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„Minderjährige Mädchen aßen vor Hunger ihre eigenen Finger“

Babylon befindet sich auf der nördlichsten Halbinsel unseres Planeten. Deutsche, Letten, Litauer, Finnen, Kalmücken, Koreaner, Chinesen u.a. gefielen dem Regime damals nicht. Man holte sie allesamt in den Hohen Norden, um sie dort den sicheren Tod sterben zu lassen.

Zum ersten Mal sah ich es im Jahre 1993. Das Motorschiff „Michail Godenko“ ging bei Ust-Port vor Anker – das ist nicht das Ende der Welt, sondern noch viel weiter, hinter dem Polarkreis. Unter Stalin bauten hier verschleppte Deutsche eine beispielhafte Fischfabrik und ein Internat, wo sie sich um die Kinder der eingeborenen Völker kümmerten. An Bord der „Godenko“ befand sich auch eine schweigsame junge Journalistin aus Deutschland, keiner verstand, was sie hier machte und wozu sie diese anstrengende Reise auf dem Jenisej unternahm. Sie schwieg. Und dann sah ich, wie Uta, deren Augen plötzlich zu leuchten begannen, auf ein paar Deutsche zulief, die dem Schiff am Ufer ein Stück entgegen gegangen waren. Die „Godenko“ ankerte dort nur kurz: der Schiffsmotor ächzte und dröhnte bereits, aber Uta und eine der ortsansässigen Frauen konnten sich nicht trennen – sie weinten und umarmten sich immer wieder. Die alte deutsche Frau strich der jungen über Haare und Wangen. Sie waren nicht miteinander verwandt. Dann ging Uta wieder an Bord und schwamm davon – sie stand an Deck und sah in die Ferne, und jene alte Frau blieb als winziger Punkt hinter dem Ende der Welt zurück.

Krasnojarsk war damals gerade erst für Fremde geöffnet worden, und dies waren die ersten Ausländer, die frei auf dem Jenisej reisen konnten. Später sah ich viele Male, wie sie mit den Ihren dort zusammentrafen.

Dann vergingen die 1990er Jahre, manche der ehemaligen Sondersiedler hatten ihren Wohnort verlassen, viele waren gestorben – ihre Zeit war gekommen. Nach und nach verödete Ust-Port, brannte nieder, so wie andere Siedlungen und kleine Ortschaften in den Niederungen des Jenisej auch. Jetzt gibt es nur noch vereinzelt ein paar Sondersiedler auf der Halbinsel Taimyr, und bald wird überhaupt keiner mehr übrig sein, die Seite der Geschichte ist umgeblättert, an die Tragödie zahlreicher Völker, die hier zum Sterben an Land geworfen wurden, wird nichts mehr erinnern.

An der kleinen Siedlung Agapitowo wurden 1942, unmittelbar vor dem Zufrieren des Flusses, 500 Letten und Deutsche angelandet – weiter konnte das Motorschiff „M. Uljanowa“ schon nicht mehr fahren. Man gab den Sondersiedlern lediglich sechs Zelte. Als der Frühling kam waren fast alle tot. Von diesem Verbrechen hätte möglicherweise auch niemand etwas erfahren, wenn es da nicht drei Finnen gegeben hätte, die von Ust-Chantajka nach Igarka geflohen wären. Sie wurden Zeugen der Tragödie von Agapitowo; sie vermochten es nach Chantajka zurückzukehren, und durch sie wurde dann auch die Nachricht verbreitet.

Die Höhlen, in denen die Sondersiedler an den Ufern des Jenisej lebten und starben, sind heute mit Erde zugeschüttet, und die Massengräber findet man schon längst nicht mehr. Zurückgeblieben sind verlassene Gegenden, um die sich kein Mensch kümmert. Für ein wenig Instandhaltung vor Ort sorgt allerdings eine private Initiative, in der sich einzelne Personen zusammengetan haben. In den 1990er Jahren errichteten Leute aus Riga ein Kreuz mit der Aufschrift „Winter 1942-1943“. 2006 stellten Deutsche ein ziemlich hohes Kreuz in Ust-Chantajka auf.

