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„Heuchelei hat das Übergewicht über die menschlichen Beziehungen“, - meint Anatolij Romaschow

Der Vizesprecher des regionalen Parlaments, Anatolij Romaschow, hat beschlossen, nicht mehr für eine neue Amtszeit zu kandidieren. Deswegen betrachtet er heute alle politischen Intrigen aus einer gewissen Entfernung und in philosophischer Weise. Und er bedauert, dass einige Probleme von ihm nicht gelöst werden konnten. Eines davon – eine Grabstätte für die Ehefrau deslegendären Agenten Richard Sorge zu organisieren. Als „Volksfeindin“ nach Sibirien verschleppt, starb sie unter schrecklichen Umständen im bolschemurtinker Bezirk.

- Anatolij Aleksejewitsch, obwohl sie doch eigentlich ein hinreichend großes politisches Gewicht besitzen, haben sie eine nochmalige Kandidatur angelehnt. Sind Sie der Politik überdrüssig geworden, sind es Ermüdungserscheinungen?

- Ich würde eher sagen – die Zeit ist gekommen. Lieber selber gehen, als abzuwarten, dass sie dich darum bitten. Es ist meine Wahl, und ich bin froh, dass ich diese Entscheidung getroffen habe. Einige meiner Kollegen tun mir leid, die man einfach fallen gelassen und verraten hat. Ich möchte nicht in eine derartige Situation geraten. Leider hat derzeit in der Gesellschaft die Heuchelei über die normalen menschlichen Beziehungen dermaßen die Oberhand gewonnen, dass ein vernünftiges Arbeiten immer schwieriger wird. Es sind eine Menge Probleme entstanden, die ich nicht lösen kann. In den letzten Jahren habe ich mich mit sozialen Fragen befasst, bin auf dem Territorium herumgereist, habe gesehen, wie schwer das Leben für die Leute ist. Also ich möchte nun selber versuchen von meiner Rente zu leben.

60 Jahre zu spät

Der Staat hat sich entschlossen, vor den Helden des Krieges seine Schuldigkeit zu erfüllen; deswegen wurde der Entschluss gefasst, ihnen Wohnraum zuzuweisen. Allerdings hört man bisweilen aus den Mündern der Beamten und Ihrer Kollegen die Worte: die brauchen keine Wohnungen, sie ergattern sie nur mit Müh und Not für ihre Kinder und Enkel.

- In einigen Fällen geschieht das auch tatsächlich so – Kinder und Enkelkinder bringen die alten Leute nicht aus ihren baufälligen Behausungen fort, sondern ziehen selber in die neuen Wohnungen ein. Aber es ist nicht unsere Sache sie zu verurteilen; vielmehr muss der Staat den Veteranen seine Schuldigkeit zurückzahlen. Wir haben uns so schon um 60 Jahre verspätet.

- Und dann gibt es noch jene, die durch Afghanistan, Tschetschenien und andere „Brennpunkte“ gegangen sind, denen die Beamten des sozialen Dienstes nicht selten zynisch verkünden: „Aber es waren doch nicht wir, die sie dorthin geschickt haben“!

- Das ist unmoralisch. Ich bin der Meinung, dass es ein Gesetz über die Teilnehmer an Kriegshandlungen geben sollte, ohne dass es darin einen Bezug auf einen ganz konkreten Krieg gibt. Wenn der Staat einen Soldaten in den Kugelhagel schickt, dann muss er auch die Verantwortung für sein Schicksal übernehmen – und ihn nicht der Willkür ausliefern, wenn er dann irgendwann aus diesen „Brennpunkten“ zurückkehrt. Und er hat auch die Pflicht, ihm eine Wohnung zu garantieren, ärztliche Betreuung, Rehabilitation, Vergünstigungen usw. Und erst recht sollen sie Fürsorge für die Familien bekunden, die eine Nachricht mit dem Vermerk „Fracht 200“ (Kennzeichnung für einen Leichen-Transport; Anm. d. Übers.) erhalten haben.

- In unserer Redaktion befinden sich nicht wenige Briefe von Kindern des Krieges, die der Meinung sind, dass die mangelnde Aufmerksamkeit und Fürsorge des Staates ebenfalls unverdient sind.

