An jenem Tage, dem 22. Juni 1941, um 12.15h Moskauer Zeit, sprach 8im Rundfunk der Volkskommissar des Ministeriums für ausländische Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow, der über den Überfall Deutschlands auf die UdSSR berichtete. Anschließend verlas Sprecher Lewitan noch weitere neun Male den Text seiner Rede. Zwei Tage später wurde der korrigierte Text dieser Rede in der „Prawda“ veröffentlicht. Und wie erfuhren die Krasnojarsker von diesem großen Elend?
Die Krasnojarsker Führung bestätigte, dass sie vom Ausbruch des Krieges nach 16 Uhr durch eine Radiosendung erfahren hätte. Um 19 Uhr fand eine geschlossene Sitzung des Büros des Gebietskommissariats statt, auf der die Parteimitglieder die für die Mobilisation anstehenden Aufgaben erörterten. Die Sekretäre des Bezirkskomitees, die Mitglieder des Büros sowie verantwortliche Mitarbeiter saßen rund um die Uhr an ihren Arbeitsplätzen, um ihren Dienst zu versehen. Nach und nach riefen sie alle Bezirkskomitees an und befahlen ihnen, den Werktätigen Molotows Rede zu erläutern und sich auf die Einberufung vorzubereiten.
Am Morgen des 23. Juni erhielten die Leiter der Region den Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR und den Befehl des Volkskommissariats für Verteidigung für die Durchführung der Mobilisierung. Sogleich hörten sie den Vortrag des Gebietsmilitärkommissars auf der Sitzung des Präsidiums des regionalen Exekutivkomitees. Anschließend, um 10 Uhr morgens, wurde eine Versammlung mit den Leitern der regionalen Organisationen abgehalten. Um 13 Uhr gab es eine Sitzung mit den Parteimitarbeitern, die in die Bezirke der Region entsendet wurden. Der Leiter der militärischen Abteilung des Regionskomitees versicherte dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, dass der Arbeitsplan zum Thema Mobilisierung vom ersten Tag an in allen Bezirken eingehalten wurde.
In Wirklichkeit führten die Bezirksbehörden aus lauter Gewohnheit ein friedliches Leben. So berichtete Dserschinskij dem Bezirkskomitee, dass er am 25. Juni 1941 mit den Führern der Agitationskollektive und den Leitern der Leseräume ein Seminar durchgeführt hätte. Auf diesem Seminar hätten sie lange über die Bilanzen der Frühjahrsaussaat sowie die Aufgaben der Agitatoren im Hinblick auf die Propaganda für die Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR „Über Maßnahmen zur Steigerung der Futtermittel für die Viehzucht in de4n Kolchosen“ gesprochen. Erst an dritter Stelle wurden die Aufgaben der Agitatoren im Zusammenhang mit der Kriegssituation im Lande erörtert.
Versammlungen. Bereits am Abend des 22. Juni fanden die ersten Versammlungen statt. Bei den letzten Sitzungen im Kinotheater „Jung-Sturm“ hielt der Sekretär des Kaganowitscher Bezirkskomitees Pugatschow eine Rede, im Klub der Eisenbahner der Vorsitzende des Bezirksexekutivkomitees Tschirin. Im Kinotheater „Udarnik“ (Stoßarbeiter; Anm. d. Übers.) trat der Sekretär des Bezirkskomitees Ogloblin in Erscheinung, nach ihm sprachen noch vier Leute, und danach verabschiedeten die Zuhörer eine Resolution. In der Krasnojarsker Maschinenfabrik und im Eisenbahn-Depot kam es zu Versammlungen während der Abendschichten.
Am 23. Juni um 9 Uhr morgens führte das Kaganowitscher Bezirkskomitee eine Versammlung mit den Sekretären der Parteikomitees und den Leitern der Organisationen durch. Vielen von ihnen gelang es, solche Zusammenkünfte auch noch vor Arbeitsbeginn zu bewerkstelligen.
