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Grausamkeit darf man niemals rechtfertigen

In den Masseninformationsmitteln wird viel über die während des Großen Vaterländischen Krieges verfolgten Wolga-Deutschen berichtet. Dabei gibt es, wie immer, ganz unterschiedliche Ansichten. Die Einen haben Mitleid mit ihnen und verurteilen das damalige Regime, andere dagegen versuchen derartige Grausamkeiten zu rechtfertigen. Da der Weg dieser unglückseligen Menschen auch über unseren Jenisej führte, ist mir ihr Schicksal auch noch gut in der Erinnerung geblieben.

Wir schreiben das Jahr 1942. Unsere Familie lebte damals am Ufer des Jenisej in der Dubrowinskij-Straße 48, und ich weiß noch ganz genau, wie sie durch unser Straße Deutsche aus dem Wolgagebiet in die Verbannung gebracht haben. Es gab vielleicht ein Dutzend Autobusse, die in die Stadt fuhren, und solche mit gasbetrieben Motoren oder Benzin gab es nicht. Und dennoch schaffte man die Deutschen in Autobussen durch unsere Straße und ließ sie an einem großen 3-Tonnen-Leichter an der Anlegestelle der Krasnojarsker Nordmeer-Seewegsverwaltung aussteigen; später war das ein Teil des städtischen Hafengebiets.

In jenen Jahren schenkte niemand dem Geschehen große Aufmerksamkeit, alle waren damit beschäftigt zu überlegen, wie sie ihre Familie und sich selber durchbringen und überleben sollten. Dieser Leichter begleitete den Dampfer „W.Kujbyschew in den Norden, auf dem mein Vater Pwael Jakowlewitsch Taskin Kapitän war. Er erzählte nur äußerst ungern von jenen Ereignissen, und viele Einzelheiten erfuhr ich erst durch den Mechaniker Konstantin Fjodorowitsch Selesnjow.

Unter den Deutschen gab es nur wenige Männer, meist waren es Frauen und Kinder. Sie wurden unmittelbar im Frachtraum untergebracht, in dem Balken und Sägematerialien für den Bau von Behausungen vorort lagerten. Die Menschen wurden von einem operativen Bevollmächtigten des NKWD namens Neschninow begleitet. Er trug eine Uniform und war bewaffnet. Auf alle Fragen und flehentlichen Bitten der Verbannten hatte er nur eine einzige Antwort – ich habe meine Befehle, und die muß ich ausführen.

Halbwegs gut hatten es diejenigen, die in einem Dorf von Bord gelassen wurden; manche aber wurden direkt am kahlen Ufer ausgesetzt. Sie luden die Baumaterialien für ihre Häuser ab, teilten Sägen, Äxte und Lebensmittel für die allererste Zeit aus. Die Menschen wurden anhand von Listen ausgeschifft, immer 20-30 Personen; es gab so gut wie keine warme Kleidung, und das war eine wirkliche Tragödie. Es ertönte ein unvorstellbares Geschrei und Geheul, wie auf einem untergehenden Schiff, wenn man durch den Äther den Notruf SOS – rettet unsere Seelen! – hört.

Und niemand konnte ihnen in jener schrecklichen Zeit helfen. Der Sommer ging zuende, der Dampfer machte die Leinen los und setzte seine Fahrt noch weiter in Richtung Norden fort, und vom Heck aus konnte man noch lange die Flammen der Feuerstellen am Ufer sehen. Es werden wohl nicht alle überleben, aber was soll man machen – es herrscht schließlich Krieg, rechtfertigten die Flußschiffer sich vor sich selber.

Zu der Zeit wurde an der Front erbittert gekämpft, der Feind war auf dem Vormarsch nach Stalingrad. Im nahen Hinterland meldeten unsere Beobachtungs- und Nachrichten-Soldaten: in der Nacht Motorenlärm feindlicher Flugzeuge. Damals arbeitete die Propaganda in sehr beharrlicher Weise, überall versetzten sie uns mit feindlichen Landetruppen, Saboteuren und Spionen in Angst und Schrecken. Das zeigte damals, und meiner Meinung nach auch heute noch, Auswirkungen auf die Menschen.

Folgendes berichtete mir Grischa Kasanowskij, Teilnehmer an jenen Ereignissen, der damals als Steuermann auf einem der Schiffe auf dem Jenisej war. Dieser stille, schweigsame Mann diente zu der Zeit gleichzeitig auch in einer Seelandetruppen-Brigade. Zu ihrer großen Besorgnis wurde die Brigade an der Stelle ausgesetzt, an der die Flugezuge deutsche Spione im Gebiet Saratow abspringen ließen. Sie umzingelten das Gelände, durchkämmten die Gegend und fanden – nichts. Auf den Feldern arbeiten die ortsansässigen Deutschen, die Kommandeure bestätigten, daß es hier Fallschirmspringer gibt, aber sie gaben niemanden preis. Man gab die Informationen an die Kommandozentrale weiter und stellte fest, daß es schon jede Menge derartiger Berichte dort gab.

Die Angelegenheit gelangte bis nach Moskau, dort kannten sie sich aus. Die fünfte Kolonne im Hinterland – das war eine tödliche Gefahr, ein Messer im Rücken. Und da kam der Befehl des Oberkommandierenden - innerhalb von 24 Stunden sollten alle in der deutschen Wolgarepublik lebenden Deutschen, Groß und Klein, nach Sibirien, Kasachstan und andere entfernte Gegenden ausgesiedelt werden.

Mit solchen Berichten, die eher Legenden gleichkommen, versuchten wir uns selber zu beruhigen und für die Grausamkeiten eine Erklärung zu finden, welche der Staat gegenüber diesen Menschen zuließ. Entweder wir sie oder sie uns….

Heute fällt es mir schwer mich daran zu erinnern, ich habe begriffen, daß all das durch nichts und durch niemandem zu rechtfertigen ist. Nicht einmal durch den hochheiligen Sieg.

Igor TASKIN, Veteran der Jenisejsker Dampfschifffahrt

„Krasnojarsker Arbeiter“, 22.09.2011


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