Den Entkulakisierten im Taimyrgebiet folgten auf dem Flusswege nicht nur Volksfeinde, sondern ganz allgemein Völker, die zu Feinden geworden waren. Am 6. Januar 1942 verabschiedeten der Rat der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der WKP (B) die Anordnung „Über die Entwicklung der Fischindustrie in den Flussbecken Sibiriens und des Fernen Ostens“. Zu ihrer Realisierung brachte man während der schiffbaren Zeit 1942-1943 insgesamt 8417 Sondersiedler – Wolgadeutsche, Balten, Finnen (nach Rechenschaftsberichten von Angehörigen des medizinischen Personals, die im Gebietsarchiv verwahrt werden) auf die Halbinsel Taimyr. Zuvor, im Jahre 1937, befanden sich hier Koreaner und Chinesen aus dem Fernen Osten. Im Sommer 1944 brachte man noch Kalmücken hierher. Insgesamt wurden 25000 Menschen (7525 Familien) in die Region Krasnojarsk verschleppt. Im Taimyrer Fischverarbeitungskonzern fanden sich 900 Kalmücken-Familien wieder. Partien von Sondersiedlern und Häftlingen trafen auf dem Taimyr noch bis Mitte der 1950er Jahre ein.

Das krasnojarsker „Memorial“ hat im November damit begonnen, jeden Tag Archivdaten und Erinnerungen von Sondersiedlern ins Internet zu stellen, die vom Taimyrer Heimatkunde-Museum zusammengetragen wurden (das Buch „Kerze der Erinnerung“ mit Anlagen), sowie die zweite ergänzende Ausgabe des Buches „Wahre Begebenheiten aus dem Taimyr-Gebiet“. Seine Autoren – die Eheleute Leo und Viktoria Petri – sind ehemalige Sondersiedler. Leo Petri unterrichtete 32 Jahre lang am Moskauer Institut für Energetik, 1994 zog er mit seiner Familie nach Deutschland. Petri: „1942-1944 brachten auf dem Taimyr in Bezug auf die Sondersiedler unterschiedlicher Nationalitäten tödliche Bedingungen, aufgrund derer 70% der in den Hohen Norden verbrachten Menschen ums Leben kamen, weil sie sich dort wegen fehlender Arbeitsplätze als vollkommen überflüssig erwiesen“. Auf Grundlage von Berechnungen erstellt Petri statistische Angaben über die Siedlungen Potapowo und Ust-Chantajka: „Von den 1950 Sondersiedlern, die in diese beiden Siedlungen gebracht wurden, waren innerhalb von drei Jahren 1370 tot, also 70%“. Wie konnte das geschehen? Petri: „…Es wurden 3-3,5mal so viele Menschen hierher mobilisiert, als in der neu organisierten Fischindustrie überhaupt benötigt wurden. Die „Überflüssigen“ blieben infolgedessen ohne jegliche Existenzmittel: es gab keine Behausungen, keine Kleidung, Nahrung und Brennmaterial. Kälte, Hunger, Skorbut, fehlende Medikamente. Die Sondersiedler, vor allem diejenigen, die in der zweiten Hälfte des Sommers 1942 ins Taimyr-Gebiet geraten waren, fanden sich im ewigen Eis in Erdhütten (Höhlen) wieder, die sie selber hatten graben müssen und in denen die Lebensbedingungen, zusammen mit dem schrecklichen Hunger, nur zu ihrem Tode führen konnten, keinesfalls aber zum Leben. Wie Leidtragende bezeugen, ereilte der nicht wiedergutzumachende Verlust an Menschenleben einen Teil der Wolgadeutschen und der Balten; zudem waren sie bei ihrer Ausweisung aus ihrem angestammten Wohnort im Jahre 1941 einer verbrecherischen Täuschung zum Opfer gefallen, als die Begleitwachen es ihnen nicht erlaubten warme Kleidung mitzunehmen, während er verkündete: „Zum Winter seid ihr wieder hier!“

