Die Geschichte einer jeden Familie in unserem Land hängt mit der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zusammen. Unlängst kam die junge Schauspielerin Nina Sabelinskaja nach Norilsk, die uns von ihrem leiblichen Großvater – dem Deutschen Emil Kammler erzählte, der zum sowjetischen Spion wurde, und von seiner „ernannten“ Ehefrau, der Funkerin Violette Sandros, die nach dem Krieg ins NorilLag verschleppt wurde…
Der sowjetische Agent Emil Kammler, Tallinn, 1939
Mit Nina machte uns die Schauspielerin des Polartheaters für Dramaturgie, Larissa Rebrij, bekannt. Sie hat sich sehr aktiv in das ungewöhnliche Schicksal der Familie ihrer Hauptstadt-Kollegin vertieft und sich sehr darum bemüht, Bekannte zu dem Thema mit heranzuziehen, die sie für ihre weitere Forschung auf den richtigen Weg bringen könnten.
- Nina, wie wurde der echte Vollblut-Sudetendeutsche Emil Kammler zum sowjetischen Spion?
Emil und Anna Kammler, Leningrad, Ende der 1930er Jahre
- Ich weiß davon aus den Worten von Großmutter Anna Jewgenewna Sokolowaja. Sie stammt aus der kinderreichen Familie eines Geistlichen, aus der Stadt Tutajew – das liegt an der Wolga. Großmama musste eine fiktive Ehe eingehen, um ihren Nachnamen zu ändern und der Verfolgung als „Popen-Tochter“ zu entgehen. Bereits als Anna Nowikowa schrieb sie sich in Leningrad am Lesgaft-Institut für Sport ein, wohin Emil Kammler, der berühmte Turner aus Deutschland, 1934 über die Rote Sport-Internationale eingeladen wurde. Er absolvierte erfolgreich sein Studium und unterrichtete das Turnen am Pferd „mit Griffen“, einem Sportgerät, das er besonders meisterhaft beherrschte; er wurde sogar Landesmeister in der Mannschaftswertung. Die Großmutter, die ebenfalls eine hervorragende Turnerin war, lernte er am Institut kennen. Dreimal reichte er ein Gesuch ein, mit der Bitte, ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erteilen, aber sie wurde ihm verweigert. Und als er beschloss zu heiraten, da wurde er in die zuständigen Organe berufen, wo man ihm das Angebot machte, entweder zusammen zu arbeiten oder die Sowjetunion zu verlassen.
- Wann wurde Ihr Vater Agent?
- … Die Staatsangehörigkeit gewährten sie ihm nicht, aber sie erteilten ihm die Genehmigung zur Heirat. 1939 wurde meine Mutter Tatjana Emiljewna geboren. Zu der Zeit befand Emil Kammler sich bereits unter seinem Namen als Sportler in Tallinn – und unterrichtete Sport. Von da an sah er seine Leningrader Familie nie wieder. Der Großmutter ließ er durch irgendjemanden Briefe übermitteln. Sie wusste, dass er Agent war; während der Blockade erhielt die Familie sogar eine spezielle Lebensmittelration. 1944 suchte ein gemeinsamer Bekannter die Großmutter auf und sagte: „Vergiss – und denk nie mehr daran“. In den 1990er Jahren versuchten wir „bei den Organen“ mehr über das Schicksal des Großvaters herauszufinden, aber auch dort gab man uns keine sachlichen und zusammenhängenden Erklärungen. Dennoch konnten wir erfahren, dass er 1942 erneut in der Sowjetunion war, später schafften sie ihn nach Deutschland, wo ihn die Gestapo verhaftete. Danach galt er als verschollen. Außerdem sagte man uns, dass es zwecklos wäre irgendwelche Angehörigen von ihm in Deutschland zu suchen, weil keiner mehr am Leben wäre. Interessant, dass es in der Personalakte des Großvaters am Institut äußerst bruchstückhafte Angaben gab – er studierte, machte seine Prüfungen mit den und den Noten … im Archiv war alles gesäubert, ausradiert. Der Archivar meinte sogar, dass er zum ersten Mal Dokumente sähe, in denen fast nichts erhalten geblieben war.
- Wie haben Sie davon erfahren, dass Ihr Großvater, der Agent, noch eine zweite Familie besaß?
