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„§ 58. Das Nicht-Konfiszierte“. Lew Netto. Büchlein mit den Adressen der Aufständischen

Lew Alexandrowitsch Netto: „Sie schossen uns ab wie Wild… Wir begriffen, dass unser Aufstand niedergeschlagen werden würde“

§ 58 des Strafgesetzes der RSFSR

58-1. Als konterrevolutionär gilt jede Handlung, die sich auf die Beseitigung, Untergrabung und Schwächung der Macht der Arbeiter- und Bauernräte richtet <…>.

58-1a. Vaterlandsverrat: Erschießung mit Konfiszierung des Besitzes oder 10 Jahre Haft mit Konfiszierung des Besitzes.

58-1b. Verrat seitens Militärpersonen: Erschießung mit Konfiszierung des gesamten Besitzes.

Geboren 1925 in Moskau. Älterer Bruder des bedeutenden Fußballspielers Igor Netto, Sieger bei den Olympischen Spielen 1956 und Europameister 1960.

1943 – an die Front einberufen, durchlief eine Ausbildung an der Schule für Partisanenkader.

Februar 1944 – gelangte mit einer Gruppe Partisanen als Angehöriger der Luftlandetruppen nach Estland; geriet beim ersten Zusammenstoß mit Straftrupps in Gefangenschaft. Man schickte ihn in ein Kriegsgefangenenlager – zunächst nach Dwinsk (Lettland), später nach Kaunas (Litauen, schließlich mit einer Häftlingsetappe nach West-Deutschland.

15. März 1945 – in der Nähe der Stadt Plauen (Deutschland) von amerikanischen Truppen befreit. /Ungeachtet der zahlreichen Angebote in die USA oder nach Frankreich zu gehen, beschloss er in Moskau zu bleiben.

19. Mai 1945 – von der amerikanischen Besatzungszone an die sowjetische übergeben. Gelangte in einer Kolonne ehemaliger Kriegsgefangener und Ostarbeiter zu Fuß bis in die West-Ukraine, wo er zum Kriegsdienst in die Rote Armee einberufen wurde.

April 1948 – unmittelbar vor dem Ende des Wehrdienstes von der Spionage-Abwehr der Stadt Rowno wegen des Verdachts der Spionage verhaftet. Zwei Monate lang nächtliche Verhöre und Foltern.

22.Mai – verurteilt zu 25 Jahren Haft. Gefangenenetappe Rowno – Kiew – Moskau – Swerdlowsk – Krasnojarsk – Norilsk.

Herbst 1949 – traf im Gorlag (Norilsk) ein. Neun Monate – allgemeine, ungelernte Arbeiten (hauptsächlich Bauarbeiten), später – Arbeit als Drechsler in einer Reparatur- und Mechaniker-Werkstatt.

März 1953 – zahlreiche Morde an Häftlingen seitens der Wachen, als Antwort darauf – Aufflammen öffentlicher Empörung, die zum Anlass für den Aufstand wurde.

25. Mai – Beginn des Aufstands, zum Juli grausam niedergeschlagen. Die Teilnehmer wurden ermordet oder auf andere Lager verteilt. Lew Netto wird mehrmals mit einer Häftlingsetappe verschickt.

Februar 1956 – nach 7 Jahren Lagerhaft in die Freiheit entlassen.

Im Lager holten sich mich als Drechsler in die Reparatur- und Mechaniker-Werkstatt. Meine Haftstrafe betrug 25 Jahre, zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits neun Monate ungelernte Arbeiten verrichtet, ewigen Frostboden herausgemeißelt und begriffen, dass ich 25 Jahre in derartigem Frost nicht durchhalten würde, - aber in der warmen Drechsler-Werkstatt bestand eine Überlebenschance. Deswegen musste ich lernen. Ein Lagerfreund fertigte mir dieses Büchlein an, und ich begann alles hineinzuschreiben, was ich für meinen Beruf brauchte: Aufbau und Ausrüstung der Werkbank, Formeln für die Drechsler-Arbeit.

Meine Haftbedingungen erwiesen sich als ziemlich freizügig, es blieb Zeit, die Lager-Bibliothek aufzusuchen. Nach und nach fing ich, neben Fachbüchern, an, auch bekannte Philosophen zu lesen und ihre Gedanken niederzuschreiben. Engels las ich komplett durch und fand dort nützliche Empfehlungen. Bei Sokrates fand ich: „Alles, was wir wissen, ist nichtig. Das, was wir nicht wissen – ist die Unendlichkeit“. Oder ich schrieb bei Leo Tolstoi ab: „Tu, was du tun musst – und komme, was wolle“. Das wurden für mich Orientierungspunkte fürs Leben.