Brigitta Genrichowna Wakker (Hinz). Geboren 1927 in der Ortschaft Hussenbach, Autonome Republik der Wolga-Deutschen (ASSR NP). Aufgrund des Ukas vom 28. August 1941 in die Region Krasnojarsk verschleppt. Ab 1942 als Sondersiedlerin in der Siedlung Ust-Chantaika. Arbeitete als Fischerin und Tierarzthelferin in der Rentierzucht. Bekannte Rentierzüchterin im Taimyr-Gebiet. Starb 2002. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen, 1992:

„1941 war ich 14 Jahre alt, mein Bruder 16. Die Eltern waren schon tot. Damit wir weiter zur Schule gehen konnten, waren wir zu Bekannten nach Engels umgezogen, die uns wie Familienmitglieder aufnahmen. Am 31. August machten wir uns auf den Weg zur Schule zum feierlichen Appell, aber unsere Freude wurde getrübt. Der Schuldirektor befahl: „Alle Deutschen zwei Schritte vortreten!“ – Und mit diesen beiden Schritten begann unsere Pein. Am 2. September näherten sich den Häusern, in denen Deutsche wohnten, Fuhrwerke; wir luden die allernotwendigsten Sachen auf, unter denen sich allerdings keine hölzernen Gegenstände befinden durften, und dann verabschiedeten wir uns für immer aus unserer kleinen Heimat.

In Sibirien arbeitete ich in einer Kolchose. Im Juni 1942erklärten sie uns, dass Familien, in denen keine kleinen Kinder vorhanden waren, für vier Monate in den Hohen Norden gehen sollten. Am 24. Juni wurden Deutsche im Alter zwischen 14 und 30 Jahren am Ufer des Jenisej abgesetzt. Wir waren insgesamt 105 Personen. Die kleine Siedlung, zu der sie uns gebracht hatten, hieß Ust-Chantaika. Dort befanden sich vier Häuser und ein Laden. Wir gründeten die deutsche Kolchose „Nordweg“. Wir machten uns daran das Territorium aufzuräumen und uns Laubhütten zu bauen. Dann stellten wir Fischfang-Brigaden zusammen. Wir man die Netze richtig auslegt, die Schleppnetz aus dem Wasser zieht und sie flickt, zeigte uns einer der Ortsansässigen, der Nenze Petr Spiridonowitsch Bolin. Zum Herbst wurde es kälter, es wehten häufiger nördliche Winde, aber das Wasser blieb noch warm. Um uns aufzuwärmen, begaben wir uns bis zur Taille hinein. Wenn wir dann herauskamen, gefror die Kleidung sofort. Die Fangsaison mit dem Schleppnetz dauerte bis zum 5. Oktober. Die Fischer liefen 12-18 Stunden lang barfuß herum.

Im September brachten sie die letzte Partie Sondersiedler – Deutsche, Letten, Litauer, Esten. Man brachte sie auf Dachböden und in Zelten am Ufer des Jeniesej unter. In der Siedlung befanden sich bereits mehr als 500 Menschen.

1942-1943 … Winter, Kälte, Hunger. Der Skorbut raffte mehr als die Hälfte der Bevölkerung dahin. Allein im März-April starben nach unvollständigen Angaben mehr als 80 Menschen. Sie schafften es nicht rechtzeitig genügend Särge zu bauen. Tagsüber brachte die Bestattungsbrigade die Särge mit den Verstorbenen fort, nachts warfen sie die Toten in Gruben und kehrten dann mit den leeren Särgen „für die Nächsten“ zurück (wie aus Archivdokumenten klar hervorgeht, gehörten die Särge zum Inventar – sie wurden für den Weg von der Behausung bis zum Grab benutzt. – A.T.). Es gab Fälle, in denen Verwandte den Toten versteckt hielten, um noch einen weiteren Tag seine Lebensmittelration zu bekommen. Es starben Eltern, zurück blieben deren Kinder. Ganze Familien starben aus. Die Menschen waren so schwach, dass sie die verwaisten Kinder nicht mehr aus ihren Erdhütten herausziehen konnten. Damals räumten sie eine der Erdhütten und trugen die Kinder in Körben fort.

