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Opfer des Staatsterrors erinnern die Regierung daran, dass noch nicht alle von ihnen verstorben sind

„Wir sind kranke und arme Menschen“

Die Krasnojarsker Organisation der Opfer politischer Repressionen hat sich in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten gewandt. Die 25 Vertreter des Vorstands der regionalen Vereinigung Rehabilitierter können es nicht fassen, dass die Zuständigkeit für die vorliegende Kategorie von Sozialhilfe-Empfängern – „Opfer politischer Repressionen“ – auf regionale Ebene übertragen wurde. Das Volk wurde nicht durch den Willen der örtlichen Behörden gequält, sondern durch die Politik des Staates.

Überhaupt haben die föderalen Behörden die Sorge um die Rehabilitierten bereits vor 8 Jahren in puncto Zuständigkeit auf die Ebene der Föderationssubjekte verlagert. Das Gesetz vom 22. August 2004 (Föderationsgesetz N° 122) war Teil der „Regelung und Ordnung der Verpflichtungen des Staates gegenüber der Bevölkerung“. Als die Staatsmacht sich daran machte, war eines klar: eine Ordnung mit Verpflichtungen wird es nicht geben. Ich erinnere daran, dass die föderalen Behörden zu diesem Zeitpunkt eine Kampagne zur Überwindung der Armut innerhalb von drei Jahren angekündigten. Zusammen genommen entpuppten sich all diese Entscheidungen nicht als Kampf gegen die Armut, sondern gegen die Armen selber. So kann man nämlich auch gleich die sozialen Geißeln ausrotten: kein Mensch – kein Problem.

Und in der verstrichenen Zeit haben die überlebenden Opfer der Staatsrepressionen voll und ganz die Folgen dieser Beschlüsse am eigenen Leib erfahren, indem sie das Wenige verloren haben, was sie einmal besaßen: „Behandlung in einem Sanatorium oder an einem Kurort, wie sie zum Erhalt der in der Unfreiheit zu Schaden gekommenen Gesundheit unbedingt nötig ist; anhaltende Kürzungen bei den Arzneimittel-Listen, auf die man sonst 50% Rabatt erhielt; Bewilligung von Wohnraum für Bedürftige“ (ich zitiere aus dem Schreiben). Abgesehen davon wurden vielen von diesen Unglücklichen von ihren Angehörigen getrennt und befinden sich keineswegs aus freiem Willen in den entlegensten Winkeln Russlands. Der Staat entschuldigte sich und kompensierte dies, indem er ihnen einmal pro Jahr eine kostenlose Fahrt mit er Eisenbahn bewilligte und, falls das nicht möglich wäre, - eine bezuschusste Reise mit dem Flugzeug; des Weiteren kostenlose Nutzung städtischer, öffentlicher Verkehrsmittel in der Region. Aber die Region Krasnojarsk entzog den Rehabilitierten das Recht auf unentgeltliche Fahrten, und obendrein auch noch das Recht auf kostenfreie Installation eines Telefonanschlusses, wodurch die Isoliertheit vieler von ihren Angehörigen noch verstärkt wird. Und dann haben sie auch noch das Recht auf ermäßigte orthopädische Prothesen und Hilfsmittel verloren.

Heute, so schreiben die Opfer des Staatsterrors, „ist unser Leben unerträglich schwierig, die meisten von uns sind bereits über 70 Jahre alt, wir sind kranke und arme Menschen und leben die ganze Zeit mit einem Gefühl von niederer Menschenwürde. Unsere Rente beträgt 9000-11000 Rubel, und manche, die in inzwischen fremden Staaten nicht die notwendigen Bescheinigungen beschaffen konnten, müssen sogar mit noch weniger auskommen. Nach Begleichung aller alltäglichen Lebenshaltungskosten b leiben uns noch 5000-6000 Rubel“.