- Die ehemaligen Kriegskinder sind heute alle in einem Alter, in dem sie sich bereits in Rente befinden und bereits die eine oder andere Vergünstigung erhalten. Und nun sag mal, für wen war es damals leichter? Für den Soldaten, der für seine Kinder, die er zu Hause zurücklassen musste, keine Verantwortung tragen konnte und nicht wusste, ob er überhaupt wiederlebend nach Hause kommen würde? Oder für die Ehefrau, die drei Kinder hatte, aber nicht wusste, wovon sie sie ernähren sollte? Wie viele sind im Hinterland umgekommen, während der Blockade, wie viele sind an den Werkbänken oder auf dem Feld tot umgefallen? Und die Frauen in Sibirien, die beim Holzflößen arbeiteten – wie viele von ihnen gerieten unter Wasser und ertranken? Niemand hat darüber eine Statistik geführt – WIE VIELE IM Hinterland gestorben sind.

Es ist ganz offensichtlich, dass man die Menschen nicht weiter nach Kategorien in Bezug auf eine bestimmte Periode einteilen darf. Den Krieg hat das ganze Land gewonnen. Wenn ihr nun schon einmal den Beschluss fasst, die in den Kriegsjahren erlitten Verluste durch Vergünstigungen zu kompensieren, dann lasst sie auch für alle gelten.

Todesursache – Erschießung

- Am Sonntag wurde der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen begangen. Und die krasnojarsker GULAGs wurden von hunderttausenden Menschen durchlaufen, und es waren noch bei weitem mehr – Verbannte. Sie befassen sich nun schon das zweite Jahr mit der Suche nach dem Grab von Sorges Ehefrau. Wozu machen Sie das?

- „Es ist der Respekt vor vergangenen Tagen – ein Merkmal, welches Bildung von Wildheit unterscheidet“. Das stammt von Aleksander Puschkin. Ich weiß, was es bedeutet, Verwandte zu verlieren und keine Ahnung zu haben, wo sich ihr Gran befindet. Im Dorf war unsere Familie die erste, die im August 1941 die Nachricht vom Tode des Vaters erhielt. Fast zwei Jahre lang lebten wir unter Besetzung. Sowjettruppen befreiten unser Dorf erst 1943. Eineinhalb Monate später brachte der Postbote einen ganzen Sack mit Briefen … aus dem Jahre 1941. Eine weitere Woche darauf noch einen halben Sack voll – diesmal mit Todesnachrichten. Drei Tage lang heulten die Frauen im Dorf so herzzerreißend, dass es einen gruselte. Und am Grabe des Vaters teilte man uns viele Jahre nach dem Ende des Krieges mit: „Rotarmisten, die in den ersten Kriegstagen gefallen sind, wurden in Schützengräben bestattet, und als Bestattungsort für alle Gefallenen aus dieser Zone gilt die Helden-Stadt Brest“.

Irgendwie wollten wir mit der Einwohnerin des Suchobusimsker Bezirks versuchen herauszufinden, woran ihr Vater gestorben war. Auf unsere Anfrage erhielten wir eine Fotokopie der Sterbeurkunde, in welcher zu lesen stand: „Todesursache – Erschießung“. Wie mochte sich das wohl für die bereits 72 Jahre alte Frau angehört haben, die in der Kindheit ihren Vater verloren hatte und mit der Brandmarkung „Tochter eines Volksfeindes“ aufgewachsen war? Und wie viele ähnliche Schicksale es in unserem Lande gibt! Wie viele Ohrfeigen erhielt ich von den einst Repressierten während meiner Begegnungen mit ihnen. Die beschuldigen die Behörden der Tatenlosigkeit. Sie sagen: wir befanden uns ebenfalls unter Beschuss. Was für ein Unterschied – von wessen Kugeln man beschossen wird? Die eigenen Schmerzen noch viel mehr. Und in vielerlei Hinsicht haben sie recht. Sag mit mal, wir hoch kann oder soll man das Leben eines Menschen schätzen?

- Es ist unbezahlbar.

- Jekaterina Maksimowa starb als eine von einer Sondersitzung Verurteilte, die sich im Juli 1943 unter NKWD-Aufsicht in der Verbannung befand. Sie lebte für die Zukunft, wartete auf ihren Mann. Aber dann begann der Krieg. Sie wurde verhaftet und zwang sie anschließend ein Feind zu sein, indem man ein entsprechendes Geständnis aus ihr herausprügelte. Und nun sag du mir, wie wir uns vor ihrer Erinnerung rechtfertigen können? Also – wir werden versuchen, die Stelle zu finden, an der sie begraben liegt, um dort ein Kreuz auf dem Grab der einfachen russischen Frau aufzustellen, welche weder die Rückkehr ihres Mannes, noch den Sieg erlebte. „Nichts und niemand wird vergessen“ – das ist es, weshalb wir Maksimowas Grab suchen.