Wir warteten auf das Ende des Krieges, lebten in dem Glauben, dass irgendwann alles besser würde. In der Nacht auf den 9. Mai 1945 waren wir gerade damit beschäftigt, Brennholz zu schlagen. Ich weiß noch, dass es furchtbar kalt war. Als wir uns am Morgen der Siedlung näherten, sahen wir die Maria Groo, die uns schon entgegen rannte. Sie schwenkte ihr rotes Kopftuch und schrie uns zu: „Der Sieg! Lasst den Schlitten stehen, kommt zur Versammlung!“ Unsere Freude kannte keine Grenzen. Wir glaubten, dass wir nun in unsere kleine Heimat zurückkehren würden“.

Hilda Georgiewna Malyschewa (Prott). Geboren 1925 in der Ortschaft Warenburg, ASSR der Wolga-Deutschen. Im September 1941 in die Region Krasnojarsk verschleppt.

„Wir lebten unweit der Wolga. Ich wurde schon früh zur Waise. Mama starb bei der Geburt, und Papa folgte ihr bald darauf. Aufgezogen wurde ich von meiner älteren Schwester. Wir beide gerieten m Herbst 1942 in das Dorf Parnaja im Bezirk Beresowka, Region Krasnojarsk. Ein Jahr später, im September 1942, brachten sie uns ins Taimyr-Gebiet. In der kleinen Siedlung Nikolskoje gab es eine Kolchose namens Kirow. Wir fingen an auf Fischfang zu gehen und zu jagen. Am 15. Jeden Monats mussten wir uns in der Kommandantur melden und registrieren lassen. Sie hatten Angst, dass wir weglaufen könnten. Aber wo sollten wir denn ohne Kleidung und Papiere schon hinlaufen. Ganz schrecklich war es im ersten Winter 1942-1943. Die Menschen hungerten. Sie aßen die Haut von Rentieren und Fischschuppen. Vereinzelt gab es minderjährige Mädchen die vor lauter Hunger ihre Finger aßen. Viele erfroren in der Tundra, denn sie hatten keine Kraft mehr, Brennholz auf ihren Schultern zu tragen oder die Fischernetze ans Ufer zu ziehen. … Alles musste abgeliefert werden, es war eine schwere Zeit. Sie fischten in Schnürstiefeln bis Mitte Oktober. Zu der Zeit herrschte bereits Frost, der Fluss war zugefroren. Und jetzt tun mir die Gelenke weh, ich habe ständig Schmerzen“. (Aufgezeichnet in der Siedlung Potapowo im Jahre 1992).

Luisa Davidowna Filbert. Geboren 1923 in der Ortschaft Kind, Bezirk Unterwalden, ASSR der Wolga-Deutschen. Beendete im Juni 1941 die pädagogische Fachschule in Marxstadt, im September in die Region Krasnojarsk verschleppt. Befand sich ab 1942 in Sonderansiedlung im Ust-Jenisejsker Bezirk. Mit ihrem Ehemann fuhr sie erst 1996 wieder zurück an die Wolga.

