Unser riesiger Bezirk hat im Verlauf der gesamten Geschichte Prozesse erfahren, welche eine Folgeerscheinung der Veränderungen waren, die sich im Lande vollzogen. Vor ungefähr 50 Jahren sah die Karte des Bezirks noch ein wenig anders aus als heute. Es gab auf ihr erheblich mehr besiedelte Ortschaften.
In den Nachkriegsjahren tauchten an den Ufern der Angara sogenannte Holzbeschaffungssiedlungen oder Waldpunkte auf, in denen, in der Regel, viele politisch Verfolgte sowie Kriegsgefangene arbeiteten. In der Nähe einer der ältesten Siedlungen – dem Dörfchen Mansja, befand sich die Arbeitssiedlung Kaulez. Sie war, wie man heute sagen würde, ein Ort der besonderen Konzentration von Toleranz zwischen diversen ethnischen Gruppierungen oder, ganz einfach ausgedrückt: alle wohnten und arbeiteten dort ganz einträchtig miteinander, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrer Religionszugehörigkeit oder ihren politischen Ansichten…
In Mansja selbst erinnert sich kaum noch jemand daran, was das damals für eine Siedlung war. Nach ihrer Auflösung verließen viele das Dorf, andere, die in Mansja blieben, sind längst nicht mehr am Leben und wiederum andere haben alles vergessen. Aber dennoch haben sich Leute gefunden, die von diesem Stückchen Geschichte des Bezirks erzählen konnten.
Ehemalige Bewohner von Kaulez, mit denen ich sprechen konnte, erinnerten sich in sehr warmer und rührender Weise an die Siedlung… Und während der Unterhaltung drückten sie nicht nur einmal ihr Bedauern darüber aus, dass dieser bemerkenswerte Ort nicht mehr existierte. Weshalb eine derartige Nostalgie? Es war doch schließlich kein Erholungsort…..
Meine erste Gesprächspartnerin war eine auf den ersten Blick kränkliche, aber, wie sich später herausstellte, äußerst heroische Frau – Irma Jakowlewna Mutowina (Scheffer), geb. 1929; sie stammte aus einer wolgadeutschen Familie.
Ihre Geschichte vermag in ihrer Dramatik jeden zu erschüttern. Sie geriet in unseren Bezirk, als sie noch ein Kind war … im Status einer Verbannten. Das elfjährige Mädchen geriet aufgrund des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 in die Taiga – des Ukas „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“. Diese Leute wurden beschuldigt, in ihren Reihen Spione und Saboteure versteckt zu halten. Die Regierung beschloss alle Deutschen aus dem Wolgagebiet umzusiedeln; ein Großteil von ihnen geriet nach Sibirien.
- Sie brachten uns aus dem Gebiet Saratow hierher. Ich weiß noch, dass es einen Monat dauerte, bis die Deutschen von Krasnojarsk aus bis nach Kamenka gelangten. Anfangs waren wir zu Dritt: Mama, meine ältere Schwester und ich. Der Vater starb, als ich erst drei Jahre alt war: irgendwann in den dreißiger Jahren wurde er verhaftet, und danach sah ihn niemand mehr…. – begann Irma Jakowlewnas Erzählung. – In einem einzigen Haus brachten sie uns mit fünf Familien unter. Sobald sie angekommen waren, fingen sie an in der Woroschilow-Kolchose zu arbeiten. Mir befahlen sie zu spinnen und zu stricken, und so fertigte ich Tag und Nacht Socken und Fausthandschuhe für die Front an. Und die Mutter ging, um wenigstens ein wenig zum Lebensunterhalt hinzu zu verdienen, nebenbei noch in fremde Haushalte, wo sie die Wände weißte, die Wäsche wusch oder sauber machte. …
Der Sommer war gewerblich orientiert: die Mutter sammelte Pilze, Beeren und Bärlauch, und gab anschließend alles ab. Einmal im Monat mussten wir uns in der Kommandantur melden und registrieren lassen: sie wollten wissen, ob wir noch an Ort und Stelle oder womöglich geflohen waren. Aber wohin sollten wir denn schon laufen? Wir hatten ja keine Papier, und Transportmittel gab es auch nicht, und überall um uns herum nichts als Taiga. Obwohl ich zweimal versuchte zu flüchten…, aber es misslang. Dumm war ich – noch von Kopf bis Fuß ein Kind.