Und im Juli 1953, auf dem Höhepunkt des Norilsker Aufstands (Streik der 16.000 Häftlinge des Norilsker Gorlag. – J.R.), fing ich an, in dieses Büchlein die Adressen der Verwandten meiner Lager-Freunde zu schreiben.

Nach Stalins Tod hegten wir die Hoffnung, dass das Leben leichter würde, doch es kam ganz anders: es begann die Vereinigung von MGB und KGB, ihre Mitarbeiter fürchteten um ihr tägliches Stückchen Brot, und um zu zeigen, was notwendig war, verschärften sie die Haftbedingungen.

Sie schossen uns ab wie Wild. Wir gehen durch die Tundra zur Arbeit, ein Häftling strauchelt und gerät ein Stückchen aus der Kolonne. Sogleich erfolgt der gewohnte Ablauf: der Begleitsoldat lässt die Schäferhunde los, und schon zerreißen zwei-drei Tiere den toten Körper. Der Kolonnenführer eilt herbei und sieht: die Leiche liegt n8ur einen Meter von all den anderen entfernt. „Alles klar, Fluchtversuch“. Der Tote bleibt zurück, die Kolonne zieht weiter.

Sie töten auch bei der Arbeit. Sie führen die Kolonne mit 200 Mann zur Baustelle der Kupferwerke. März, Schneetreiben, bis zu 50 Grad minus, aber sie müssen Gräben ausheben. Jemand versucht sich beim Stromwender zu verstecken, um nicht arbeiten zu müssen – aber das geht nicht! Wenn du in einer Brigade bist – dann achten sie auf dich; wenn du zu erfrieren drohst, reiben sie dich mit Schnee ab. Sich von allen entfernen bedeutet – Tod.

Nach 12 Stunden treiben die Begleitsoldaten uns zusammen, um uns ins Lager zurückzubringen. Sie zählen uns ab und sehen: ein oder zwei fehlen. Alles ist klar: sie haben sich versteckt, sind erfroren. Die Kolonne soll sich in den Schnee setzen, die Wachen gehen los, um die Fehlenden zu suchen. Da – ein Schlag, ein Schuss. Wenn einer fehlt – ein Schuss, fehlen zwei – zwei. Es ist unwichtig, ob sie gänzlich dem Kältetod zum Opfer gefallen oder lediglich steif gefroren sind und nicht mehr laufen können… Niemand wird sie bis zur Sanitätsabteilung schleppen; ein Kontrollschuss in den Schädel – und Schluss. Die Wachsoldaten kommen zurück, und wir gehen ins Lager.

Der Geduldsfaden riss, als ein Wachsoldat Ende Mai in der Wohnzone grundlos einen Häftling - und zuvor auch noch ein paar andere – umbrachte. Jedes mal kamen Offiziere angelaufen, schauten sich um und schrieben dann in ihr Protokoll „Fluchtversuch“. Die Konvoi-Soldaten wurden zu solchen Aktionen mit Urlaubsversprechen und Prämienzahlungen angespornt, und jeder von uns war darauf vorbereitet, in einem beliebigen Augenblick ebenfalls ins Jenseits zu geraten. Dann, am 25. Mai, heulten die Sirenen im Kesselhaus. Es reicht! Streik!

Eine Kommission aus Moskau traf ein, um Einblick in die Situation zu bekommen, angeblich hatte Berija höchstpersönlich sie geschickt. Und wir hatten bereits schriftliche Forderungen aufgestellt. Dass sie die Gitter von den Fenstern entfernen, die Barackentüren nachts nicht zusperren, die Häftlingsnummern von den Wattejacken, Besuche und Briefkorrespondenz erlauben und ihre Fälle überprüfen sollten. Und noch eine Forderung: dass nämlich die Streikenden nicht verfolgt werden sollten. Diese Forderung erfüllte die Kommission nicht.

Ende Juni erfuhren wir, dass man eine gewaltsame Unterdrückung des Aufstands plante, in der 5. Lagerabteilung wurden dafür Feuerwehr-Fahrzeuge und Truppen eingesetzt. Am 1. Juli waren sogar in unserem Lager Schüsse aus Automatik-Gewehren und Geschoss-Salven von dort zu hören; am folgenden Tag wurden von einem der Wachtürme Steine mit kleinen Zetteln und der Aufschrift: „In der Lagerzone 5 gibt es viele Tote und Verwundete“ geworfen. Wir fingen an uns auf das Ende vorzubereiten.