Im Krasnojarsker Lokomotiven-Reparaturwerk kamen 2 500 Arbeiter zusammen. Sie
lauschten aufmerksam der Mitteilung der Abteilungsleiterin des Stadtkomitees
Mjakischewa.
Der langjährige Mitarbeiter Jawon verkündete: „Der deutsche Faschismus ist mit
räuberischer Absicht in unser geliebtes Heimatland eingefallen. Wir sind alle,
ohne eine einzige Ausnahme, bereit, es bis zum letzten Tropfen Blut zu
verteidigen. Wir werden unsere Arbeitsproduktivität noch weiter steigern und
mehr Waggons und Lokomotiven fertigen. Wir werden dabei mithelfen, die
Faschisten, die viel zu weit gegangen sind, von unserem Territorium zu
vertreiben“.
Unterstützt wurde er vom Leiter der Fabrik Kolmakow. Er meinte: „Wenn die junge Sowjetrepublik es im Jahre 1918 verstanden hat, den Einfall des äußeren Feindes, unter anderem auch Deutschlands, abzuwehren, so werden unsere heldenmütige Rote Armee und das sowjetische Volk es jetzt erst recht schaffen, den Aufbau des Sozialismus zu verteidigen“.
In ihren Reden forderten der Leiter der Montage-Werkstatt Morosow, der Meister der Passagier-waggon-Werkshalle Saschin und der Sekretär des Parteibüros Dsugajew dazu auf besser zu arbeiten. Nach der Versammlung reichten 30 Freiwillige aus den Reihen der Reserve-Schaffner entsprechende Gesuche beim Kriegskommissariat ein.
In der Resolution schrieben die Versammelten: „Wir wissen, dass die Werktätigen in Deutschland den Krieg nicht wollen. Der Krieg wurde ihnen von den obersten faschistischen Militärkreisen angehängt. Wir heißen die Handlungen der sowjetischen Regierung gut, dass sie dem Kommando der Roten Armee und den Luftstreitkräften den Befehl erteilt hat, alle Räuberbanden des faschistischen Überfalls zu zerschlagen und die deutschen Truppen vom Territorium der Sowjetunion zu vertreiben. Wir sind zutiefst überzeugt, dass unsere tapfere, unbesiegbare Rote Armee in ehrenhafter Weise den Befehl unserer Regierung ausführen und dem Feind auf ihrem Territorium besiegen wird. Wir versichern der Partei und der Regierung, sowie Stalin ganz persönlich, dass das Kollektiv der Krasnojarsker Lokomotiven- Reparaturfabrik als Antwort auf die Unverschämtheit der deutschen Militärkreise seine Kräfte zur Erfüllung und Überfüllung der stattlichen Aufgabe im Hinblick auf die Reparatur von Lokomotiven und Waggons, aber auch jede andere beliebige Aufgabenstellung der sowjetischen Regierung, vervielfachen wird. Wir werden den Feind zerschlagen, wir werden den Sieg erringen! Es lebe unsere heldenhafte, unbesiegbare Rote Armee, es leben die stolzen Prachtkerle der Stalinschen Luftfahrt und die Seeleute der Roten Flotte. Es lebe unsere kommunistische Partei, unsere Sowjetregierung mit unserem Freund und Lehrmeister, dem Führer aller Werktätigen der ganzen Welt – Stalin“.
Am 23. Juni, um 7 Uhr morgens, fand in der „Spartakus“-Fabrik eine Versammlung statt. Der Sekretär des Bezirkskomitees Leisarenko informierte über die Rede Molotows. Er wurde häufig von Beifallsbekundungen unterbrochen, vor allem an den Stellen, in dem es hieß, dass es unerlässlich sei, dem Feind eine gemeinsame Abfuhr zu erteilen.
