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Lebendiges Gespräch über die „Straße des Todes“

Wegen des Baus der Trasse zwischen der Gebietshauptstadt und Nadym verfallen die Überreste der „Stalinka“, der Stalin-Bahn.

- In letzter Zeit, - meint der Historiker Wadim Grizenko, Direktor des Zentrums für archäologische Forschungen, - gelangten einige Informationen an mich, dass Bauarbeiter mit Bulldozern unversehrt gebliebene Objekte des Großbau-Projekts N° 501 an der Stelle, an der die zukünftige Automagistrale verlaufen soll, verscharren.

Das bedeutet, dass die stummen Zeugen der bitteren Geschichte der Region einfach spurlos verschwinden können. Oder stellen sie etwa keinerlei Wert mehr dar? …

Eine Antwort auf diese Frage klang auf der Allrussischen wissenschaftlich-praktischen Konferenz durch, die in Nadym stattfand und sowohl der Geschichte als auch dem Erhalt ds historisch-kulturellen Erbes der Eisenbahnlinie Tschum – Salechard – Igarka gewidmet war.

Organisiert vom Amt für Kultur des Nadymer Bezirks, der regionalen Jamal-Nenzen-Abteilung der Russischen Geografischen Gesellschaft sowie dem Zentrum für Archäologische Forschungen, hat die Konferenz mehr als dreihundert Teilnehmer versammeln können. Historiker, Heimatkundler, Mitarbeiter aus dem Bereich der Kultur und Bildung kamen aus einem Dutzend russischer Städte angereist, unter anderem auch aus Twer, Sankt-Petersburg, Krasnojarsk und Norilsk. Große Interesse bekundeten die Bewohner von Nadym. Im Konferenzsaal gab es keine freien Plätze mehr, aber trotzdem verließ niemand ihn – die Menschen setzten sich einfach direkt auf die Stufen neben den Durchgängen.

- Eigentlich hatten wir uns die Konferenz auf Bezirksebene gedacht, - meint Wjatscheslaw Iwko, stellvertretendes Oberhaupt des Nadymer Bezirks. Aber schon bald wollten Bewohner anderer Städte auch am Dialog teilnehmen, und zwar nicht nur aus dem Jamal-Gebiet, sondern aus dem gesamten Land, und es gab sogar ausländische Initiativen. Allerdings schafften letztere es nicht, den Zeitplan für die erforderlichen Visa-Formalitäten einzuhalten. Aber nichtsdestoweniger ist aus der ursprünglichen Bezirkskonferenz immerhin eine landesweite geworden.

Abreißen und vergessen?

Jeder beliebige Vortrag, der auf der Konferenz gehalten wurde, hätte im Prinzip zur Grundlage eines separaten journalistischen Material werden können. Die Jamal-Bewohner werden sich schon bald selber davon überzeugen können: man will versuchen, sie in einem thematischen Sammelwerk zu vereinen.

Wovon wird es handeln? Von der Geschichte und den Hauptmerkmalen des Lebens der Bauarbeiter, die an den Großbauprojekten N° 501 und 503 tätig waren, von den kürzlich entlang der „Stalinka“ entdeckten Fundstücken, unter denen sich ein Flugzeug und ein Zeppelin befanden. Und außerdem noch vom zu erhaltenden beweglichen Bestand (an der Ausweichstelle Dolgij im Krasnoselkuper Bezirk stehen bis heute Lokomotiven und Waggons) sowie der Arbeit der Totengräber im Obsker Besserungslager. Interessant ist die Information über den Bau der Bahnlinie Tschum - Salechard – Igarka, die in den Staatsarchiven zugänglich gemacht wurde. Nichtsdestoweniger gibt es eine ganze Reihe von Dokumenten, von denen bis zum heutigen Tage immer noch nicht der Vermerk „geheim“ entfernt wurde.

Das große Interesse an der Geschichte jener Jahre bestätigen nicht nur die zahlreichen Teilnehmer an der Konferenz. Enthusiasten sammeln und systematisieren nicht erst seit einem Jahr die Informationen über das Großbauprojekt N° 501 und die mit ihm verbundenen Ereignisse; sie finden und halten seine Objekte unter ihrer Verwahrung. Und außerdem sind sie überzeugt, dass die Geschichte der „Stalinka“ die regionale Heimatkunde, die wissenschaftliche Forschungstätigkeit der Jugendlichen und der Schüler der Region beleben wird.

Es gibt eine Menge Touristen, die bereit sind, nicht wenig Geld für die Möglichkeit zu bezahlen, einmal mit der GULAG-Vergangenheit in Berührung zu kommen. Zudem fahren sie auf die Halbinsel Jamal nicht nur aus Russland, sondern auch aus dem Ausland. Und die Nachfrage nach diesen Reisen ist in den vergangenen Jahren nicht weniger geworden.