Am 19. Juni 1941 fand in unserer pädagogischen Fachschule abends die Abschlussfeier statt, und drei Tage später brach er Krieg aus, der unser gesamtes Leben veränderte. Am 31. August traf ich mit meinen zukünftigen Schülern zusammen; nach dem Mittagessen erfuhr ich davon, dass die Deutschen umgesiedelt werden sollten. An dem Tag wurde die Schule von Soldaten besetzt. Am 4. September musste sich unsere ganze Familie – Mama, mein Bruder und ich – für immer von unserem Haus verabschieden... Im Juni 1942 brachten sie uns mit der ersten Partie Sondersiedler auf dem Jenisej nach Norden. Am 1. Juli wurden wir am Ufer der Nosonowsker Inseln, unweit der Siedlung Ust-Port, an Land gesetzt. Sie ließen uns einfach am Ufer zurück. Die Menschen lagen überall am Ufer des Jenisej. Ein Sturm kam auf, und alle wurden innerhalb kürzester Zeit ganz mit Sand zugeweht. In der Siedlung gab es einen kleinen Laden und eine Fischannahmestelle. Häuser gab es nicht. Wir beschlossen uns eine Behausung aus Grassoden zu bauen. Meist waren es Frauen, Kinder und Minderjährige, welche diese Bauarbeiten ausführten, denn die gesunden Männer waren alle in die Arbeitsarmee mobilisiert worden. Ab Juli bis Mitte Oktober lebten wir in diesen Hütten. Zu der Zeit wurde die Kolchose „Fischer des Nordens“ organisiert. Wir arbeiteten beim Fischfang. Man hatte immer wieder zu uns gesagt: „Euer Essen findet ihr im Jenisej!“ Wir fischten bis in den tiefen Herbst hinein barfuß im Schnee. Der Erste unter uns starb am 12. November. Wir begruben ihn in Ladygin Jar. Ein junger Mann wurde bei lebendigem Leibe von Läusen zerfressen. Im Dezember brach der Skorbut aus. Die Menschen litten an Entzündungen von Zahnfleisch und Gelenken. Lebensmittel wurden nur bis zum Januar ausgegeben. Um sich vor dem sicheren Hungertod zu retten, kochten und aßen die Menschen Lemminge. Im ersten Winter kamen zwanzig Menschen durch Hunger und Skorbut um. Das war der schwerste Winter überhaupt. Im März brachte man uns Rentierblut und einen Sud aus Tannennadeln. Alle wurden gezwungen, ein halbes Glas von diesem bitteren Gebräu zu trinken. Mama und mein Bruder erkrankten ebenfalls schwer, nur ich blieb irgendwie auf den Beinen. Es war ein schweres Leben, aber wir lebten es in der Hoffnung, dass nach dem Krieg alles in Ordnung kommen würde und wir wieder nach Hause zurückkehren könnten. Wir dachten: „Wie soll es an der Wolga nur ohne uns weitergehen?“ - 1948 wurden wir gezwungen ein Schriftstück zu unterschreiben, welches besagte, dass wir niemals in unsere Heimat zurückkehren, sondern für immer hier bleiben sollten. 1956 reisten viele Sondersiedler in ihre Heimatorte ab, aber die meisten Deutschen blieben. Es gab nichts, wohin sie hätten zurückkehren können. (Aufgezeichnet in Ust-Port im Jahre 1991).

Gunnar Robertowitsch Kroders. Geboren 1926 in Riga. 1941 zusammen mit seinen Eltern in ungesetzlicher Weise in die Region Krasnojarsk verschleppt; 1999 in Norilsk verstorben. Auszug aus seinen Erinnerungen:

„Im Sommer 1942 schickten sie uns in den Hohen Norden. Die Lastkahn-Karawane war vollkommen überfüllt mit „Speziki“ (Sondersiedlern; Anm. d. Übers.); sie erinnerte einen irgendwie an die Arche Noah. Man hörte ein Gemisch aus russischen, lettischen, litauischen, finnischen, deutschen, jüdischen und ukrainischen Wortfetzen … Von den 360 Sonderumsiedlern, die man in Dororfejewka unterbrachte, konnten nicht mehr als 40 beim Eisfischen arbeiten. Für die übrigen 320 gab es keine Fangreviere. Und von irgendeiner anderen Arbeit war überhaupt nicht die Rede – denn es gab keine. Keine Arbeit – kein Verdienst und demzufolge auch – kein Brot … Für uns begann der erste Polarwinter – der schlimmste aller Winter, die wir je zuvor erlebten hatten. Und auch danach gab es nie wieder einen so grausamen Winter. Achtundvierzig Jahre lang habe ich versucht, mich nicht mehr daran zu erinnern … Es war schmerzlich und gruselig mitanzusehen, wie es Mama ging. Ich war damals schon ein sechzehn Jahre alter Junge, ich war verpflichtet, ihr eine Stütze zu sein und als Ernährer zu fungieren. Aber ich war nur ein bedauernswerter, fassungsloser, hilfloser Zeuge ihrer Qualen. Und jetzt, fast ein halbes Jahrhundert danach, hört das Gewissen nicht auf an mir zu nagen: wie war es möglich, dass ich ihr nicht helfen, sie nicht aus diesem schrecklichen Elend herausziehen konnte? Den schicksalsergebenen Blick unverwandt auf die verrußte Decke gerichtet, lag sie unverwandt da. Sie konnte weder schreien noch weinen. Nur an seltenen Abenden, wenn nicht gerade strenger Frost herrschte, zog Mama ihr Sommermäntelchen über und ging „Fische fangen“. Wie eine Geistererscheinung wandelte zwischen den Fischerhütten umher – es ist gruselig heute darüber zu schreiben! – und holte aus dem vom Frost erstarrten Spülwasser irgendwelche Abfälle: Fischgedärm, verfaulte Kohlblätter, leicht gefrorene Eicheln, einzelne kleine Kartoffeln, Rinde von vertrocknetem Brot…Die „Zusatz-Nahrung“, kochte Mama, nachdem sie eine Handvoll Schnee hinzugegeben hatte, auf dem Ofen, häufiger allerdings auf dem Ofenrohr – um die Barackennachbarn, die noch nicht wieder zurückgekehrt waren, nicht mit dem widerwärtigen Geruch zu belästigen. Einmal gelang es Mama nicht, ihr Essen zum Kochen zu bringen, vielleicht hatte sie Angst vor den anderen Barackenbewohnern. Das Ganze endete mit einer schweren Vergiftung. Die junge Feldscherin, die ich dazu überredet hatte, herzukommen, schüttelte, nachdem sie Mama untersucht hatte, nur mit dem Kopf und ging, ohne ein Wort zu sagen, wieder fort. Der Todeskampf dauerte drei Tage und Nächte … Die Faktorei Dorofejewsk existiert heute nicht mehr. Nur anhand der im Laufe der Zeit krumm und schief gewordenen, mit Flechten überwucherten Baracken und den etwas abseits stehenden, schwarz verfärbten Grabeskreuzen kann man erraten, dass hier einst Menschen wohnten und starben“.

Ruta Jankowitsch. Geboren 1922 in Liepaja (Lettland). Am 14. Juni 1941 wurde der Vater verhaftet. Zusammen mit Mutter Natalia Viktorowna Jankowitsch und Bruder Jurij in den Bezirk Pirowskoje, Region Krasnojarsk, deportiert. Im Juni 1942 geriet sie in Sonderansiedlung in der Siedlung Ust-Chantajka, Bezirk Dudinka. Aus ihren Tagebuch- Aufzeichnungen:

„17.01.43. Ust-Chantajka. Es herrschen unter minus 50 Grad Frost. Die Spatzen fallen im Flug tot vom Himmel. Ein Glas kaltes Wasser, kraftvoll in die Luft geworfen – fällt zu Boden und zersplittert in hundert kleine Eissplitter. Und die Menschen? Sie erfrieren in ihren Erdhütten.

22.01.43. Ust-Chantajka. Jetzt sind es nur noch minus 25-30 Grad. Mama läuft von früh bis spät von einer Erdhöhle zur anderen, hebt die Menschen von ihren Pritschen hoch, treibt sie nach draußen und reibt ihnen die vom Skorbut blutigen Beine ein. Die Eingeborenen haben auf Mamas Bitten aus der Wald-Tundra Tannennadeln mitgebracht. Alle trinken sie nun den bitteren Nadelsud, der gegen Skorbut wirken soll. Aber überall liegen Leichen, Leichen .... Jeden Tag sterben ganze Familien aus. Es geht das Gerücht, dass in den Siedlungen Agapitowo und Nikolskij alle Leute den Tod gefunden haben…

27.02.43. Ust-Chantajka. Aus Igarka (130 km) sind die drei Finnen zurückgekehrt, die dort waren und innerhalb von vier Monaten ganz gut dort verdient haben. Aber was am Wichtigsten ist – sie berichteten von einer unheimlichen Tragödie.