Als wir herangewachsen waren, schickten sie uns, die Jugendlichen, von Kamenka zu den einzelnen Holzpunkten. Mit Äxten und Sägen arbeiteten wir – keinerlei Nachsicht übte man mit uns, wenngleich wir Mädchen waren. Wir fällten genauso Bäume wie die Männer, und die Holzabfälle wurden sofort entsorgt - nicht so, wie sie das heute machen…
Nach Kaulez zogen wir 1949 um, und ich erhielt auch gleich einen Ausweis; und dann heiratete ich und bekam Kinder, - zog Irma Jakowlewna Bilanz.
Kaulez war ein Mini-Modell der UdSSR. Gerade dort kamen durch den Willen des Schicksals Vertreter verschiedener Nationalitäten und Kulturen zusammen, vor allem Bürger aus den Unionsrepubliken. Aber es gab dort auch deutsche Kriegsgefangene, die, wie alle anderen, auf dem Gebiet am Ufer der Angara arbeiteten. Nach Irma Jakowlewnas Worten benahm man sich solchen deutschen gegenüber ganz normal, niemand tadelte sie, überschüttete sie mit Vorwürfen oder sah ihnen verstohlen hinterher. Überhaupt lebten alle in dieser Siedlung ganz einträchtig miteinander: sie arbeiteten alle zusammen und ruhten sich auch alle gemeinsam aus.
Das Symbol für die Völkerfreundschaft in Kaulez war ein Tisch – ein ganz gewöhnlicher Brettertisch auf der Anhöhe. An ihm versammelten sich abends oder an Feiertagen praktisch alle Bewohner: manche spielten Karten, andere Lotto, hier spielte einer auf der Harmonika – die Lieder waren weithin hörbar.
Im Frühling kam es vor, dass die Siedlung unter Wasser stand; dann begaben sich alle auf den Hügel und warteten das Ende des Hochwassers ab. So etwas kam ziemlich häufig vor. Wessen Haus unbewohnbar wurde, für den wurde ein neues gebaut. Alle Häuser wurden von der Holzindustrie errichtet.
Die Lage der Siedlung war bemerkenswert: Wasser war in der Nähe, Heuwiesen und Wald ebenfalls. Was brauchte man mehr? Du musstest nicht vor Hunger sterben.
Meine Gesprächspartnerin berichtet in warmen Worten von jener Zeit. Sie lebte dort bis zum allerletzten Tag, dem Tag, an dem die Siedlung aufhörte zu existieren. Während unseres Gesprächs fügte sie immer wieder ein: „Schön war es dort, so schön…“. Ich versuche zu erfahren: was war denn so schön? Sie kneift die Augen zusammen und argumentiert im selben Augenblick:
- Heute herrscht überall Verbitterung, aber dort haben alle einträchtig miteinander gelebt, du hast kein einziges böses Wort zu hören bekommen – alle waren wie eine Familie, und das obwohl es in der Siedlung ein ständiges Kommen und Gehen gab und die Menschen völlig verschieden waren: sowohl im Hinblick auf ihre Glaubenszugehörigkeit, als auch in puncto Nationalität. Solche Beziehungen gibt es heute nicht mehr ...
Die letzten Familien verließen Kaulez im Herbst 1973, und innerhalb eines Jahres war die Siedlung öde und leer.
Am Ende unseres Gesprächs fragte ich Irma Jakowlewna, ob sie der Sowjetmacht nicht die Schuld daran zuschreibt, dass ihr Leben gerade so verlaufen ist. Sie überlegte einen Augenblich und meinte dann:
- Nein, vielleicht wird irgendjemand ihr die Schuld zuweisen, aber ich nicht … Ich habe gelebt, gearbeitet, nicht untätig herum gesessen, und ich braucht mich vor mir selber nicht zu schämen. Und jemandem die Schuld zu geben – soweit kam es damals gar nicht, denn man hatte immer seine Arbeit vor Augen. Wenn so etwas passierte, dann war das eben so
Mein zweiter Interview-Partner war Stepan Moisejewitsch Kolpakow, Einwohner von Mansja. Geboren wurde er in Goltjawino; als er in die vierte Klasse ging, zog seine Familie nach Kaulez um.
- Wir waren eine große Familie, eine solche Horde musste durchgefüttert, eingekleidet und mit Schuhen versorgt werden, - es herrschte Armut … Schlecht war es in der Kolchose. Nachdem die Eltern in die Holzbeschaffungssiedlung gezogen waren, begannen sie in der Waldwirtschaft zu arbeiten, fingen an etwas zu verdienen und kamen mit ihrem Leben langsam zurecht.
Diese Siedlung stand dort, nach Stepan Moisejewitschs Worten, wie in Abrahams Schoß – es war ein wunderbares Fleckchen Erde. Jagd, Fischfang, Beeren, Pilze, Heuwiesen – alles beieinander. Die Bevölkerung setzte sich in erster Linie aus verbannten Litauern zusammen, nach seinem kindlichem Empfinden schienen es jedenfalls viel mehr zu sein, als Angehörige irgendeiner anderen Gruppe. Die Siedlung bestand aus 150 Höfen, was etwa tausend Personen ausmachte.