Der langjährige Fabrik-Mitarbeiter Malachow meinte: „Ich versichere der geliebten Sowjetregierung, dass ich trotz meines Alters beim ersten Aufruf zum Schutz der heiligen Grenzen unserer ruhmreichen Heimat ins Feld ziehen werde. Ich rufe alle Arbeiter und Spezialisten auf, für das sozialistische Vaterland alle verfügbaren Kräfte herzugeben. Möge Hitler der Tod ereilen, möge das Scheusal an seinem eigenen Blut ersticken!“
Der Arbeiter Tscherkaschin sagte: „Ich bin in die Rote Armee einberufen worden, ich warte schon ungeduldig auf den Augenblick, wo ich auf den Fein stoßen werde. Ich rufe die Genossen auf, in enger Verbindung mit uns zu bleiben und Militärstiefel von nur allerbester Qualität zu produzieren“.
Nach der Zusammenkunft traten die Arbeiterinnen Kutschinskaja und Sidorowa an den Sekretär des Parteikomitees heran. Sie verkündeten, dass sie eine medizinische Ausbildung hätten und ein Gesuch beim Kriegskommissariat über ihre Aufnahme in die Rote Arbeiter- und Bauern-Armee einreichen würden.
An der Versammlung in der Schiffsreparaturwerft nahmen 896 Leute teil, 6 von ihnen hielten eine Rede. Ein junger Meister der Tischlerwerkstatt, der Komsomolze Mordasow, meinte, dass er sich als Freiwilliger in die Roter Armee einreihen würde, und er rief alle jungen Leute der Fabrik dazu auf, seinem Beispiel zu folgen. Als Freiwillige meldeten sich auch der Kommunist und Schlosser Cholondatsch, der Motorist des Kesselhauses Golstein und der Normsachbearbeiter der Mechaniker-Werkstatt Kutumin.
Auf der Versammlung in der Krasnojarsker Maschinenfabrik kamen mehr als 1 500 Leute zusammen, 7 von ihnen hielten eine Rede. Der Teilnehmer an den Kämpfen in der Mongolei und für seine Tapferkeit ausgezeichnete Arbeiter Moschajew meinte: „Ich habe schon einmal an der Front gekämpft und bin auch jetzt bereit, meine geliebte Heimat mit dem ersten Aufruf der Regierung zu verteidigen. Ich habe eine Gesuch als Freiwilliger eingereicht, mit der Bitte, mich in die Reihen der Roten Armee aufzunehmen“. Nach der Versammlung reichten noch 7 Kommunisten und 12 Komsomolzen ihre Freiwilligen-Gesuche ein.
Hinter den großen Unternehmen blieben auch die kleineren Organisationen nicht zurück. Das Kollektiv des Kontors der Eisenbahn-Erfrischungsräume übernahm, ohne Rücksicht auf Verluste, die Verpflichtung, die Arbeitsproduktivität zu steigern, den Arbeitstag maximal zu nutzen, die Aufmerksamkeit zu verstärken und ein wachsames Auge auf das sozialistische Eigentum zu werfen, sowie die Abwehr- und Verteidigungsfähigkeit des Landes durch Beherrschung der militärischen und gesundheitlichen Belange zu festigen.
In den ersten Tagen gingen in den Krasnojarsker Bezirkskomitees der Partei und des Komsomol mehr als 300 Freiwilligen-Gesuche ein. Unter ihnen waren 17 Gesuche von Mädchen aus dem Komsomolzen-Technikum, die ebenfalls an die Front verschickt werden wollten. Auch 40 Studentinnen der Schule für erwachsene Pionierführerinnen meldeten sich al Freiwillige, weil sie das Abzeichen der staatlichen Auszeichnung GSO 2. Grades besaßen. Der Komsomolze Saikin schrieb in seinem Gesuch: „ Ich will mein Leben als tapferer Sohn des Volkes in den ersten Reihen opfern“.
Den Behörden gelang es recht schnell, die Propaganda-Maschinerie zu mobilisieren. In den Krasnojarsker Betrieben wurden Vorträge über zusammenfassende Berichte des Sowjetischen Informationsbüros organisiert. Die städtischen Bezirkskomitees erteilten mehr als 1 000 Agitatoren ihre Anweisungen, und auch das Stadtkomitee der Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendorganisation hielt eine Versammlung ab, bei der 400 Komsomolzen anwesend waren.