Sie schlugen den Aufstand unter großem Blutvergießen nieder. Diejenigen, die die Umgekommenen begraben mussten, sagten mir: allein in zwei von fünf Lagerabteilungen gab es etwa 150 Tote, ganz zu Schweigen von denen, die zu Krüppeln geschlagen wurden. Die Organisatoren des Aufstands wurden aufs Festland gebracht und anschließend an die Kolyma oder das Wladimirsker Zentralgefängnis. Mich zählten sie nicht zu den Organisatoren; sie schickten mich zuerst ins Lager „Hoffnung“ und später in die Lagerstelle „West“.

Als ich 1956 amnestiert wurde, kehrte ich nach Moskau zurück und machte mich daran Freunde zu suchen.

Wir hatten von Anfang an begriffen, dass der Aufstand unterdrückt und wir in verschiedene Lager gesteckt werden würde, aber wenn wir entlassen würden, mussten wir einander wiederfinden. Wir waren noch Grünschnäbel, keiner von uns hatte eine eigene Familie, und so notierte ich hauptsächlich die Adressen der Eltern. Aber als wir dann in Freiheit kamen, existierten viele von ihnen schon nicht mehr. Ein Teil der Freunde waren Wolga-Deutsche; ich schrieb die Anschriften ihrer Geschwister in Kasachstan oder Sibirien auf.

Eigentlich schrieb ich jedem, der in meinem Büchlein verzeichnet war. Nur ein Drittel ließ mir eine Antwort zukommen.


Der Soldat Netto kurz vor seiner Verhaftung im Jahre 1948.
Foto vom schwarzen Brett der Bestarbeiter.

Ich zog „für die Heimat, für Stalin“ in den Krieg. Auf der Parade des 1.Mai 1941 sah ich meinen Führer, war stolz darauf. Mein Vater war Kommunist, lettischer Schütze; er verteidigte die Sowjetmacht, arbeitete später im Volkskommissariat für mittleren Maschinenbau. Mama war ebenfalls auf der Seite der Bolschewiken, und sie nannte mich Lew zu Ehren ihres Idols Trotzki, mit dem sie zusammen im Volkskommissariat für ausländische Angelegenheiten tätig war.

Innerhalb der Familie hatte man absolutes Vertrauen zu Stalin. Ich hörte, wie Vater zur Mutter sagte: so einen haben sie festgenommen, na, es musste sein; er war ein ganz treuer Bolschewik! Der Vater starb zuhause, und er glaubte bis ans Ende seiner Tage nicht, was da vor sich ging; er war überzeugt, dass all das böse Streiche der imperialistischen Umgebung waren.

Die Leninistischen Gardesoldaten konnten ebenfalls nicht erkennen, was da vor sich ging. In Norilsk saß ich mit dem Sekretär des Omsker Gebietskomitees und dem Leiter der Hauptverwaltung der Handelsunternehmen für Kriegsdienstleistende der Roten Armee ein. Sie alle verbüßten damals eine Haftstrafe von 14-15 Jahren, aber keiner von ihnen glaubte, dass sie wegen Stalin ins Lager geraten waren.

Der Krieg

Als der Krieg ausbrach, trat ich in die Handwerkerschule ein und begann in der Fabrik „Kompressor“ und später bei Stankolit als Drechsler zu arbeiten. Ich produzierte Minen und Projektile und wurde dafür vom Militärdienst freigestellt. Aber davor hatte ich die Militärschule besucht, konnte mit allen Arten von Schusswaffen umgehen und hatte bekräftigt, dass es für mich im Hinterland nichts zu tun gab und ich unbedingt an die Front wolle.

Der Einberufungsbescheid ging mir erst 1943 zu. Zu der Zeit waren die meisten meiner Freunde bereits an der Front gestorben (viele von ihnen in der Schlacht um Moskau 1941). Ich kam in die sogenannten estnischen National-Divisionen. Innerhalb von drei Kriegsjahren hatten ihre Reihen sich schon ordentlich gelichtet, und ihre Aufstockung erfolgte durch Esten, die in Russland lebten. Ich durchlief eine Ausbildung zum Minenfachmann in der Vorbereitungsschule für Partisanenkader und wurde zusammen mit einer Spionagegruppe ins tiefste deutsche Hinterland geworfen.

