Die Kinder der „Volksfeinde“ lassen Kränze in die Fluten des Jenisejs herab, Menschen, die ihre Heimat und ihre Gräber verloren haben
Kinder von „Volksfeinden“ am Ufer des Jenisej
In Krasnojarsk gedenkt man der Opfer der Massendeportationen von Einwohnern Litauens, Lettlands und Estlands in den Ural und nach Sibirien. Am 14. Juni 1941 befanden sich die ersten Züge auf dem Weg gen Osten; zusammengestellt aus Waggons, die eigentlich ausschließlich für den Transport von Vieh gedacht waren. In ihnen wurde die Blüte dreier Völker fortgebracht. Später wurde ein Teil der Deportierten auf Lastkähne umgeladen, die in den Norden fuhren. Mit den Worten, daß sie ihr Essen schon im Fluß finden würden, setzte man sie unmittelbar vor dem Zufrieren der Gewässer am wilden Ufer ab – ohne warme Kleidung, ohne Äxte, ohne Fischernetze. Diese Menschen gruben sich Höhlen in den Boden, um so vor Wind, Kälte und dem Wasser mit Hilfe von Moos und den hier wachsenden krummen Birken Schutz zu suchen.
Siebzig Jahre später haben sich in der Enge eines kleinen Bootes erneut Letten, Litauer und Esten zusammengefunden, um einen Teil dieser Reise zu wiederholen und unter dem „Ave Maria“ rote Blumen und einen Trauerkranz auf das Wasser des Jenisej hinabzulassen.Ein großes hölzernes Kreuz als Gerippe, kreisförmig umwickelt mit Tannen-, Fichten- und Birkenzweigen und genau in der Mitte, zur Erinnerung an die Heimat - die Zweige einer Eiche, die in diesen Region nicht wächst. Dazu noch ein par Zweiglein von kleinen Zirbelkiefern – dem Baum, der ihnen geholfen hat zu überleben. Vera Nikolajewa, Vorsitzende der estischen Gesellschaft „Eesti“ sprach ein Gebet in ihrer Muttersprache. Die Letten, angeführt vom stellvertretenden Vorsitzenden ihrer nationalen Gesellschaft Ausmoj Wanzane – sie war zehn Jahre alt, als man sie nach Sibirien brachte – sangen einzelne Strophen eines Volksliedes.
Der Juni, das ist einbesonderer Monat – er ist ganz besonders bitter und hell. Es ist der hellste Monat des Jahres, und er birgt die meisten Gigabite menschlicher Erinnerung in sich. Erinnerungen an den Krieg, an die stalinistischen Repressionen, an alle, die damals von uns gegangen sind – Pfingsten mit seinen Gedenkfeierlichkeiten fällt für gewöhnlich in den Monat Juni. In Sibirien kommen einmal im Jahr, an Pfingsten, die Bewohner der durch die Errichtung des Wasserkraftwerks überfluteten Dörfer zusammen. Es kommen die Kinder der Sonderzwangsansiedler in jene heute verlassenen Orte, in denen sie ihre Kindheit verbrachten, die ihnen zur Heimat wurden. Sie stehen auf dem mit Gräsern, wilden Erdbeeren und Bäumen überwucherten Friedhof, schlendern über verödeten Boden, schauen auf die Johannisbeersträucher in den ehemaligen Obst- und Gemüsegärten, die Brennesseln, welche noch die Ecken der längst verschwundenen Holzhütten erkennen lassen, und die sich im Winde wiegenden Weidenröschen, welche die ganzen früher bewohnten Weiten wie ein Teppich bedecken.