Die Rehabilitierten bitten den Präsidenten ihnen drei Bitten zu erfüllen, indem sie darauf verweisen, dass sie bereits nach und nach aus dem Leben scheiden, dass es in diesem Jahr eine Wirtschaftskrise gab und dass es in diesem Jahr bereits zwei Jubiläumsfeiern gegeben hat – 95 Jahre politische Repressionen und 75 Jahre seit dem Beginn des Großen Terrors. Sie wünschen sich, dass man den Opfern politischer Repressionen auf föderaler Ebene ihren sozialen Schutz zurückgibt, dass der Umfang dieser Sozialfürsorge vergrößert wird und dass sie für den erlittenen seelischen Schaden eine Kompensation erhalten.

Bei der Argumentation für die letzte Bitte berufen sich die Krasnojarsker auf einen Beschluss, den der Straßburger Gerichtshof zu eben diesem Problem gefasst hat – nur ging es dabei um zwei repressierte Staatsbürger Georgiens. Die Krasnojarsker haben bereits seit einem Jahr ein Gerichtsverfahren beim Presnensker Gericht in Moskau sowie bei zwei anderen Gerichten laufen, in denen es um die Zahlung eines Schadensersatzes für den erlittenen seelischen Schaden geht, der durch die Repressionen verursacht wurde. Und sie versprechen, dass sie bis vor den Europäischen Gerichtshof gehen werden – falls Russland nicht guten Willens ist, die „georgische Angelegenheit“ in Betracht zu ziehen, die nämlich in allen Einzelheiten identisch ist.

Auf Bitten der „Neuen Zeitung“ hat der Vorsitzende des Krasnojarsker „Memorial“, Aleksej Babij, den Brief kommentiert:

- Zunächst zum Genre: die Organisation der Repressierten schreibt schon viele Jahre lang Briefe an die Präsidenten. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeiner von ihnen jemals auch nur eines dieser Schreiben beantwortet, geschweige denn eine Entscheidung zu den beschriebenen Problemen getroffen hätte. Zum Inhalt: Die Forderung, den Rehabilitierten auf föderaler Ebene ihren sozialen Schutz wieder zu garantieren, ist absolut richtig. „Memorial“ fordert dasselbe, dies war auch einer der Punkte des „Destalinisierungsprogramms“, welches dem Rat für Menschenrechte beim Präsidenten vorgelegt wurde. Als man die soziale Fürsorge für Repressionsopfer aus dem föderalen Budget herausnahm und auf die lokale Ebene abwälzte, stellte das eine unmittelbare Verletzung der Verfassung dar. Der Status-Quo muss wiederhergestellt werden. In der Region Krasnojarsk ist die Situation übrigens besser, als beispielsweise im Gebiet Pensa. Aber schlimmer als in Moskau oder Petersburg.

Zur Kompensation für seelischen Schaden. Die ist aus dem Rehabilitationsgesetz gleichzeitig mit der Monetisierung verschwunden, sie muss wieder her. Dieses Verschwinden ist ganz einfach unanständig. Gerade seelisch haben die Repressierten ganz besonders gelitten – wegen der ihnen widerfahrenen Ungerechtigkeiten. Und diese Leiden waren nicht weniger schlimm als die körperlichen Qualen. Meiner Ansicht nach sollte es diese demütigenden Vergünstigungen, die nur noch mehr Kränkung als Zufriedenheit bringen, überhaupt nicht geben. Es sollte eine einmalige angemessene Kompensation gezahlt werden, wie es auch in der juristischen Praxis für „nichtpolitische“ Rehabilitation üblich ist. In ganz Russland gibt es noch etwa eine halbe Million Rehabilitierter, und in den wohlgenährten „2000ern“ könnte man diese Frage ein für alle Mal entscheiden. Aber leider existiert dieses Problem für die Behörden ja überhaupt nicht.

Aleksej Tarasow

„Neue Zeitung“, 18.09.2012


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