Rundfunk. Am 23. Juni, etwa um 1 Uhr mittags, kamen die Instruktoren des Stadtkomitees Subkow und Nikolajenko in die RADIOWAREN-Abteilung des „Univermag“-Kaufhauses. Die erstaunten Parteimitglieder hörten das Fragment einer Übertragung aus dem deutschen Rundfunk in russischer Sprache, das konterrevolutionäre Angriffe gegen die sowjetische Regierung enthielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies der Text eines Aufrufs von Hitler an das deutsche Volk im Zusammenhang mit dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR; der Text wurde von Propaganda-Minister Goebbels am 22. Juni um 6.30h Berliner Zeit verlesen.
Da der Zeitunterschied sechs Stunden beträgt, hörten einige Krasnojarsker vom
Ausbruch des Krieges erst am Nachmittag von den faschistischen Führern. Mein
verstorbene Vater, Semjon Timofejewitsch, hat mir ebenfalls erzählt, dass er vom
Kriegsbeginn durch Mitarbeiter des
„Jenisejsolota“ um die Mittagszeit erfuhr, als er sich auf dem Weg zum Volksfest
nach Zwetuschtschij Log befand, welches dort anlässlich des freien Tages
stattfand.
Wahrscheinlich befahlen die an Radiowaren interessierten Stadtkomitee-Mitarbeiter den Verkäufern nicht rein zufällig, den Empfang der Geräte unverzüglich auf Moskau einzustellen. Verkäuferin Pusyrewa erwiderte: „Sie brauchen uns keine Hinweise geben, wir wissen schon selber, was wir tun“. Sie schaltete das Radiogerät erst nach der zweiten Aufforderung aus. Die Instruktoren kamen zu dem Schluss, dass die Parteiorganisation und der Direktor den verantwortlichen Bereich der Arbeiten im Geschäft nicht ordentlich kontrollierten und beschwerten sich beim Stadtkomitee.
Die Regierung beeilte sich, das sowjetische Volk von feindlicher Propaganda und unzensierten Informationen fernzuhalten. Zwei Tage später, am 25. Juni, erging die Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR an die Bevölkerung „Über die Abgabe aller Rundfunkempfänger und Radioübertragungseinrichtungen“.
Am 25. Juli erstattete der Leiter der regionalen Krasnojarsker Behörde des
Volkskommissariats fü5r das Nachrichtenwesen, Morosow, darüber Bericht, dass
allen Besitzern registrierter Rundfunkempfänger die Benachrichtigung zugesandt
und die Arbeit am 4. Juli abgeschlossen worden sei. In der Stadt Krasnojarsk
wurden 180, in der Region Krasnojarsk 2455 Rundfunkgeräte zur Verwahrung
entgegengenommen. Unterdessen stellte sich heraus, dass einige Bürger
nichtregistrierte Rundfunkgeräte besaßen. Sie wurden durch die Zeitung und die
Wohnungsverwaltung informiert, und für die Suche nach unangemeldeten
Rundfunkapparaturen auch Briefträger. Mitarbeiter der Rundfunkzentralen und
Milizionäre mit einbezogen.
Zur Lagerung und Aufbewahrung der Geräte wurde im Haus des Lehrers ein Raum entrümpelt und zur Verfügung gestellt. Dort wurden 1033 Rundfunkempfänger eingelagert, die man von Bürgern konfisziert hatte. Außerdem wurden bei der Radiozentrale der Krasnojarsker Maschinenfabrik 44, im Lagerraum des NKWD noch 46 weitere und bei der Radiostation des Holzverarbeitungskombinats 57 in Verwahrung gegeben. Alle übrigen kamen in die Bezirkskontore für Nachrichtenverbindungen. Nach den Beteuerungen der Fernmeldetechniker wurden alle Räumlichkeiten 7und Geräte einer regelmäßigen Untersuchung und Überprüfung unterzogen.
Gerüchte. Nachdem die Leute die spärlichen staatlichen Mitteilung aus den Lautsprechern vernommen hatten, begannen sie die phantasievollsten Gerüchte untereinander auszutauschen, während sie in langen Schlangen an den Verkaufstheken der Geschäfte standen.
