Jedes Jahr am 30. Oktober begeht unser Land einen traurigen Tag – den Tag des Gedenkens an die Opfer der stalinistischen Repressionen. In Stalins Kerkern kamen etwa 40 Millionen Menschen ums Leben. Ich möchte von Aleksandra Sacharowna Wasiljewa, einem der Opfer, erzählen
Auszüge aus dem Buch „Mein Golgatha“ von Aleksandra Wasiljewa
Achtzehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in stalinistischen Kerkern. Im
zweiten Band „Opfer politischer Repressionen des Irkutsker Gebiets“ steht
geschrieben: „Akte 13594. Aleksandra Sacharowna Wasiljewa-Garina, geb. 1902,
gebürtig aus der Stadt Moskau, lebte in Irkutsk, arbeitete als Lehrerin an der
Sch7ule N° 15, Russin, am 14.03.1937 verhaftet“.
Und bis zu diesem schwarzen Tag – ein glückliches Leben, verbunden mit der
revolutionären Umgestaltung des russischen Lebens zu kommunistischen Prinzipien.
„Meine Mutter, - schreibt Wasiljewa, - war zu Zarenzeiten Köchin, als kleines
Mädchen hauste ich mit ihr in einem Elendsquartier unter dem Treppenaufgang zum
Herrenzimmer, lernte dort Not und Erniedrigung kennen. Aber die Revolution gab
mir alles, wovon man sonst nicht einmal hätte träumen können. Als Tochter einer
Geschirrwäscherin wurde ich Professorin der Philosophie“.
1919 trat Aleksandra der Komsomolzen-Organisation bei, fünf Jahre später wurde sie Mitglied der Arbeiter- und Bauern-Partei (Bolschewiken). Nach dem Abschluss des Instituts der roten Professur wird die junge Philosophin Dozentin an der staatlichen Moskauer Universität und anschließend Direktorin des Instituts für Philosophie in Kiew. Aleksandra hat eine glückliche Familie: Ehemann Michail Garin – Hauptredakteur der Zeitung „Kommunist“, Tochter Maja – Schülerin, und der kleine Sohn August. Aber ganz unerwartet gerät die Familie Garin in Acht und Bann. Aleksandra Sacharowna und Michail Davidiowitsch werden völlig unbegründet des Trotzkismus beschuldigt; man schließt sie aus der Partei aus und entlässt sie von ihren Arbeitsplätzen. Aus Angst vor weiteren Repressionen reisen sie nach Irkutsk ab. Garin bekommt eine Arbeit in der Regionalabteilung für Volksbildung, später ernennt man ihn zum Vorsitzenden des Radiokomitees. Aleksandra Sacharowna unterrichtet Geschichte in der Schule N° 15. Und sie setzt den Kampf um ihren ehrbaren Namen fort, schreibt endlose Briefe nach Moskau – an die Parteikontrolle des Zentralkomitees der WKP (B), an Stalin. Und, o Wunder! Nachdem Stalin sich mit dem Inhalt des Briefs vertraut gemacht hat, ruft er den Vorsitzenden der Kommission für Parteikontrolle Schkirjatow an: „Was ist das da mit der Wasiljewa für eine Geschichte? Bringen Sie das in Ordnung – sie verfolgen die Frau ganz umsonst“. So wurde zwei Jahre später die Anklage fallen gelassen, doch die Gerechtigkeit währte nicht lange: am 9. August 1937 wurde Garin verhaftet, fünf Tage später auch Wasiljewa. Dieselbe Anklage – Trotzkismus. Aleksandra Sacharowna erinnert sich zwanzig Jahre später an die erste Nacht im Gefängnis: „Eine schreckliche Nacht. Es gibt wohl kaum einen Menschen auf dieser Welt, der in der ersten Nacht seiner Gefangenschaft ein Auge zugetan hätte… Ich bin wie im Fieberwahn. Gedanken jagen einem durch den Kopf, und ich kann sie nicht ordnen. Die Gestalten von Kindern schwimmen vorüber, und sie tun mir so unendlich leid, ich bin besorgt um sie. Bei wem werden sie unterkommen?“ Und es liegen noch viele solcher bitteren Nächte und Tage vor mir. Das Ermittlungsverfahren dauerte bis zum Mai 1940. Die Verhöre waren von Foltern begleitet. Die Irkutsker Untersuchungsrichter – NKWD-Angehörige – arbeiteten in doppeltem Einsatz: sie fungierten auch als Peiniger und Henker. Auch heute kann man die folgenden Zeilen nicht ohne Schaudern und seelischen Schmerz lesen: „Ermittlungsrichter Gonterenko ließ mich das „Fließband“ durchleben: es bedeutete damals, dass man den Untersuchungsgefangenen stehen ließ, mit dem Gesicht zur Wand – und das über einen Zeitraum von mehreren Tagen und Nächten. Die Untersuchungsrichter wechselten sich ab, und der Häftling stand und stand. Bei einem Verhör stand ich ununterbrochen 11 Tage und Nächte nacheinander. Ermittler Schakirisjan befiehlt gern, sich mit Sport zu befassen. Das heißt: man muss sich setzen und dann wieder aufstehen, unzählige Male – bis zur völligen Erschöpfung. Schakirisjan stand dah8inter, und wenn ich zu langsam wurde, schlug er mich. Ermittlungsrichter Aleksandrijskij pflegte die Angeklagten unter Schimpfen und Fluchen zu verhören. Er prügelte den Untersuchungsgefangenen lange und grausam. So lange, bis der gesamte Körper durchgehend rotviolette Striemen und Flecken aufwies“.