„Nachdem wir in Chantajka unsere ganze Ausweglosigkeit und den aufgrund von Hunger und Kälte herannahenden Tod sahen, sind wir Anfang November des vergangenen Jahres heimlich nach Igarka aufgebrochen, um dort Geld zu verdienen und Kleidung sowie Lebensmittel zu erwerben. Unsere Marschroute verlief am rechten Ufer des Jenisej entlang – mitten über das Eis. An der Siedlung Agapitowo (45 km) erblickten wir eine Zeltstadt, wo die Menschen in den großen Dreißig-Mann-Zelten an den Stangen und Unterlagen festgefroren waren, vor allen Dingen Frauen, Kinder und wenige alte Leute. In den Zelten gibt es keine Eisenöfen, man sieht nirgends Brennholz und es gibt überhaupt keine Lebenszeichen von dieser Masse an Leuten. Um die Zelte herumzugehen war für uns ganz schrecklich – überall lagen Leichen. Aber trotzdem fanden wir auch noch ein „lebendes“ Skelett und erfuhren von ihm, dass hier, unmittelbar vor dem vollständigen Zufrieren des Jenisejs, mit einem Dampfer eine weitere Partie von 500 Menschen abgeliefert worden war, hauptsächlich Deutsche aus dem Wolgagebiet und aus den baltischen Ländern. Man hatte den Leuten lediglich Zelte gegeben – keine Öfen, keine Ofenrohre, um den Rauch abzuleiten, keine Äxte oder Sägen zur Beschaffung von Brennholz; aber am Schlimmsten war, dass man die Menschen einfach ohne Nahrung ausgesetzt hatte. Im Großen und Ganzen hatte man die Leute dort vollständig abgeschrieben. Und das Ergebnis – sie starben vor lauter Hunger und erfroren. Mehr kriechend als gehend erreichten wir schließlich Igarka und setzten über das, was wir in Agapitowo gesehen hatten, sogleich die NKWD-Sonderkommandantur in Kenntnis. Nachdem der Kommandant uns angehört hatte, fragte er: „Leben denn da überhaupt noch welche?“ Wir verstanden aus der Unterhaltung, dass das in Agapitowo abgelieferte Sonderkontingent von den Behörden schlichtweg „in Vergessenheit geraten“ war. Wie dem auch sei, jedenfalls starben durch die Schuld der Behörden ungefähr 500 Menschen.
02.03.43. In der Tundra. Mama hat einer Eingeborenen bei der schweren Geburt geholfen. Der kleine Junge blieb am Leben.
15.06.43. Mit einem Boot ist eine Kommission aus Dudinka gekommen, um die Gründe zu ermitteln, weshalb so viele Menschen hier im vergangenen Winter umgekommen sind. Jemand hatte gegen Mama Klage eingereicht. Man befahl ihr, ihre Sachen zu packen und nach Dudinka zu fahren. Von Bord brachten sie die Post mit Briefen – die Nachricht von Papas Tod im Lager. Mama verlor das Bewusstsein. In Dudinka wurde Mama drei Tage lang „gefoltert“; danach sprach man sie frei. (Tagebuch-Aufzeichnungen er Ruta Jankowitsch, zitiert aus Petris Buch „Die Deutschen aus dem Taimyr-Gebiet“).
Die Ärztin Natalia Jankowitsch starb 1985, Ruta 2006; beide liegen in Riga begraben.

Jurij Jankowitsch lebt in Riga. Er führte in den 1940er Jahren ebenfalls ein Tagebuch, holte es unlängst wieder hervor und ergänzte es mit seinen Erinnerungen und einer Bewertung dessen, wie die Verwirklichung der Kreml-Anordnung von 1942 über die Entwicklung der Fischindustrie in den Flussniederungen Sibiriens und des Fernen Ostens von statten ging.