An den Schaltern der Sparkassen setzte sogleich ein Abheben von Spareinlagen ein. Am 24. Juni entnahmen Anleger von ihren Konten im Bezirk Stalin 33000 Rubel, im Bezirk Kaganowitsch 12000 Rubel und im Bezirk Kirow 2000 Rubel. Am 25. Juni hatten krasnojarsker Anleger bereits 56000 Rubel abgehoben. Den mobilisierten Bürgern wurden vorzeitig ihre Löhne ausgezahlt. Mit diesem Geld liefen die Kranojarsker in aller Eile in die Geschäfte.
Der Informator des krasnojarsker Stadtkomitees Schewtschenko merkte an, dass am ersten Tag der Mobilisierung lange Schlangen um Graupen, Salz und Streichhölzer anstanden. Am 23. Juni verkaufte das Lebensmittelgeschäft N° 1 den Vierteljahresvorrat an Salz – und innerhalb von nur zwei Tagen die Menge Wei6zengrieß, die sonst in zwei Monaten über den Ladentisch ging. Ab dem 24. Juni begannen die Schlangen vor den Läden dann dahin zu schmelzen. Wahrscheinlich waren die Regale innerhalb von zwei Tagen leergekauft, und auch den Käufern war das Geld in ihren Jackentaschen ausgegangen.
Trotz des patriotischen Auftretens der Mehrheit auf den Versammlungen hoffte ein Teil der Sibirjaken, dass der Krieg den sozialistischen Aufbau vernichten würde. Die Mencvhen, die unter dem herrschenden Regime litten, warteten händeringend auf die Deutschen. Im Bezirk Artjomowsk vertraten verbannte Kulaken die Ansicht: „Der Deutsche ist stark, er wird der Roten Armee eine Niederlage bereiten“. Nach Stalins Rede in der Dynamitnaja-Straße verbreitete sich das Gerücht, dass der Führer wohl angedeutet hätte, er würde sich den Deutschen ergeben. Zahlreiche Arbeitsumsiedler freuten sich: „Endlich kommt die Zeit unserer Freilassung vom Despotismus, bald können wir wieder in unsere Heimat zurück“.
Die Arbeiterin Uglanowa von der Krasnojarsker Schiffswerft sagte zu ihrer Nachbarin: „Glaubt nur nicht, dass die Deutschen ausnahmslos die gesamte Bevölkerung vernichten werden; sie werden nur die Kommunisten und Komsomolzen ausschalten“.
Andere warteten auf die Wiedereinführung des Privateigentums. Ein junger Mann kaufte in einem krasnojarsker Laden Hering und bat darum, ihn in Papier einzuwickeln. Die Verkäuferin hatten jedoch keines zur Hand. Da nahm der Kunde seinen glitschigen Einkauf in die Hand und meine hitzig: „Sie wissen nicht, wie man arbeitet; aber warten Sie nur – Konkurrenten werden kommen und Sie lehren, wie man Geschäftig richtig tätigt!“ Der Bürger machte sich mit schnellen Schritten davon, ohne dass die Verkäuferin ihn noch zurückhalten konnte.
Dagegen hoffte man im proletarischen Milieu auf den Triumph des Kriegskommunismus. Tschegudajew, Schlosser in der Werkstatt für Altstoffverwertung der Waggon-Reparatur-Station, war 12 Jahre in der Produktion tätig. Am 25. Juni verkündete er dem Brigadier: „Bei uns herrscht keine Ordnung. Es gibt in der Werkstatt keine Sowjetmacht, aber sie wird kommen – ich werde das noch erleben!“ Zuvor hatte er den Kandidaten der Partei Chaljawin gefragt: „Warum gibt es im Lande immer noch Schädlingstätigkeiten?“ Unzufrieden mit der erhaltenen Antwort meinte er nur: „Was sind das für kommunistische Dummköpfe, die nicht einmal wissen, wie sie antworten sollen! Feinde gibt es deswegen, weil sie ihr Parteibuch in der Jackentasche tragen“.
