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Lasst uns Menschen bleiben!

Guten Tag, Mitarbeiter der Redaktion und Leser dieser Zeitung! Viel Zeit ist inzwischen seit jenem Tag vergangen, als ich Igor Taskins Veröffentlichung „Grausamkeit darf man niemals rechtfertigen“. Aber man darf sie auch nicht vergessen.

Ich schreibe, um Igor und allen Menschen zu danken, die seinerzeit den deportierten Deutschen geholfen haben und sich jetzt daran erinnern, wie ungerecht man mit einem ganzen Volk umgegangen ist.

Es ist nämlich so, dass auf einem der Lastkähne meine Mama mitgefahren ist. Sie war damals 22 Jahre alt, sie ist auf dem Kahn mit ihrem dreijährigen Sohn und zwei Schwägerinnen ins Ungewisse geschwommen. Am unbewohnten Ufer, irgendwo zwischen Dudinka und Dickson, mussten sie aussteigen, wurden dort einfach ausgesetzt. Das war im August und mit taimyrer Maßen gemessen – bereits Spätherbst: in den Nächten herrschte bereits leichter Frost, und tagsüber stieg die Temperatur nur wenig über Null. Lediglich für die Verwaltung schafften sie es noch rechtzeitig eine Baracke zu errichten (für mich blieb es immer ein Rätsel, wen Mama mit dieser Definition eigentlich meinte), für sich selber mussten die Menschen Erdhöhlen graben.

Daneben wurde den Frauen der Fischfang, das Zerlegen der Fische und das Knüpfen von Netzen beigebracht. Männer gab es dort nicht, außer den Brigadeführern und eben diesen besagten Vertretern der Administration. Alle deutschen Männer waren bereits zuhause von ihren Familien getrennt und in eine unbekannte Richtung deportiert worden; wie sich später herausstellte, waren sie in die Arbeitsarmee gekommen. Mein Großvater war 15 Jahre alt, als er in den Ural geriet, in die Trudarmee. Die Männer arbeiteten dort in der Holzfällerei unter Lagerregime, allerdings gab es weder Wachtürme noch eine Einzäunung mit Stacheldraht.

Im ersten taimyrer Winter starben beinahe alle kleinen Kinder (auch der Sohn meiner Mutter) sowie kranke und alte Menschen. Niemand behandelte sie, es gab keinerlei medizinisch Hilfe. Der Feldscher lam nur einmal im Monat, brachte einen Sud aus Tannennadeln mit, damit die Menschen sich daraus eine Brühe kochen und sich so vor Skorbut schützen sollten. Zum Vergleich: der Vater hatte im Lager ein Lazarett, in dem ein ordentlicher und mitfühlender Arzt (di Leute dort hatten einfach Glück) zahlreiche Menschenleben rettete.

Aber am taimyrer Ufer überlebten die Menschen, indem sie versuchten, sich so gut es ging gegenseitig zu helfen. Die Brigadeführer waren Fischer aus anderen Regionen der UdSSR, die durch ein organisiertes Auswahlverfahren auf die Halbinsel Taimyr geraten waren.. Ich habe nie richtig verstanden, was das bedeutete, aber Mamas Worten zufolge sah der Ablauf eines organisierten Auswahlverfahrens so aus: ein Mann kam ins Kriegskommissariat mit der Bitte, ihn an die Front zu schicken, und man sagte ihm dort, dass die Front einstweilen ohne ihn auskäme, es aber im Taimyrgebiet niemanden für den Fischfang gebe und man dort also dringend gute Fischer benötigte.

Unter den Brigadeleitern befanden sich ganz unterschiedlichen Leute, aber sie verhielten sich alle nicht schlecht gegenüber den Deutschen. Mama sagte übrigens, dass dort zusammen mit ihnen auch Frauen aus dem Baltikum waren. Wenn die Unseren aus dem Arbeiter- und Bauernstand kamen, so stammten die Balten aus den Reihen der Aristokratie. Die Not verbindet Menschen miteinander, deswegen fanden die Frauen eine gemeinsame Sprache: die deutschen Frauen lehrten die Aristokraten das Arbeiten, während die Vertreterinnen aus den baltischen Ländern ihnen feines Handarbeiten beibrachten.