Ich war nur an einem einzigen Kampf beteiligt. Estland, ein Waldgebiet. Der Deutsche hatte uns bereits umzingelt, unsere Munition war zur Neige gegangen. Ich und mein Kamerad – der Este Enn Taijur – kamen zusammen in eine Partisanengruppe unter Leutnant Sergej Batow. Wir liegen da, er sieht mich an: „Das war’s, Leo“. Na ja, wir verabschiedeten uns – eine Minute später sehe ich, dass sein Kopf blutüberströmt ist. Unser Kommandeur Sergej Batow warf seine letzte Granate und – starb ebenfalls. Er konnte nicht einmal mehr „Fürs Vaterland!“ – „Für Stalin!“ rufen.

Auch mein Automatikgewehr war für mich bereits nutzlos geworden, ich besaß nur noch eine Handgranate. Ich riss den Splint heraus, erhob mich ein wenig, um sie werfen zu können und dasselbe zu tun, wie mein Kommandeur. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen – und sah meine weinende Mutter.

Als wir an die Front fuhren, mussten wir auf dem Kansker Bahnhof eine Stunde auf den Zug warten, und so stürzte ich zu mir nach Hause, in die Dajew-Gasse. Ich renne und sehe: da sitzt die Mama an der Nähmaschine, näht Soldatenwäsche und weint. Und dieser Anblick kam mir nun für den Bruchteil einer Sekunde wieder vor Augen. Ich war nicht in der Lage mich aufzurichten. Ich warf die Granate hinter einen Felsstein – und das war’s – schon hatten sie mich umstellt.

… Ein alter Mann mit einer Axt in der Hand stürzt auf mich los. Nein, kein Deutscher, einer von uns, ein Ortsbewohner, einer von den Straftrupps. Diesen Straftrupps gehörten Jungs wie wir aus dem Gebiet Pskow an, das bereits besetzt war. Aus ihren Reihen suchten sie die heraus, die besonders kampfbereit und verzweifelt waren. Das waren sie – und wir auch.

Und da stehen nun diese Straftrupp-Angehörigen, lachen und warten, was dieser Alte jetzt machen, wie er mir mit der Axt eins überziehen wird – mit dem Rücken oder mit der Schneide. Ich erstarrte und konnte nichts mehr tun – an diesen Zustand der Versteinerung kann ich mich nur zu gut noch erinnern…

Und sogleich nähert sich eine deutsche Unterabteilung, sich hinter den Straftrupps in Sicherheit befand. Der deutsche Offizier sieht mich – und gibt dem Alten mit der Hand ein Zeichen: weg da! Verschwinde! Und der Alte verschwand im Nu. Wieder einmal blieb ich am Leben, als ob mich jemand beschützt hätte.

Gefangenschaft

Durch Lettland wurden die Gefangenen in einer Kolonne geführt. Dort gab es ausschließlich Partisanen – sowohl Esten, als auch Russen und Weißrussen. Ich schließe die Augen – und sehe: Frauen kommen auf uns zugelaufen, sie schreien: „Stalinistische Banditen!“, sie bewerfen uns mit Stöcken, Steinen, versuchen näher an uns heranzuspringen und uns zu bespucken. Sie hassten alle Partisanen. Und wir merkten diese Haltung – und waren stolz. Ja, wir gehören auch zu denen, wir sind Partisanen.

Zuerst brachten sie uns in ein Lager in Daugawpils. Wir nähern uns der Stadt und sehen riesige, hundert, zweihundert Meter hohe Erdwälle. Wir fragen die Jungs aus dem Lager, was das bedeuten soll. „Da erholt sich das Heerespersonal der Roten Armee“, - erwidern sie.

Das Ganze erwies sich als Erdaufschüttung, wo Kriegsgefangene begraben worden waren. Diejenigen. die 1944 aufgrund von Kälte, Hunger, Krankheiten gestorben waren. Wenn Leute umkamen, dann (so erzählte man mir) hoben ebensolche Kriegsgefangene Guben aus, man warf die Leichen hinein und schüttete sie anschließend mit Hilfe von Bulldozern mit Erde zu.

Millionen gerieten in Kriegsgefangenschaft. Dich Stalin verkündete: bei mir gibt es keine Gefangenen, bei mir gibt es nur Vaterlandsverräter. Daher gewährte das Rote Kreuz ihnen keine Hilfe, sie hatten nichts zu essen, Hitler hatte nicht daran gedacht, dass bei ihm so viele Schmarotzer auftauchen würden. Und 1941-1942 wurde die gesamte Berufsarmee zum Tode verurteilt.

Es war unser Bestreben die Flucht zu ergreifen, zu fliehen und nur zu fliehen. Sie führten uns gen Westen, aber wir hätten doch nach Osten gemusst. Aber parallel zu uns wichen die Kolonnen der Wehrmacht zurück. Die kleinste Bewegung – und wir wären in den Straßengraben gestürzt.