Nina Sabelinskaja am Ewigen Feuer in Norilsk
- Oma wusste bestimmt davon, aber sie hat uns nie etwas darüber erzählt. Sie sagte zu uns nur: wenn ich nicht mehr da bin, werdet ihr es herausfinden. Vielleicht war das die Angst um meine Mama, die von einem Deutschen gezeugt worden war, denn damals hat es die Leute schon berührt, ob jemand ein Antifaschist oder – kein Antifaschist war. Aber unsere Familie wurde davon nicht betroffen. Möglicherweise war der Großvater „wo es sich gehörte“ gut angeschrieben. Während der Blockade arbeitete Großmutter zusammen mit den Verwandten in einer Fabrik. Viele Angehörige befanden sich an der Front, mehr als die Hälfte kehrte nicht zurück, Großmamas Brüder fielen. Und vor einem Jahr erfuhr meine Mama, sie lehrt an der Akademie für Zivilluftfahrt (und Papa ist Ingenieur und Konstrukteur, hat ebenfalls das Institut für militärische Mechanik absolviert), ganz plötzlich, dass sie noch einen Halbbruder hat … in Deutschland. So tauchte Siegfried Kammler in unserem Leben auf – der Sohn meines Großvaters und der Funkerin, der man befohlen hatte, für die Zeit der Agententätigkeit Emil Kammlers Frau zu werden.
- Wie hat er Sie gefunden?
Tatjana. die Tochter von Anna und Emil, 1940
- Das ist eine glückliche Fügung von Umständen gewesen. Siegfried schrieb mit
Hilfe eines Bekannten in russischer Sprache einen Brief an den Rektor der
Lesgaft-Universität für Sport, mit der Bitte, die Fragen bezüglich des Studiums
seines Vaters in den 1930er Jahren zu beantworten und auch mitzuteilen, ob es
Angaben über Emils Ehefrau und Tochter gäbe. Genau in dem Moment, als der
Sekretär des Rektors den Brief zum Lehrstuhl brachte, befand sich dort die uns
bekannte Großmama – die Sportlerin Aleksandra Stepanowna; sie ist 96 Jahre alt,
war seit ihrer Kindheit beim Institut und kann sich an Großmutter und Großvater
erinnern … An dem Abend rief Siegfried meine Mama an … Er ist Arzt, Urologe, von
Beruf, hat eine Frau und einen Sohn. Sie sind mit Mama bereits
zusammengetroffen, ihr Altersunterschied beträgt drei Jahre. Er erzählte von
seiner Mutter Violette Sandros, dass sie 1918 in Detroit geboren, aber
finnischer Herkunft gewesen wäre. Vor der Revolution emigrierte ihre Familie aus
Russland, später reagierte sie gutgläubig auf die Aufforderung der UdSSR, den
sowjetischen Teil Kareliens zu erschließen und auf die Beine zu bringen. 1937
nahm man sie in die Vorbereitungskurse am neuen Institut für Fremdsprachen auf,
und nach Ausbruch des Krieges gegen Finnland schlug man ihr vor, eine Ausbildung
als Funkerin mit anschließender Verlegung an die Front zu machen. … Zur
Ausbildung gehörte auch das Fallschirmspringen, aber jener Krieg ging schnell zu
Ende, und das Mädchen kehrte ans Institut zurück. 1940 schickte man sie jedoch
nach Moskau auf die Agentenschule. Sie konnte mehrere Sprachen, aber Deutsch war
nicht darunter. Trotzdem gab man ihr den Auftrag nach Deutschland zu fliegen;
dazu zeigten sie ihr die Fotografie des Mannes, der in Kürze ihr Schein-Ehemann
werden sollte. Es war Emil Kammler. Anfang 1940 traf sie in Deutschland ein …
Als Tochter eines Geistlichen hatte sie einen finnischen Pass auf den Namen
Toini Rakel Roz. Vesova erhalten …
- Sie hatte offenbar größere Chancen an die Gestapo zu gelangen, als in eines der Norilsker Lager …
Siegfried Kammler in Russland
- Diese tapfere Frau hinterließ ihre Erinnerungen, welche Siegfried uns zeigte. Daraus erfuhren wir, dass Emil sich für eine neue Aufgabe nach Wien begeben musste. Aber dort wartete auf ihn bereits die Gestapo. Nach allen Strapazen verstand Violette es, Funkgerät und Geheimschrift aufzubewahren. 1945 fanden sie sie und sagten, dass sie nach Moskau fahren und Bericht erstatten sollte. Sie besaß genügend Verstand, um nicht den kleinen Siegfried mitzunehmen, den sie bei Emil Kammlers Verwandten zurückließ. In der UdSSR „dankten“ sie ihr für ihre Arbeit, verurteilten sie mittels einer „Trojka“ zu fünf Jahren Umerziehungs- und Arbeitslager; sie verbüßte ihre Strafe in Dudinka und Norilsk. Nach der Amnestie im Jahre 1953 lebte sie in Sortawala, zog jedoch 1957 mit ihrer vierjährigen Tochter zu Siegfried in die DDR um. Jetzt suchen wir Spuren ihres Aufenthalts in Norilsk. Siegfried berichtete, dass sie sich nicht gern an ihrer Haftzeit in der UdSSR erinnerte, aber immer wieder sagte, dass Emil Kammler seine Frau und Tochter, die in Leningrad zurückgeblieben waren,sehr geliebt hätte …
- Weißt du, die Geschichte eurer Familie, Siegfrieds Mama – ist ein fertiges Thema für einen Film … Hast du in Kriegsfilmen noch nicht mitgespielt?