Heißt dies, dass in der Wahrung der wenn auch bitteren und unansehnlichen Erinnerung nicht nur ein historischer Sinn, sondern auch praktischer Nutzen liegt?

- Eine der wesentlichsten Aufgaben des Nadymer Forums, - schließt Wadim Grizenko sein Rede, - ist es, alle Interessenten zu vereinen, damit ein Teil der unversehrt gebliebenen Gebäude und Exponate zu Museumsstücken gemacht werden kann.

Die Initiatoren sind überzeugt: die Region wird in vielerlei Hinsicht gewinnen, wenn sie sich in Richtung auf ihre historische Vergangenheit wendet.

Echo der Vergangenheit – Online

Die Zuhörerin der Konferenz, Natalia Gudkowa, kann ihre Emotionen nicht zurückhalten: das Schicksal ihrer Eltern ist eng mit dem Großbauprojekt N° 503 verbunden.

Ihre4 Mutter wurde verurteilt und in die Region Krasnojarsk geschickt, weil sie aus einem Kerosineimer, in dem die Fabrikarbeiter ihre Hände von Masut (Destillationsrückstand vom Erdöl; Anm. d. Übers.) reinigten, ein kleine Menge für eine alte Frau abfüllte – für deren Primus-Kocher.

Der Vater bekam zehn Jahre dafür, dass er sich nicht nur einfach geweigert hatte, eine Denunziation gegen einen Kameraden zu unterzeichnen, sondern auch noch mit einem Hocker zum Schlag gegen den Ermittlungsrichter ausgeholt hatte, der die Unterschrift von ihm verlangte.

- Die Eltern wollten mich schonen und erzählten deswegen sehr wenig über ihre Lagervergangenheit, - SEUFZT Natalia Florianowna.

Sie weiß lediglich, dass beide überlebten, weil der Vater einen für jene Zeit sehr gefragten Beruf ausübte. Er war Schmied.

- Ich wusste auch nicht, - fügt die Frau hinzu, - dass die Krasnojarsker „Memorial“-Organisation auf ihrer Internetseite Informationen über viele tausende Gefangene gesammelt und aufgelistet hat. Ich werde mir die Materialien dort schnellstens anschauen; vielleicht finde ich ganz plötzlich auch etwas über meine eigenen Angehörigen.

Wir fügen noch hinzu, dass die Webseite des Krasnojarsker „Memorial“ täglich von mehr als zweitausend Menschen besucht wird.

Ungeheure Erfahrung beim Sammeln, Systematisieren und Digitalisieren von Informationen zeigte auf der Konferenz Aleksej Babij, der Leiter der Organisation.

- Die Quelle besteht seit beinahe fünfzehn Jahren, - sagte er, - und sie wird ständig durch Memoiren, Dokumente, Fotografien und Presseveröffentlichungen ergänzt, die mit den Repressionen in Zusammenhang stehen. Jedes Mal, wenn wir neue Opfer der Verfolgungen ermittelt haben, wächst unser Martirolog (Liste mit den Namen von Opfern; Anm. d. Übers.) entsprechend an.

Zehntausend Seiten in drei Sprachen und über fünfzehntausend Fotografien – stellen eine einzigartige Informationsbase für Schüler, Heimatkundler und Forscher dar. Sie wurde geschaffen und bis zum heutigen Tage unterstützt von Enthusiasten. Und diese Erfahrung werden wir auch auf unserem Territorium anwenden! Vielleicht spornt die vergangene Konferenz auch die Jamal-Bewohner zu einer ähnlichen Arbeit an.

Wird die „Ministeriums“-Brücke zum Museum ?

Das weitere Schicksal der berühmten Anlage des Großbauprojekts N° 501 wird demnächst von Spezialisten erörtert.

Die Idee der Offenen Aktionärsgesellschaft „Urengojdorstroi“ (Urengoi = Name einer Großstadt im Kreis der Jamal-Nenzen;dorstroi = Straßen- bzw. Bahnlinienbau; Anm. d. Übers.), einer der Vertragsfirmen der im Bau befindlichen Trasse Surgut – Salechard, wurde, zusammen mit anderen Vorschlägen der Allrussischen Konferenz „Bahnlinie Tschum – Salechard – Igarka …“, in den Text der Resolution aufgenommen, die an die Regionsleitung gesandt wurde.

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Was haben ihre Teilnehmer noch für den Erhalt des Gedenkens an die Menschen vorgemerkt und geplant, deren Schicksal durch den Willen der stalinistischen Epoche für immer in die Geschichte des Jamal eingeschrieben sind?

Jelena Pekka

21.04.2012

„Roter Norden“, 21.04.2012


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