Die Flucht gelang uns erst im Frühjahr 1945, in der Nähe von Eisenach, West-Deutschland.

Unsere Kolonne –mehrere hundert Mann – wurde lediglich von vier Deutschen geführt, ortsansässigen alten Männern, die letzten, die sie noch hatten einberufen können. Am Abend brachten sie uns über eine Brücke, die eine Schlucht überspannte; zu dritt sprangen wir hinunter – und es wurde in der Finsternis nicht bemerkt.

Zwei Wochen hielten wir uns verborgen: wir sammelten Kartoffeln, Rüben. Obwohl längst klar war, dass Deutschland verloren hatte und überall im Lande russische Truppen herumliefen, gaben die deutschen Bauern uns Brot und ließen uns bei sich übernachten.

Schließlich entdeckte uns eine Feld-Gendarmerie. Der deutsche Offizier gibt zwei MG-Schützen ein Kommando – und die bringen uns irgendwo hin. Na, denke ich, wenn sie uns nicht sofort erschossen haben, dann gibt es also noch Hoffnung, dass wir dem Tod entrinnen.
So gehen wir zu zweit, ruhig und zuversichtlich mit den Schützen weiter. Aber unser dritter Freund, der einzige, der Deutsch verstand, ist weiß wie ein Bettlaken.

Wir sehen – sie wollen uns in die Schlucht bringen. Irgendwie unangenehm: die Insekten fangen an zu schwärmen. Wir steigen hinab – und dort befindet sich eine Kolonne Kriegsgefangener; sie werden uns wohl dazugesellen – und das war’s. Wir wurden ganz ruhig, aber der Dritte meint: „Oh Gott, wie seid ihr dumm. Der Offizier hat doch gesagt: in der Schlucht ist eine Kolonne mit Kriegsgefangenen. Wenn sie dort ist – dann übergebt sie den wachen, wenn nicht – lasst sie trotzdem dort“. Das Schicksal hatte mich wieder einmal behütet.

Wir übernachteten unter irgendeiner Überdachung; am morgen sehen wir – unsere Wachen sind nicht da, wie ungewöhnlich. Und plötzlich erblicken wir – merkwürdige große Fahrzeuge mit Geschossen, Menschen – und sie sehen alle ganz schwarz aus. Sie rennen aufgeregt hin und her, dass es einem angst und bange wird. Und plötzlich fingen alle an zu schreien: Amerikaner!

Echte weißhäutige Amerikaner tauchten später auf und stürzten direkt auf uns zu: sie fingen an uns zu umarmen, abzuküssen und freuten sich beinahe noch mehr, als wir. Sie schrien“ „Russian, Russian!“ Und was für Russen; bei uns waren auch Ukrainer, Kaukasier und Usbeken. So also habe ich aufrichtige Freundschaft zwischen Völkern kennengelernt. Das war nicht an der Elbe, sondern in der Stadt Plauen, in West-Deutschland.

In der amerikanischen Besatzungszone verbrachte ich fast einen Monat. Nach Plauen gerieten zahlreiche Russen, die zur Arbeit dorthin geführt wurden. Und es war eine umfangreiche Propaganda im Gange – mit Plakaten, Listen – wer wohin abfahren wolle: entweder nach Kanada oder Australien oder Neuseeland…

In der Nähe befand sich die französische Grenze, und die französischen Gefangenen riefen uns zu sich: wohin wirst du fahren, komm zu Fuß zu uns, wir bringen dich in Paris unter, die Mädchen hier bei uns sind so nett… Und schon bald darauf begann man unter den Russen davon zu reden, dass man nicht nach Hause zurückkehren durfte, dass sie die Kriegsgefangenen doch bloß ins Gefängnis steckten. Es wurden Komitees gebildet, die sich mit der Verschickung der Kriegsgefangenen in verschiedene Länder befassten. Aber wir drei entschieden uns: wir wollen nach Hause.

Nach Hause!

Schon bald wurde mit der Formierung einer Kolonne in die russische Zone begonnen. Zu der Zeit war die Mehrheit der Russen bereits irgendwohin abgefahren, in die Heimat wollten nicht viele zurückkehren.

Die Amerikaner verabschiedeten uns genau so, wie sie uns auch empfangen hatten: sie umarmten und küssten uns, überreichten uns Geschenke. Und, wie mir scheint, verhielten sie sich uns gegenüber besser, als gegenüber denen, die sich zur Emigration entschlossen hatten. Sie dachten, dass wir … die Heimat nicht im Stich ließen – oder?