Die Menschen lauschten mit großer Sorge den offiziellen Berichten von der Front. Die Mitarbeiterin des NKWD Jenisej-Lag Kuleschowa sagte zum Sekretär des Parteibüros ANFREJEW: „Ich begreife nicht, wie es um die Budjonnij-Armee steht, denn sie ist umzingelt“. Der Sekretär wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Die Mitarbeiterin Asis meinte auf die Frage: „Was hört man neues von der Front?“ – „Um die Wahrheit zu sagen: man möchte eigentlich gar nicht hinhören; es ist einfach kränkend zu hören, dass sie eine Stadt nach der anderen aufgeben“.
Die Maschinistin Rabinowitsch stammelte mit Tränen in den Augen, dass Dnjepropetrowsk verloren sei. Sie verurteilte – „was ist das nur für ein Volk, was für ein Volk“; und Tubli, der Inspektor für Personalwesen, wiederholte das, was sie gesagt hatte, mit den Worten: „Ich verstehe überhaupt nichts mehr – ist das nun Vaterlandsverrat oder was sonst? Wie lange noch werden die Unseren eine Stadt nach der anderen aufgeben? Nowgorod ist auch schon gefallen, und von da ist es doch nur ein Katzensprung bis nach Leningrad“.
Die Bevölkerung gewöhnte sich schnell an die „Spionomanie“. Worotnikow, der Informator der Parteiorganisation „Uniwermag“ teilte mit, dass im Kindersanatorium „Sobakina retschka“ (wörtlich: Hundeflüsschen; Anm. d. Übers.) für Tuberkulosekranke ein Gerücht im Umlauf war, demgemäß die Tschekisten eine deutsche Spionin aufgegriffen hätten, die mit ihren „Teufelsfingern“ die Eisenbahnbrücke mit einer ferngesteuerten Bombe hatte sprengen wollen. Außerdem hatte man bei ihr wohl auch detaillierte Pläne der Stadt sowie der Brücke gefunden.
Eine noch weniger vertrauenswürdige Information erreichte die ländlichen
Gebiete. In den Kolchosen des Waginsker Dorfrats verbreiteten sich Gerüchte,
dass Deutschland bereits fünf
Städte eingenommen hätte, dass nun alle Männer im Alter von 15 bis 60 Jahren
mobilisiert würden, dass das Atschinsker Gefängnis zerstört und die entflohenen
Häftlinge auf Raub- und Mordfeldzügen unterwegs waren.
Im Bezirkskomitee rief die Vorsitzende des Rasguljajewsker Dorfrats an und fragte: stimmt es, dass Japan gegen die Sowjetunion in den Krieg eingetreten ist? Ein anderer Dorfratsvorsitzender überprüfte im Bezirkskomitee das Gerücht, dass die Türkei gegen die Sowjetunion angetreten sei.
Konterpropaganda. Die Beamten versuchten gegen die Gerüchte mit propagandistische4n Methoden anzukämpfen. Am 27. Juli 1941 wurde in Abakan eine Rede des Abteilungsleiters für Propaganda und Agitation beim Stadtkomitee - Dianow – übertragen. Er machte nachdrücklich klar, dass jegliche Gerüchte und Lügen zu einer Fehlorientierung der Bevölkerung führten und die eiserne Arbeitsdisziplin schwächten.
Dianow warnte sogleich davor, dass man niemals die Stärke der blutrünstigen Faschisten unterschätzen und in Panik verfallen dürfe, wie einige Personen es täten, die sich die auf den Basaren kursierenden Gerüchte zunutze machten, welche der noch nicht vernichtete Klassenfeind verbreitet hätte. Er verwies auf den Leitartikel in der „Prawda“, in dem damit gedroht wurde: „Jeder, der versucht die Disziplin zu verletzen, Elemente von Panik einzubringen – wird als Feind des sowjetischen Staates angesehen und nach den zu Kriegszeiten geltenden Gesetzen bestraft – mit aller Entschlossenheit und ohne Erbarmen“.
