütterten und ihr sogar noch Lebensmittel nach Hause mitgaben. Später war sie als Köchin bei der Holzbeschaffung tätig. An den freien Tagen fuhren die Arbeiter nach Hause, während sie als Wächterin zurückblieb.

Später zog die Familie Lutz in die Siedlung Prediwinsk. Am 21. Januar 1956, nach Stalins Tod, wurden sie aus der Sonderansiedlung entlassen. Aus den Erinnerungen von Großmutter Ida: „Als sie im Radio verkündeten, dass Stalin gestorben war, tanzte die ganze Baracke, die Menschen klatschten in die Hände, aber ganz leise, damit kein Außenstehender darauf aufmerksam wurde – sonst hätte man sie dafür ins Gefängnis stecken können“. Und erst am 28. Februar 1956 wurden alle Deutschen auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 15. Dezember 1955 aus der Zwangsansiedlung freigelassen.

Der Stiefvater meines Großpapas Jurij, Ludwig Petrowitsch Kunz, wurde aus dem Gebiet Odessa an die Front abberufen. Er nahm an der Befreiung der Ukraine und Polens teil. An der Front erlitt er eine schwere Beinverletzung. Nach der Verwundung wurde er ausgemustert, er kehrte in die Siedlung zurück und arbeitete weiter in der Prediwinsker Waldwirtschaft.

Am 18. Oktober 1991 wurden die Mitglieder meiner Familie rehabilitiert. Mein Opa Jurij, ein Vetter von Tante Ida, wurde am 12. März 1944 geboren und kam 1953 in der schwierigen Nachkriegszeit zur Schule, in der er mit seinem Bruder die Oberbekleidung teilen musste, um zum Unterricht gehen zu können. Nach Beendigung der Schule diente mein Großvater in der Armee und kehrte dann in unsere Siedlung zurück, wo er sein ganzes Leben in der Prediwinsker Waldwirtschaft tätig blieb.

Prediwinsk wurde für meine Familie zur zweiten Heimat. Hier gründeten die Familienmitglieder der Lutz ihre Familien, hier wurden ihre Kinder geboren. Sie arbeiteten gewissenhaft, wurden mehrfach zu Akkordarbeitern; man schlug sie für Auszeichnungen vor, händigte ihnen Urkunden und Dankesschreiben aus, ehrte sie mit Medaillen „Veteran der Arbeit der Russischen Föderation“. Der Wunsch zu leben, das Bewusstsein, kleine Kinder an der Hand zu halten, die Hoffnung auf Rückkehr – das alles half ihnen zu überleben. Sie verstanden es nicht einfach nur durchzuhalten, sondern sich auch die Anerkennung und den Respekt der Umgebung zu verdienen; sie leisteten einen würdigen Beitrag zur Entwicklung unserer Siedlung. Sie fürchteten sich nicht vor den schwierigen Bedingungen, dem sibirischen Leben, sie verloren ihren regen Verstand nicht und versuchten stets, sich im Leben nützlich zu machen. Man kann sie um ihre Standhaftigkeit und ihr Durchhaltevermögen nur beneiden; nicht jeder vermag all das zu ertragen, was sie durchgemacht haben, und dabei noch ein Mensch im vollsten Sinne des Wortes bleiben.

Das Schicksal des Menschen – ist der Lauf der Lebensereignisse, das Los, das Verhängnis. Das Schicksal einer jeden Familie ist untrennbar mit dem Schicksal des Staates verbunden. In die ferne Vergangenheit gehen die rauen Jahre der politischen Repressionen, angefüllt vom Kummer und dem Leid von Millionen Leidtragenden. Wir, die Kinder des 21. Jahrhunderts, wissen von der Zeit lediglich aus Büchern, Kinofilmen und Erzählungen der Erwachsenen. Die Geschichte Russlands – das ist die Geschichte des Volkes, die Geschichte der Generationen. Wir sollen uns daran erinnern, was unsere Vorfahren einst durchgemacht haben, denn ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.

Bei dem Poeten Rassul Gamsatow finden wir die Zeilen: „Wenn du aus einer Pistole in deine Vergangenheit schießt, dann wird die Zukunft auf dich mit einer Kanone schießen“. An diese Worte sollten wir, die heute Lebenden, denken, weil nur das Kennen der Vergangenheit uns bei der geistigen Erneuerung hilft; möge sich die blutige Zügellosigkeit der Gesetzlosigkeit niemals wiederholen.

Tatjana Maschkowskaja,
11. Klasse
„Prediwinsker allgemeinbildende Oberschule“

„Neue Zeit“ (Bolschaja Murta), 13.06.2015


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