Man brachte uns alle in offenen Studebakers unter. Mehr Kriegsgefangene gab es dort nicht, aber Familien, die zur Arbeit getrieben wurden; in diesen Jahren war auch die Zahl ihrer Kinder gestiegen. Und weiter ging es – die Demarkationslinie. Ein Soldat steht da. Frauen und Kinder schreien, schwenken mit den Armen, grüßen. Der kleine Soldat steht da wie eine Statue, und auf seinem Gesicht steht ganz deutlich geschrieben: da transportieren sie also die Vaterlandsverräter ab. In diesem Augenblick dachte ich zum ersten Mal daran, dass es wohl ein Fehler war, zurückzukehren.

In der sowjetischen Zone brachten sie uns in ein Filtrationslager, wo wir einzelnen überprüft wurden. Vor allem wurden die erwachsenen Männer abgetrennt, um sie an die Truppeneinheiten zu überstellen. Die Familien wurden bedingungslos auseinander gerissen. Die Frauen weinten, die Kinder schrien… Und dann fingen sie an, sich auf die Rückkehr in die Heimat vorzubereiten.

Nach Russland machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Wir gingen in einer Kolonne los, sobald es hell wurde, und marschierten bis zum Abend. Jeden Tag schafften wir bis zu 90 Kilometer. Parallel zu uns bewegte sich gen Osten eine Herde deutscher Rasserinder, und es fuhren endlose Züge vorüber. Nicht ein einziges Mal sah ich, dass in ihnen siegreiche sSldaten zurückfuhren. Sie waren mit einer ganz anderen Fracht beladen.

Wir durchfuhren Deutschland, anschließend Polen. Und dann kamen wir in die West-Ukraine – in die Stadt Kowel. Dort verkündete man mir: du bist erst 20 Jahre alt, du musst deinen Wehrdienst absolvieren. Und so blieb ich für drei Jahre in der West-Ukraine.

Das Spektakel

Nach drei Jahren, im Februar 1948, verkündet man uns unsere Demobilisierung. Unmittelbar vor der Rückkehr schickt man mich dienstlich zum Armeestab in der Stadt Rowno, um den Kurier mit einem Paket zu begleiten.

Wir treffen ein, der Kurier betritt das Kabinett des Vorgesetzte und ich warte. Als er wieder herauskommt sagt er: „Warte hier , ich muss noch eben woanders hin. Wenn ich zurückkomme, fahren wir“. Sogleich kam in mir ein Gefühl der Unruhe auf. Drei Minuten später rufen sie mich in eben dieses Kabinett. Dort befinden sich drei oder vier Offiziere; sie fragen: „Du weißt, wo du hier bist? Welcher Armeestab? Du bist bei der Spionageabwehr! Du bist verhaftet! Du wanderst ins Gefängnis“.

Sie fangen an mich zu fragen: ob ich in der amerikanischen Zone war. Und – wie war es dort? Ich berichte – und ich fühle, dass sie alles schon längst wissen. Und plötzlich sagen sie: „Erzähl‘ uns bloß nicht, dass du freiwillig zurückgekommen bist. Nur Spione kommen wieder. Als los – erzähl schon: wer hat dich angeworben, welche Aufgabe haben sie dir gegeben?“

Vor dem Ermittlungsrichter auf dem Tisch liegt ein Papier, Unterschrift – Latyschew. So hieß einer unserer Soldaten. Er war Diensthabender in einer der Abteilungen und kam nur zum politischen Unterricht zu uns. Ich war in diesem Unterricht sehr aktiv gewesen, als sie mich befragten: und ich erzählte ihnen, was die Amerikaner für nette Burschen waren und dass sie sich von den Russen überhaupt nicht unterschieden. Und genau das hatte er wahrscheinlich gemeldet. So gab es einen Grund mich zu verhaften.

Die Verhöre zogen sich über einen Zeitraum von zwei Monaten hin. Abends bringen sie mich zum Verhör; dort sitzen der Ermittlungsrichter, Major Fjodorow, und ein paar Offiziere, seine Assistenten. Einer sagte immer wieder dasselbe, der andere schließt sich dem an. Und ich habe bereits einen Kopf wie aus Gusseisen. Sie verhören mich Nacht für Nacht, und tagsüber lassen sie mich nicht schlafen. Trotzdem streite trotzdem alles ab – und dann beginnen sie mir echte körperliche Gewalt zuzufügen: Schläge, Handfesseln, Karzer.