Der Propagandist versicherte, dass die ersten Kampfgefechte den Heldenmut und die Stärke der Roten Armee gezeigt hätten. Allerdings kam es in diesem entscheidenden großen Gefecht gegen die Faschisten auch zeitweise zu Niederlagen. Sie lösten bei den Feinden Schadenfreude, bei einzelnen Bürgern Panik aus.
Des Weiteren machte Dianow sich daran, Gerüchte zu enthüllen, die in Abakan kursierten. Die Einwohner berichteten, dass Japan der Sowjetunion den Krieg erklärt hätte. Als sie von den Bombenabwürfen über Warschau hörten, waren die Bürger sich sicher, dass die Sowjettruppen d8ie Stadt eingenommen hätten. Es hielten sich auch hartnäckige Gerüchte darüber, dass deutsche Truppen Kaunas erobert hätten, obwohl die Rote Armee immer noch dabei war diese Stadt zu verteidigen.
Eine Arbeiterin vom „Chakassolota“ hörte auf dem Markt, und erzählte dies auch später im Kollektiv, dass an der tuwinischen Grenze Gefechte im Gange seien und man im Dorf Podsinej mit dem Ausheben von Schützengräben beschäftigt sei.
Man stieß auch auf weitaus exotischere Gerüchte. Im gebildeten Milieu hieß es, dass die Rote Armee ein motorisiertes Regiment aus 300 Panzern vernichtet und Hitler aus lauter Empörung darüber die Kommandeure in sein Kabinett gerufen und mit Flüchen in russischer Sprache beschimpft hätte. Die Urheber dieser Version beteuerten, dass das Geschimpfe im Radio übertragen worden sei und man es sogar in Abakan habe hören können.
Der Beamte versuchte der Bevölkerung das gedankenlose und leichtsinnige Streben nach Hamsterkäufen von Lebensmitteln und anderen Waren nach dem Prinzip „alles nehmen, was es gibt“ auszureden. Er machte deutlich, dass persönliches Wohlergehen mit Schädlingstätigkeit gleichzusetzen wäre, weil Spekulation einen künstlichen Mangel an Waren schuf. Im Unternehmen „Chakassoloto“ waren viele in alle möglichen Machenschaften verwickelt, in dem sie sich mit Toilettenseife, Socken, Streichhölzern und Mehl auf Gutscheine bevorrateten. Der Propagandist erinnerte die Bevölkerung an die Jahre des Bürgerkrieges, als die Menschen Hosen aus Säcken trugen, selbst angebauten Tabak rauchten, der in dicke Blätter aus den Seiten des Evangeliums gewickelt war. Die Bevölkerung hatte sich seinerzeit mit Feiersteinen, anstatt mit Streichhölzern, ausgerüstet, und eine getrocknete Plötze war ein wahres Ehrenmal gewesen. Für den Schutz des Landes vor den faschistischen Hunden musste man die Bedürfnisse der Menschen einschränken.
Die Feinde hatten es eilig, sich die Schwierigkeiten bei der Versorgung für ihre provokanten Ziele und Absichten zunutze zu machen. Einzelne Markthändler begannen bereits damit, die Preise für Milch, Eier und andere Produkte anzuheben. Daher sollten Miliz und Öffentlichkeit diejenigen entlarven, die vorsätzlich die sowjetischen Handelsprinzipien untergruben.
Der Propagandist berücksichtigte das steigende Interesse der Bevölkerung an der internationalen Situation, aber auch an der Lage im Inneren des Landes. Er verstand, dass, wenn nicht die Agitatoren der Bevölkerung alles ganz ausführlich erklärten, jemand anders dies tun würde, allerdings nicht im Interesse der Werktätigen. Deswegen musste man an alle Gerüchte mit der gebotenen kritischen Haltung herangehen, ihre Wurzeln ausfindig machen, ihre Träger enthüllen und die Massen zu einem verstärkten Kampf um alle Pläne für das Jahr 1941 mobilisieren.