Der Vorsitzende der krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft, Aleksej Babij, und seine Mitstreiter haben in 23 Jahren mühevoller Kleinarbeit die Schicksale von hunderttausenden Repressionsopfern, deren Schicksale mit der Region verknüpft sind, recherchiert, ins Internet gestellt und namentliche Zeugnisse in Papierform herausgebracht. Opfer, die hier in der Gegend umkamen, hierher zwangsangesiedelt und verbannt wurden. Und das ist nur der Anfang der Arbeit. Ausma Wanzane erzählte mir, wie sie im Jahre 1949 (mit der zweiten Welle der Deportationen aus dem Baltikum), zsammen mit ihrer Mutter, in das Dorf Gorodischtsche im Gebiet Omsk gebracht wurde, und die gesamte Kollektivschuld ihrer Familie darin bestand, dass ihr Vater Grenzsoldat war und der Großvater bei der lettischen Miliz gedient hatte. Auf Beschluß einer „Trojka“ wurde der Großvater für 10 Jahre ins NorilLag geschickt und mußte anschließend weitere 5 Jahre in der Verbannung leben. Babij machte die Telefonnummer ausfindig, ging auf seine Internetseite und entdeckte dort, dass der Name des Großvaters – Adam Wanzans – in der Karthotek nicht existierte.
In der gesamten Region Krasnojarsk leben weniger als 3 Millionen Menschen, in der Stadt Krasnojarsk etwas weniger als 1 Million. Eine Million – genau diese Zahl nennt Babij: so viele Repressionsopfer gab es – Krasnojarsker und Menschen aus anderen Regionen und Ländern. Nicht weniger als 55.000 wurden in der Region Krasnojarsk aufgrund politischer Motive verhaftet. Es gab nicht weniger als 545.000 Sonderzwangsansiedler. Annähernd 400.000 politische Häftlinge. Eine derartige, jahrzehntelange Konzentration von Kummer und Gram – wo hat es das sonst noch gegeben?
Nur bei jedem zehnten Schicksal ist uns das Opfer auch namentlich bekannt.
Nur eine einzige Zeugenaussage, geschickt von „Memorial“, ganz einfach und ohne Schrecken. Es berichtet Swetlana Fjodorowna Golowatsch:
- Mamas erster Mann, Fjodor Rekis, arbeitete in der Schule als Wirtschafter, unterrichtete Sport und Arbeitslehre. Mama Wilma Zaunite, geb. 1913, war Absolventin der Fachschule für Kochkünste. Sie buk Torten. 1941 kamen plötzlich Leute in Militäruniformen und sagten: ihr habt zwei Stunden zum Packen, aber nehmt nur das Allernötigste mit. Da diese Aufforderung völlig überraschend kam, nahmen sie in der Aufregung nur wenige Sachen mit. Die Männer kamen in einen Waggon, Frauen, alte Leute und Kinder in einen anderen. Man brachte sie nach Atschinsk, anschließend nach Biriljussy. Mama war zu dem Zeitpunkt schwanger; sie brachte das Kind in Biriljussy zur Welt. Das Kindchen starb. Danach erkrankte sie an Typhus, die Krankenheit nahm einen schweren Verlauf und zog sich lange hin. Sie konnten kein Russisch, fanden aber später doch noch einen Arzt. Als Bezahlung für die Behandlung gab sie ihm ihren Mantel. Der Arzt besorgte ihr eine Flasche Schnaps und empfahl ihr, diesen zusammen mit etwas Tafelbutter einzunehmen. Später wurden Mama Wilma und ihre Schwester Irina in das Dorf Goroschicha im Bezirk Turuchansk geschickt. Es war Ende September. Als man sie in Goroschicha aussetzte, lag auf der Straße bereits Schnee, und es gab nirgends einen Unterschlupf.
Als die Fischer eintrafen und den Hunden Fisch als Futter vorwarfen, sammelten sie Stücke davon ein und aßen sie. Sie suchten sich Kartoffelschalen aus dem Müll, kochten und aßen sie ebenfalls. Nach und nach lernten sie auch ein wenig Russisch. In Goroschicha gab es deportierte Litauer, Esten, Deutsche und Letten, und die Schwester freundete sich mit ihnen an. Da wurde das Leben etwas leichter.
Aleksej Tarasow
Korrespondent, Krasnojarsk
„Neue Zeitung“, 19.06.2011