„Hier ein Auszug aus meinem Tagebuch (aufgezeichnet am 10. Juni 1942): „Als sie heute Morgen unsere Familie (ich bin 18, Mama 46 und meine Schwester 21 Jahre alt), zusammen mit anderen verbannten Letten und Deutschen aus dem Bezirk Pirowskoje, nach Krasnojarsk und anschließend ans rechte Ufer des Jenisej, in den Eisenbahnbezirk, an die Station Jenisej, brachten, erstarrten wir buchstäblich vor dem erschütternden Anblick, der sich unseren Augen bot. Auf der ausgedehnten Lichtung wogte eine riesige Menschenmenge – eine Anzahl von mehreren Tausend. Die Menschen saßen, standen oder gingen, umgeben von ihren wenigen Habseligkeiten. Man konnte verschiedene Sprachen unterscheiden, aber die meisten waren Deutsche, die Zahl der Letten war weniger hoch. Es gab auch Bessarabier, Ukrainer, Finnen und ein paar Russen, die zu einem früheren Zeitpunkt entkulakisiert worden waren“. Diese viele tausend Köpfe umfassende Masse wurde nun wie Ware auf insgesamt 8 Leichter und Lastkähne verladen, die dann Richtung Norden schwammen. Die Ansiedlungsorte am Jenisej wurden als „Stanki“ (kleine Ansiedlungen; Anm. d. Übers.) bezeichnet, die an den unbebauten, kahlen Ufern des Jenisej und der Podkamennaja Tunguska alle 50-100 km errichtet wurden. Wie L. und V. Petri anmerken, geschah das Abladen der Menschen ganz spontan, ohne dass es irgendwelche Pläne gab, wo man sie beschäftigen wollte, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es dort keine Behausungen gab.

Plötzlich, am 26. August 1942 wurden in Ust-Chantajka 230 Menschen von Bord gelassen, und am 19. September, unmittelbar am Abend bevor das Eis den Fluss unpassierbar gemacht hatte – noch einmal 115 Sklaven, unter ihnen 40 Kinder im Schul- und Vorschulalter. Insgesamt also 450 Personen. Es gab viele Finnen und Deutsche aus der Stadt und dem Gebiet Leningrad. Ust-Chantajka verwandelte sich in eine beispiellose Deponie von Menschen, die sich sofort auf die Anhöhe stürzten, um mit Hilfe der dort wachsenden krummen Tundra-Birken, Grassoden und Moos ein wenig Schutz zu suchen. Aber das konnte sie nicht retten. Ganze Familien gingen zugrunde, vor allem Leningrader. Zum Frühling des Jahres 1943 waren nur noch weniger als 200 Personen am Leben.

Bis heute ist nicht genau bekannt, wie viele Menschen auf der Halbinsel Taimyr damals umkamen“.

Auszug:
Aus Petris Buch:

„Mehr Fisch für die Front“, - lautete die Propaganda-Losung, obwohl der gesamte taimyrer Fang, wie erst später bekannt wurde, für die Verpflegung des Hundertausende umfassenden Kontingents im Norilsker Besserungs-Arbeitslager verwendet wurde – an der Front wurde dieser Fische niemals abgeliefert. In Dudinka (1945-1946) war mir als Wirtschaftsfachmann der Planungsabteilung beim „Taimyrer Fischfang-Trust“ bekannt, dass in der Dudinsker Fischfabrik kleine geräucherte Maränen („abgefressene“) für die Hauptstadt hergestellt wurden – und in der Konservenfabrik in Ust-Port Fischkonserven in Tomate und Öl, welche bei günstiger Fluggelegenheit mit Flugzeugen vom Typ „Douglas“ ebenfalls nicht an die Front, sondern nach Moskau mitgenommen wurden“.

Die Neue“ dankt den Mitarbeitern des Taimyrer Museums sowie dem krasnojarsker „Memorial“ dafür, dass sie ihr Text- und Fotomaterial zur Verfügung gestellt haben.

Aleksej Tarasow
Korrespondent in Krasnojarsk

 „Neue Zeitung“, 19.01.2011


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