Dianow war überzeugt, dass, wenn alle in aufrichtiger Weise ihrer Arbeit nachgingen, wachsam wären, sich nicht durch fremde Launen beeinflussen lassen würden - dann würden die faschistischen Eindringlinge in diesem Krieg ihrem Verderben entgegen gehen und der Kommunismus triumphieren.
Eine derart frontale Propaganda konnte kaum kraftvoll auf die allgemeine
gesellschaftliche Meinung Einfluss nehmen. Wenngleich jede Seite des verlesenen
Textes durch die4 Unterschrift eines Zensors beglaubigt war, gab es darin
zahlreiche grammatische und stilistische Fehler. Wie sehr der Parteibeamte sich
auch bemühte – er konnte die Menschen nicht dazu überreden, die Bevorratung mit
Lebensmitteln und anderen Gütern zu unterlassen.
Außerdem verbreitete er über das Radio Gerüchte, wodurch er die Aufmerksamkeit
der Leute auf sich lenkte und gleichzeitig den Kreis derer vergrößerte, die sie
anschließend weitergaben.
***
Schließlich, am 3. Juli 1943, zum ersten Mal seit dem Beginn des Krieges, hielt der Vorsitzende des staatlichen Komitees für Verteidigung, Josef Stalin, im Radio eine Rede, mit der er sich an das sowjetische Volk wandte. Die Regionsleiter hatten es eilig, ihre Loyalität auszusprechen, und übermittelten ihm folgendes Telegramm. Sie schireben:
Nachdem wir Ihre historische Mitteilung vernommen haben, versichern wir, die Bolschewiken, Ihnen, großer Führer und Freund aller Arbeitenden dieser Welt, im Namen der Werktätigen der Region Krasnojarsk, dass wir bereit sind, all unsere Kräfte anzustrengen, um jeden Ihrer Befehle sowie alle Aufgaben der Partei und der Regierung zu erfüllen. Die Herzen der Werktätigen in der Region Krasnojarsk hegen, zusammen mit allen Völkern unseres Landes, tiefen Hass gegenüber dem viel zu weit gegangenen, zügellosen Feind und streben danach, ihn schnellstmöglich zu vernichten.
Unser lieber, unser innig geliebter Josef Wissarionowitsch, wir werden aus unserer Region die Ihnen ergebensten und für unsere geliebte Heimat ruhmreichsten Kämpfer an die Front entsenden. Auf Ihre4n Befehl sind wir alle, ohne Ausnahme, bereit, an die Front zu gehen und beherzt jedes noch so kleine Krümelchen unserer sowjetischen Erde bis zum letzten Tropfen Blut zu verteidigen. Alle Werktätigen des Landes, darunter auch Alte, Frauen und Kinder, auf den he8imatlichen Kolchos- und Sowchosenfeldern, in Werkshallen und Fabriken, sichern durch ihre aufopfernde Arbeit eine reiche Ernte, und sie erfüllen nicht nur, sondern sie übererfüllen die Produktionspläne für die industrielle Produktion.
Unsere ganze reiche Ernte an Getreide, Heu und Gemüse sowie den Ausstoß an Industriewaren werden wir ohne Verzögerung an unsere Heimat, unsere liebe, mächtige, heldenmütige Rote Armee sowie unsere See- und Luftflotte übergeben. Wir sind davon überzeugt, dass unsere Werktätigen unter Ihrer weisen Leitung den Menschenfresser Hitler zerschlagen und seine Banden sich ihr Grab in unserem Bodens schaufeln werden“.
Das Telegramm wurde unterzeichnet vom Sekretär des Regionskomitees Golubew und dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Regionsrates Sokolow.
Trotz des unnötigen Pathos dieses Dokuments, sollten sich die Worte des Regionschefs bestätigen. Im Hinterland und an der Front leisteten die Krasnojarsker einen großen Beitrag zum Sieg über die Faschisten.
Anatolij ILIN, Kandidat der Geschichtswissenschaften, Krasnojarsk
Fotos: Igor SCHAGIN
„Krasnojarsker Arbeiter“, 21. Juni 2012