Siegfried und seine Mutter in Deutschland, 1944
- Als ich noch ein Kind war, wollte ich immer Flieger werden; icherlernte verschiedene Sportarten, las gern Gedichte, lernte Musik und Zeichnen. Vom Theater träumte ich damals noch nicht, aber in Kriegsfilmen - und die sowjetischen Kriegsfilme waren sehr überzeugend – hätte ich schon gern mitgespielt. Seit meiner Kindheit schien es mir so, als ob ich für meine Eltern mein Leben geben würde. Damals kam gerade die Serie „Die siebzehn Augenblicke des Frühlings“ heraus, ich wartete auf den Zeichentrickfilm und meine Eltern sagen zu mir – schau ihn dir nur an, das ist ein Film über deinen Großvater, er war auch ein sowjetischer Agent. Und so war ich seit jener Zeit der Meinung: Isajew-Stirlitz – das muss mein Großvater sein. Einmal habe ich sogar in der ersten Klasse den Unterricht zum 9. Mai gestört und durcheinander gebracht. Die Lehrerin erzählte, wie die Faschisten uns überfallen und alle Deutschen in einem ganz negativen Licht dagestanden hätten; und das hat mich furchtbar verletzt: ich schlug mit der Faust auf die Schulbank und fing an zu beweisen, dass nicht alle Deutschen Faschisten waren, denn mein deutscher Großpapa war einst ein sowjetischer Agent! Daraufhin hörten alle Kinder nicht mehr der Lehrerin zu, sondern mir. Später wurde meinen Eltern ein Verweis erteilt. Die Kriegsthematik hat mich immer sehr berührt, aber in Kriegsfilmen habe ich bislang noch nicht mitgespielt.
- Wie kam es dazu, dass Sie Schauspielerin wurden?
- Wir sind in der Familie drei Schwestern und ein Bruder. Alle sind ernst und technisch veranlagt. Aber ich habe an der philosophischen Fakultät studiert und bin ganz zufällig in die Theaterkurse hineingeraten, weil ich einfach nur mit einem mir bekannten Mädchen Umgang haben wollte. Ein Jahr später studierte ich bereits an der Leningrader Akademie für Theaterkunst, bei dem berühmten Pädagogen Wladimir Viktorowitsch Petrow, der selber im Krieg war und viele Gefangene machte. Es war ein sehr einprägsamer Kurs; mit mir studierte auch Kirill Pletnjew, der heute in zahlreichen Filmen mitspielt. Nach dem Armen-Dschigarchanjan-Theater bin ich am Moskauer Künstler-Theater tätig, das von Tatjana Doronina geleitet wird. Ich bin auch an einem Theater beschäftigt, das nicht über eine ständige Truppe verfügt; zweimal war ich mit einer Kinder-Aufführung in der Stadt Norilsk, die ich vorher nicht so gut gekannt hatte. Aber das Kombinat „Norilsk-Nickel“ und natürlich das NorilLag kennt jeder vom Hörensagen. Inzwischen ist eure Stadt mir sehr lieb und teuer geworden. Ich hoffe, dass irgendwann auch Siegfried hierher kommen wird. Er hat eine schwere Krankheit durchgemacht, ist genesen und meint, dass Gott ihm Zeit gegeben hat, so viel wie möglich über seine Eltern zu erfahren. Wie er selber schreibt, handelt es sich dabei um seine „unbefriedigte Forderung nach der Wahrheit“.
In Norilsk hielt ich es für meine Pflicht, auch das Norilsker Golgatha aufzusuchen, am Ewigen Feuer zu verweilen und bei der Eröffnung der Ausstellung „Stalingrad“ dabei zu sein…. Jedes Jahr, am Feiertag des Sieges, versuche ich bei den Eltern in Sankt-Petersburg zu sein. Dann fahren wir zum Ochtinsker Friedhof, auf dem Oma Anna begraben liegt, die ihren Emil Kammler ihr Leben lang geliebt und auf ihn gewartet hat. Dort gibt es auch ein Denkmal für die Leningrader, die während der Blockade umkamen. Ihnen allen sei das Himmelreich und ein ewig leuchtendes Gedenken.
Das Gespräch führte Irina Danilenko
Fotos des Autors und aus dem Archiv von Nina Sabelinskaja und Siegfried Kammler
„Sapoljarnaja Prawda“, 04.05.2012