Der ehemalige Bewohner von Kaulez kann zu meiner Verwunderung seine Nachbarn mit Leichtigkeit noch namentlich aufzählen, die mit ihm in der Straße wohnten: ihre Vor- und Nachnamen, wer wo gewohnt hat, in welcher Straße, ihre Gewohnheiten und Besonderheiten. Von allen berichtet er nur Gutes und mit viel Wärme in seinen Worten. Die Häuser wurden niemals abgeschlossen. Die Menschen fürchteten sich nicht. Sie hatten nicht einmal vor denjenigen Angst, die aufgrund eines Straf-Paragraphen dorthin gelangt waren. Da kann man sehen, was für eine gute Erinnerung er über die Menschen im Gedächtnis behalten hat …
Die Kinder gingen zur Schule, allerdings nur bis zur vierten Klasse. Es gab
nur eine Lehrerin.
Das größte Vergnügen der Kinderschar war das Spiel – „die Roten – die Weißen“.
Für die Weißen zu spielen war damals eine Ehre…
In der Siedlung verfügten sie über eine eigene Schneiderin, die aus den Reihen der verbannten Balten stammte, sie erledigte für alle die Näharbeiten. Für sie wurde sogar eigens ein Haus mit einer Nähstube errichtet. Im Klub wurden Kino-Vorführungen gezeigt.
Der kleine Stepka nahm auch die Lebensweise der aus dem Baltikum Zugereisten in seinem Gedächtnis auf:
- Alles an ihnen kam uns außergewöhnlich vor. Sie lebten ganz anders als wir. Die Litauer, zum Beispiel, unterschieden sich durch ihre Unternehmungslust, ihre kapitalistische Neigung, waren dabei jedoch äußerst fleißig. Ihre Gemüsegärten waren eine einzige Augenweide – ständig wirbelten sie darin herum. Aber sie waren keineswegs geizig oder gierig, - erinnert sich mein Gesprächspartner. – Wenn es nötig war, dann waren sie bereit mit allen zu teilen. Oft gingen die Leute zu ihnen und fragten um Rat. Aber nicht nur sie waren so – sondern auch die Chinesen, Koreaner, Tataren, Zugereiste aus Marij und andere.
In Bestätigung dessen, was auch Irma Jakowlewna berichtet hatte, erzählte Stepan Moisejewitsch davon, dass die Verbannten keinerlei Groll gegen die Sowjetmacht hegten, zumindest kam das nie zum Ausdruck. Und von irgendwelchen Konflikten zwischen den Nationalitäten zu sprechen lohnt auch nicht – nicht einmal in Gedanken gab es sie. Niemand grenzte sich als „Russe“ oder „Nicht-Russe“ aus! Im Gegenteil – es herrschte ein ganz besonderer Respekt unter den einzelnen ethnischen Gruppen. Vielleicht war es die schwere Arbeit, die sie alle miteinander vereinte, … vielleicht lag es auch am ihnen angeborenen unternationalen Bewusstsein…
Auch er erinnert sich mit viel Wärme an den Brettertisch auf der Anhöhe, an dieses „gemeinsame Freizeit-Zentrum“.
Offensichtlich war dies wirklich eine wundervolle Siedlung: nach so vielen Jahren ruft allein ihre Erwähnung einen ganzen Schwall positiver Emotionen hervor, allein beim Nennen ihres Namens. Mir kam es so vor, als ob sich Stepan Moisejewitschs Stimmung deutlich hob, während er mir davon erzählte.
… Heute wächst an diesem Ort nichts als hohes Unkraut. Der Friedhof ist mit Gras bewachsen, hier und da sind Bäume aus dem Boden geschossen. Ab und an statten Angehöriger derjenigen der Gegend einen kurzen Besuch ab, die hier begraben liegen.
Als die Siedlung geschlossen wurde, trauerten die Menschen und wollten nicht abfahren. Alle begriffen, dass in eine ähnlichen Atmosphäre menschlicher Wechselbeziehungen schon niemand mehr geraten würde – nirgends… Sie werden wohl recht behalten haben… eine solche Atmosphäre gibt es nicht mehr.
P.S. Große Hilfe beim Sammeln des Materials erwies mir die Leiterin der Bibliothek in Mansja, N.W. Golubewa. Ihr gilt mein aufrichtiger Dank.
S. Timoschin
Siedlung Mansja
Foto des Autors.
„Angarsker Wahrheit“. 22.06.2012