Barmherzige Verbannung

Nach der Version einiger Augenzeugen aus jenen Jahren wurde Sorges Frau vergiftet. Ich weiß, Sie haben sich mit der Bitte an die Machthaber gewandt, die Geheimhaltung der in der Akte vorhandenen Materialien aufzuheben und zur Einsicht freizugeben…

- Auf den ersten Brief erhielt ich die Antwort: „die Akte kann im Zusammenhang mit dem Gesetz „Über das Staatsgeheimnis“ nicht zur Einsichtnahme freigegeben werden“. Mein zweites Schreiben richtete ich an den Leiter des FSB der Russischen Föderation und bekam eine Antwort mit der Unterschrift des Chefs der Behörde für Registrierung und Archivbestände des FSB der RF – S. Christoforow. Sie lautete, dass ich aufgrund des Gesetzes über die Opfer politischer Repressionen kein Recht hätte, mich mit der Akte vertraut zu machen. Dazu seien lediglich die Angehörigen berechtigt, und die hätten sich angeblich nicht an die Behörde gewendet.

- In einem Interview bestätigte der Chef dieser Behörde, dass das NKWD an Jekaterina Maksimowa keinerlei Interesse gehabt hätte und diese Organe mit ihrem Tod überhaupt nichts zu tun hätten.

- Aber wie ist sie denn dann in die Verbannung geraten? Ja – und in den Kommentaren gibt es eine Menge widersprüchlicher Informationen. Einerseits wurde sie der Spionage angeklagt, und hat darüber angeblich auch ein Geständnis abgelegt. Andererseits wird bekräftigt, dass ihre Verhaftung mit dem Namen Sorge nichts zu tun gehabt hätte. Das ist nicht wahr. Maksimowa wurde verhaftet, nachdem Sorge in Japan aufgegriffen worden war. Mehr als 20 Jahre lang hat unser Land über ihn nichts gewusst. Und erst als die Franzosen den Film „Wer sind Sie, Doktor Sorge?“ drehten und Chruschtschow ihn sah, verlieh man dem Agenten die Bezeichnung eines Helden der Sowjetunion. Posthum. Etwas später wurde auch die Maksimowa rehabilitiert. Sorges Asche übergab seine japanische Ehefrau im Jahre 1949 auf dem Zivilfriedhof in Tokio der Erde. Die Begräbnisstätte der Maksimowa, die in der Verbannung in Bolschaja Murta starb, ist bis heute unbekannt.

- Und außerdem: nach der Version der FSB-Vertreter wurde Maksimowa nach Sibirien verbannt, um sie vor der Erschießung zu bewahren.

- Ich habe eine Menge über Repressionen gelesen, aber von einer derartigen „Barmherzigkeit“ habe ich zum ersten Mal gehört.

- Es ist wohl eher so, dass sie etwas wissen, wovon wir nichts erfahren sollen.

- Sie wissen viel. Und die Akte der Maksimowa, die sie einem nicht zu lesen geben – ist eine der Aktenmappen der großen Sorge-Akte. Die Mitarbeiter des lokalen Museums sammeln Stück für Stück Informationen über seine Ehefrau, zeichnen die Erinnerungen von Augenzeugen auf, aber nicht ein einziger Mitarbeiter des NKWD aus jener Zeit reagiert darauf. Ich glaube, das wird er auch so lange nicht tun, bis ihm irgendeiner von oben das Kommando dazu gibt.

Dossier

Anatolij Romaschow wurde 1939 in der Ortschaft Bulgakowka, in der Region Kursk, geboren. Er absolvierte das Ingenieur-Bau-Institut in Charkow. Er arbeitete beim Bergbau- und Chemie-Kombinat, war Vorsitzender des Schelesnogorsker Stadtrats. Ab 1989 war er Deputierter des Regionsrates, ab 1997 – Abgeordneter der Gesetzgebenden Versammlungen für alle drei Anhörungsstufen.

Olga Lobsina

„Argumente und Fakten“, 02.11.2011


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