Der Brigadeführer, ein Fischer vom Asowschen Meer, ein schon nicht mehr ganz junger Mann mit baschkirischem Nachnamen, rettete Mama einmal nicht nur die Gesundheit, sondern sogar das Leben. Sie hatte beim Fischfang während eines Sturms eine schwere Verletzung erlitten. Mama verlor vor lauter Schmerz das Bewusstsein, und als sie wieder zu sich kam, betete sie alle Götter um ihren Tod an, denn arbeiten konnte sie nicht, und eine Freistellung von der schweren körperlichen Arbeit bewilligte ihr niemand. Wenn man nicht zur Arbeit ging, konnte es passieren, dass man unter den Erschießungs-paragraphen fiel. Der Brigadier machte zwei Frauen ausfindig, die sich in medizinischen Dingen ein wenig auskannten: eine war unter den Deutschen, die andere stammte aus einem benachbarten Nomadenlager der Dolganen.

Viele Jahre später berichtete Mama mit viel Humor, wie diese Frauen, die sich sprachlich untereinander nicht verständigen konnten, ihre Wunde untersucht hatten und dann mit zahllosen Gesten und Gebärden beratschlagten, was nun zu tun wäre. Sie taten alles, was in ihrer Macht lag, und kamen zu dem Schluss: Mama musste auf jeden Fall mindestens zwei Wochen liegenbleiben.

Und dann wickelte der Brigadier sie in einen Schafpelz, lud sie in ein Boot und brachte sie in die Nachbarsiedlung. Als Mama Einwände machte und sagte, dass man sie beide erschießen würde, wenn die Leitung Wind davon bekäme, meinte dieser Mann nur: „Wenn sie mit uns unmenschlich umgehen, dann heißt das nicht, dass wir uns untereinander genau so verhalten. Egal was mit uns auch geschieht, MEIN Töchterchen, wir dürfen nie vergessen, dass wir Menschen sind“.

Eine Woche lang brachten fremde Leute Mama von einer Siedlung in die andere. Mehr konnte der Brigadeleiter nicht riskieren, denn die Obrigkeit wurde zu einer Inspektion erwartet, aber nach dieser W9oche fing Mama schon langsam wieder an aufzustehen. Später fand der Brigadier einen Anlass und schickte sie zum Netze Flicken, um sie vor der schwersten Arbeit zu bewahren.

Um es genau zu sagen, der Vater hatte im Lager einen jungen Burschen als Pritschennachbarn, der vor Gericht gestellt worden war, weil er sich geweigert hatte, einen unmenschlichen Befehl auszuführen. Er leistete seinen Militärdienst auf der Halbinsel Taimyr. Seine Unterabteilung sollte im November eine Kolonne Deutscher zum Chasetajsker (Chantajsker? – Anm. d. Redakteurs der Webseite) See begleiten (es war bereits tiefster Winter). In der Kolonne befanden sich auch Frauen, Kinder und einige alte Leute.

Die Verlegung an sich verlief mit großen Verlusten, aber der Befehl schrieb vor, alles daran zu setzen, damit so wenig wie möglich deutsches Gesindel am Endbestimmungsort eintraf. Ein junges Bürschlein und noch ein paar weitere Soldaten weigerten sich, die Anweisung auszuführen, denn sie erinnerten sich daran, dass das Menschen waren,, aber dafür kamen sie dann auch vor Gericht. Verwunderlich ist nur, dass sie nicht erschossen, sondern in ein Lager geschickt wurden.

Vieles hat Mama natürlich nicht erzählt, aber als ich älter wurde, begriff ich, dass in qualvollen Zeiten Frauen diejenigen sind, die am meisten leiden. Erstens richtet die Sorge um ihre Kinder sie zugrunde; zweitens müssen sie nicht nur physische und moralische, sondern auch sexuelle Gewalt durchmachen. Ich glaube, dass meine Mama sich aus diesem Grunde zwei Jahre lang weigerte meinen Vater zu heiraten; sie wollte mit Männern einfach nichts zu tun haben. Und dies war auch der Grund, weshalb sie den Leiter ertränken wollte, der zu einem Inspektionsrundgang gekommen war und die Dummheit besessen hatte, aufgewärmt durch die Julisonne, am Bug der Barkasse einzuschlafen.