Wasiljewa hielt stand und unterschrieb kein einziges Protokoll.
Das sowjetische Machtregime, das ihr die äußere Freiheit genommen hatte, war angesichts ihrer inneren Freiheit machtlos. Gemeinsam mit Aleksandra Wasiljewa erlitten auch andere Irkutskerinnen die Qualen des irkutsker Golgatha: Walerija Florensowa – Mikrobiologin, Nadeschda Gorbunowa – Sekretärin des Stadtkomitees der Partei, Reweka Brawaja – Ärztin, Zilja Rasumowa – Abteilungsleiterin der Zeitung „Ost-sibirische Wahrheit“, Maria Sager – Zootechnikerin aus Kujtun, Polina Besproswannych – Sekretärin des Gebietskomitees der Komsomolzen-Organisation, Bella Jakubowskaja – Chirurgin – insgesamt werden sechsundzwanzig unschuldige Opfer des Großen Terrors in dem Buch genannt.
Wasiljewa erhielt eine GULAG-Strafe von fünf Jahren, aber in Wirklichkeit saß sie doppelte so lange ein. 1947 kam sie in Freiheit. Garin wurde ein Jahr früher freigelassen. Die Familie war wieder vereint, und es schien, als ob nun all das Elend, all der Kummer hinter ihnen lagen. Doch einige Zeit darauf – erneute Verhaftung, unbefristete Verbannung: Garin kommt nach Kasachstan, Wasiljewa in die Region Krasnojarsk, zur Holzfällerei. Und erst mehrere Jahre später gelang es ihnen zu beweisen, dass sie Mann und Frau waren. Ihr letzter Zufluchtsort – die Ortschaft Nowotroizkoje im Tschujsker Bezirk, Gebiet Dschambul, Kasachische SSR. Und wahrscheinlich wäre hier auch ihr Golgatha, ihr Leidensweg, zu Ende gegangen (denn die Verbannung war ja für immer festgelegt), wenn nicht am 5. März 1953 der sowjetische Diktator gestorben wäre.
Gealtert von den ungeheuerlichen Qualen, krank (A.S. bewegte sich an Krücken vorwärts – die Folgen einer Lähmung), gingen sie 1955 in die Freiheit. Garin arbeitete bis zu seinem Tod bei den „Nachrichten“, er starb 1980. Wasdiljewa schrieb „Mein Golgatha“. Sie beendete es 1965. Aleksandra Sacharowna starb am 30. August 1968.
Jelena Dimitrijewa,
Geschichtslehrerin
P.S. Die Erinnerungen von A.S. Wasiljewa „Mein Golgatha“ erschienen nur in einer winzigen Auflage – 1000 Exemplare. Herausgegeben wurden sie auf eigene Kosten von ihrem Sohn, dem Onkologen August Michailowitsch Garin, Doktor der Medizin, Professor, Laureat der Staatsprämie.
P.P.S. Zur Zeit des kommunistischen Terrors erfuhren zehntausende unserer Landsleute das irkutsker Golgatha (Kellergewölbe des NKWD in der Litwinowa, 6 und Gefängniszellen). Vielleicht lohnt es sich, einmal über die Verewigung dieser Volkstragödie nachzudenken – Zeichen des Gedenkens an den Gebäuden des FSB und des Zentralen Isolationsgefängnisses N° 1 anzubringen. Das wäre nicht nur ein Zeichen der Reue, sondern auch ein Pfand dafür, dass sich eine solche Tragödie nicht wiederholen möge. Denn insgesamt gesehen, hat doch jeder von uns seinen Leidensweg, sein Golgatha.
Jelena Dmitrijewa
„Angarsker Zeitung!, 10.11.2011