Am meisten Angst hatte ich, als der Major mich unterhalb der Rippen prügelte, als ob er mich bis zu in die innersten Organe treffen wolle. Und die Fesseln waren von ganz besonderer Art: du brauchtest nur ein klein wenig deine Hände zu bewegen – und schon zogen sie sich dermaßen eng zusammen, bis sie die Haut bis aufs Blut durchgescheuert hatten. In der Tür zerquetschten sie mir die Finger. Und einmal waren sie ganz übereifrig: die Haut platzte auf, ein weißes Stückchen Knochen wurde sichtbar – und ich verlor das Bewusstsein. Als ich aufwache, liege ich in der Zelle und mein Finger ist voller Blut. Und meine Nachbarn sagen: unterschreib‘ das, was sie sagen, sonst machen sie dich zum Krüppel.

Beim nächsten Verhör sage ich zum Untersuchungsrichter: na gut, ich unterschreibe alles, aber ein Märchen kann ich mir nicht ausdenken – das müssen Sie selber schreiben.

Einen Tag später ruft er mich zu sich und spricht mit mir jetzt schon ganz höflich: „Wir verstehen, dass du kein Spion bist, aber da du nun schon mal hierher geraten bist, gibt es keinen Weg zurück. Wenn von hundert Verurteilten einer ein Spion ist – dann ist das unser Verdienst. Da hast du also dein Märchen – unterschreib‘!“

Ich beginne zu lesen und denke: was ist das denn?! Kein Wort über die Amerikaner; stattdessen steht dort, dass ich den Kommandeur eines Trupps umgebracht habe, zu den Deutschen übergelaufen bin und Geheimnisse an sie verraten habe…

Ich überlege: ne-ein! Dass ich ein Spion bin, das kann ich noch unterschreiben, aber so etwas? – Nein! Und der Ermittlungsrichter sagt ganz ruhig: „Denk nur ruhig noch ein wenig nach. Wenn du das nicht unterschreibst, werden wir deinen Vater und deine Mutter herbestellen – dann können sie sich diesen Vaterlandsverräter hier ja mal anschauen“.

Ich antworte: „ Alles, was Sie wollen, werde ich unterschreiben. Aber rühren Sie nicht meine alten Herrschaften an“.

Ein paar Tage später bringen sie mich vor Gericht. Dort sitzt eine Troika, man verliest das Urteil: 25 Jahre Lager und 5 Jahre Verlust aller bürgerlichen Rechte. Aus!

Normalerweise fielen die Menschen vor Gericht in Ohnmacht, aber ich hatte das Gefühl, als wenn hier irgendein Theaterstück stattfand. Ich bin 23 und soll 25 Jahre sitzen. Das ist unnatürlich, nicht wahrhaftig. Ich stehe, schaue die Richter an und lächele.

Die Stimmung ist gut, mein Lebensziel ist klar“

Als wir nach Krasnojarsk kamen, herrschte bereits Frost, der Jenissei war zugefroren, und es war klar, dass wir hier überwintern mussten. Ich schrieb nach Hause: die Stimmung ist gut, mein Lebensziel ist klar, auf ein baldiges Wiedersehen. Nein, ich beklagte mich nie. Worüber denn auch? Dass ich Langeweile habe? Im Lager war mir nicht langweilig, denn um mich herum gab es Freunde. Und das Ziel war auch tatsächlich verständlich. Im Krasnojarsker Durchgangslager sagten sie mir, dass es da so eine Partei gäbe – die Demokratische Partei Russlands. Sie wäre draußen, in der Freiheit, aktiv, doch gäbe es auch eine Zelle im Lager. Schon damals wurde ich Antikommunist.

An dem Begriff „Sowjetmacht“ begann ich von dem Moment an zu zweifeln, als ich am Leben blieb. Als der deutsche Offizier „Weg!“ sagte – da ging auch der Tod offenkundig von mir. Ich wollte die Deutschen schon töten – aber einer von ihnen rettete mir wohl das Leben. Nein, dachte ich, dieser Deutsche ist kein Faschist. Und da wuchs in mir schon der erste Zweifel: ob das wohl alles so sein wird?

Jetzt stellte ich folgende Überlegung an: Widerstand gegen die Willkür im Lager – ist ebenfalls Widerstrand. Aber um für das Leben zu kämpfen, für seine Menschenwürde – dafür muss man sich zusammenschließen. Und nachdem ich in die Partei eingetreten war, legte ich den Eid ab, Russland von der kommunistischen Invasion zu befreien.