Meine Mama war zu jener Zeit Leiterin der Fischfang-Einheit; außer ihr befanden sich noch sieben Frauen in der Einheit. Und diese Frauen ließen es nicht zu, dass sie Sünde auf ihre Seele lud. Sie ergriffen IHRE Hand, hielten sie am Bein fest und zischelten ihr zu: „Bleib stehen! Sonst werden sie uns alle erschießen!“ – Als die grenzenlose Wut aus ihren Augen verschwunden war, machte Mama eine müde Handbewegung und sagte: „Zum Teufel mit euch; sollen sie euch und eure Töchter doch weiter verhöhnen und verspotten“.

Bezüglich deutscher Sabotage hatte Mama ihre eigene Version. Irgendjemandem hatte Gefallen daran gefunden, die Ernte zu vernichten, die 1941 in zuvor nie dagewesener Üppigkeit ausgefallen war. Die Deutschen wurden abtransportiert, und hinter den abgefahrenen Zügen stiegen die Rauchsäulen auf. Das waren NKWD-Mitarbeiter – sie hatten die schönen Weizenfelder in Brand gesteckt. Genau diese Tatsache wurde diskutiert, als Mamas Freundinnen zu uns zu Besuch kamen. Sie zeigten kein Selbstmitleid, ereiferten sich auch nicht über die erlittenen Verluste, aber Stalin für den Verlust des Getreides verzeihen, das für die Front und auch für Leningrad so notwendig gewesen wäre – das wollten sie nicht. So eine Generation war das.

Und im Hinblick auf den Vorsitzenden … Ich glaube, dass es keine einzige Nation gibt, die sich damit rühmen kann, keine Verräter gehabt zu haben. Dafür weiß ich, dass viele Deutsche zu der Zeit an den Fronten und in Partisaneneinheiten gekämpft haben, als ihre Angehörigen sich in der Arbeitsarmee und in der Verbannung befanden. Der erste Ehemann meiner Mama, von der Nationalität her Deutscher, leistete seinen gewöhnlichen Militärdienst, als der Krieg ausbrach. Er stand den Krieg durch, aber dafür musste er ein Schriftstück aufsetzen, in dem er sich von seiner Frau und seinen Schwestern lossagte. Übrigens war eine seiner Schwestern Mitarbeiterin der Partei.

Nun, sie erzählte, was sich hinter jenen Feuern verbarg, welche die Flussschiffer an den Ufern des Jenisej im Herbst 1942 bemerkten. Es war nichts Gutes: Kummer, Erniedrigung, Krankheit, Hohn und Spott, Zwangsarbeit, Tod – der oft die Erlösung brachte. Wie sehr muss man das Leben selber hassen, um ein halbes Land ins Lager zu stecken und solchen Qualen auszusetzen!

Ich schreibe diesen Brief, um allen Menschen zu danken, welche die Deportierten unterstützten – unabhängig davon, welcher Nationalität sie waren. Das Leben ist eine harte und unvorhersehbare Angelegenheit. Das bedeutet: man muss lernen, den Widrigkeiten des Lebens zu widerstehen, sich an die Lehrstunden der Geschichte zurückerinnern. Die Menschen sollen einander achten und niemandem erlauben Völker auseinanderzureißen. Leider haben derzeit gerade unschöne Zeiten eingesetzt.

Einer Satz steigt in meiner Erinnerung auf, den ich irgendwann einmal gelesen habe: „Russland hat nach den Kriegen auch den Hunger überstanden, aber den Schicksalserprobungen mit dem Geld wird es nicht standhalten. Oder etwa doch!?

Meine Mama lebt noch – sie ist 92 Jahre alt. Offenbar haben die Kurpfuscherinnen von damals sie auf ein langes Leben programmiert. Man muss sich vor ihnen, Mamas Brigadeführer und allen anderen guten Menschen bis zum Boden verneigen.

Olga ILINA, Krasnojarsk

„Krasnojarsker Arbeiter“, 16.03.2012


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