Ich war sowohl bei Hitler, als auch bei Stalin in Gefangenschaft. Man fragt mich häufig: wo war es schlimmer? Bei uns war es schlimmer – sowohl physisch, als auch moralisch. Konnte man im Lager überleben? Natürlich hatten es diejenigen, die im Dienstleistungssektor tätig waren, leichter – sie überlebten. Diejenigen, die in der Kälte, im ewigen Frost schuften mussten – kamen um wie die Fliegen.

An einem Augenblick der Verzweiflung erinnere ich mich folgendermaßen. Man brachte mich damals nach Norilsk und schickte mich zum Stadtbauprojekt. Wir hoben Baugruben aus. Zwanzig Meter weiter unten zieht sich der ewige Frostboden hin, hart wie Felsgestein. Mit der Spitzhacke lässt er sich nicht bearbeiten, die Brechstange zerbricht, der Abbau-Hammer existiert auch schon nicht mehr, aber trotzdem muss man sich irgendwie hindurchgraben.

Pro Schicht schafften wir 10-15 Zentimeter. Und da, in einer Tiefe von 12 Metern, muss ich plötzlich an meine umgekommenen Kameraden denken – Sergej Batow, Enn Tajur, und ich überlege: sie können sich schon ausruhen. Warum hat der Allerhöchste mich bestraft und am Leben gelassen? Wofür muss ich mich hier jetzt so quälen? Eine wirklich verzweifelte Situation.

Aber dann machte mir das Schicksal ein Geschenk. Nach der Stadtbaustelle und dem Bau der Schachtanlagen holten sie mich an einen Arbeitsplatz der meiner Berufsausbildung entsprach – als Drechsler in die zentrale Reparatur-Werkstatt. Ich kam ins Warme, ich brauchte keine Norm mehr erfüllen und mir meine Ration erarbeiten. Aber ich schluderte auch nicht. Wir alle wussten, dass unsere Arbeit nötig war. Sie war nötig, um Nickel und Kupfer zu fördern. Bis 1954 war ich in verschiedenen Lager-Stellen an der Drechsler-Werkbank tätig.

Aina

In Deutschland verbrachte ich als freier Mann zwei Monate. Meine Kameraden und ich waren darin überein gekommen, dass sich jeder einen Hof aussuchen sollte, auf dem er arbeiten konnte, und zwar so lange, bis sie uns nach Hause schicken würden – damit wir Deutschland ganz einfach besser kennenlernen konnten.

Ich fand auch ein Wirtschaft. Die Hauswirtin hieß Elsa, ihr Mann war an der Front gefallen. Geblieben war ihr eine sechzehnjährige Tochter namens Aina. De Frühling kam, die Saison begann. Und so kam es, dass ich zur Erledigung aller Arbeiten immer gemeinsam mit Aina geschickt wurde. Und schon bald konnte ich ohne sie auch schon gar nicht mehr auskommen.

Als wir uns zur Abreise rüsteten, war die Hausherrin verstimmt. Sie sagt: „Warum willst du wegfahren? Dort wartet auf dich Sibirien, und Sibirien ist ein kaltes Land. Bleib hier. Du bist 20, Aina 16. Ihr werdet hier die Hausherren sein“.

Im Prinzip war ich schon bereit zu bleiben. Aber als es darin ging nun endlich abzufahren, war es plötzlich so, als hätte ich Ainas Bild, die Vorstellung von ihr, verloren. Bis heute kann ich mich nicht an die letzten Tage mit ihr, ihre Augen erinnern. Manchmal denke ich: wie bin ich von dort fortgefahren, mit welchem Gesichtsausdruck? Als hätte ich gerade das Haus im Stich gelassen, das mir so vertraut geworden war. Als ob nicht ich selbst, sondern jemand anders mir einen derartigen Streich gespielt hätte. Zuerst hatte der Allerhöchste, als ich sterben sollte, das Bild der Mutter vor mir erscheinen lassen. Später hielt er Ainas Ansicht vor mir verborgen, weil man Schicksal ein anderes war – nicht im ruhigen Deutschland zu leben, sondern in die Heimat zurückzukehren und dort weiter Erfahrungen darüber zu sammeln, was das Leben alles mit sich bringt. Deshalb werde ich es nie bedauern oder bereuen, dass ich einst in Kerkern steckte, dass ich ins Lager geriet. Wenn ich nur einfach in die Sowjetunion zurück gekommen wäre und nicht gleich Bekanntschaft mit dem GULAG gemacht hätte, dann wäre ich heute ein ganz anderer Mensch. Einer, der sich das Wesen der russischen Tragödie des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht hätte vorstellen können.

Jelena Ratschewa

„Neue Zeitung“, 06.11.2011


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