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In Bolschaja Murta fand die Eröffnung eines Gedenksteins zu Ehren der Opfer politischer Repressionen statt

Am 30.Oktober um 12 Uhr fand in Bolschaja Murta im Zentralpark die Eröffnung eines Gedenksteins zu Ehren der Opfer politischer Repressionen statt. An der feierlichen Versammlung nahmen die Familien von Repressionsopfern, Vertreter der Bezirksverwaltung, Veteranenräte, Oberhäupter der Dorf-Verwaltung, Schüler der Dorfschule sowie Gäste aus der ganzen Region teil – Vertreter der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft und der Gesellschaftlichen Organisation „Krasnojarsker regionale national-kulturelle Autonomie der Deutschen“. Der Gedenkstein wurde in der Siedlung im Rahmen des Projekts „Allee der Erinnerung“ des Wettbewerbs zur Realisierung sozial-kultureller Projekte durch städtische Einrichtungen der Kultur sowie Bildungsinstitutionen im kulturellen Bereich aufgestellt, damit die Bewohner von Bolschaja Murta den Menschen ein ehrendes Andenken erweisen können, die ohne jeglichen Grund Repressionen ausgesetzt waren, in Arbeits- und Erziehungslager und in die Verbannung geschickt wurden, denen man das Leben nahm. Mit guten Worten, die an die ältere Generation gerichtet waren, welche die stalinistischen Verfolgung miterlebt hat, wandten sich das stellvertretende Oberhaupt der Verwaltung des Bolschemurtinsker Bezirks – S.W. Gritz, der stellvertretende Vorsitzende der Krasnojarsker „Memorial“-Gesellschaft – W.I. Khvostenko, der kommissarische Vertreter des Sekretärs des politischen Rates der lokalen Bolschemurtinsker Partei-Sektion „Vereintes Russland“, die Leiterin der Abteilung Kultur und Kino der Bezirksverwaltung – I.S. Kosmatowa. Zum Abschluss ehrten die Teilnehmer der Begegnung das Andenken an die in den Jahren der politischen Repressionen Umgekommenen mit einer Schweigeminute, legten am Gedenkstein Blumen nieder und entzündeten Trauerkerzen zur Erinnerung an die unschuldig Verstorbenen.

Um 13 Uhr wurde im gemeinsamen Siedlungs-Kulturhaus in der Siedlung Bolschaja Murta ein Abend der Begegnung unter dem Motto „Den Faden der Erinnerung bewahren“, der dem Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen gewidmet war. Die versammelte Zuhörerschaft wurde vom Vorsitzenden der regionalen Krasnojarsker national-kulturellen Autonomie der Deutschen – O.W. Kulschmanowa – begrüßt; sie berichtete von den Aktivitäten der Autonomie, in deren Rahmen auch Informationen über Repressierte gesammelt werden, über Such- und Forschungsmaßnahmen und übergab zudem an die gemeinsame Zentralbibliothek der einzelnen Siedlungen Bücher über politisch verfolgte Deutsche. Über das schwere Los der Repressionsopfer wurde auch in einer Dia-Show mit dem Titel „Politische Repressionen im Bezirk Bolschaja Murta“ berichtet. Die Fortsetzung des Festtages bildete das Konzertprogramm „Das Leben geht weiter“, das von Teilnehmenden der künstlerischen Laiengruppe des Kulturhauses sowie Schülern der Kinder-Kunstschule vorbereitet worden war; anschließend konnten alle Interessenten ein Gericht aus der deutschen nationalen Küche probieren und ihre künstlerisch-kreativen Meisterwerke zeigen.

An diesem Tag wurden im Foyer und im Tanzsaal verschiedene Ausstellungen vorgestellt. Mitarbeiter der zentralen Siedlungsbibliothek hatten eine Literatur-Ausstellung unter dem Motto „Das finstere Drama eines Volkes“ sowie eine Broschüre mit dem Titel „Geschichten zerbrochener Schicksale“ vorbereitet, die den schicksalhaften Lebenswegen rehabilitierter Personen gewidmet war, und Mitarbeiter des Bolschemurtinsker Heimatkunde-Museums stellten die themabezogene Exposition „Erinnerung des Herzens“ (über repressierte Wolga-Deutsche) sowie eine Ausstellung mit Raritäten und dekorativ angebrachten Erzeugnissen „Aus dem Leben der Verbannten“ vor (aus Privat-Sammlungen deutscher Familien). Außerdem gab es die Wanderausstellung des Kulturhistorischen Zentrums Krasnojarsk „In der Welt zweier Diktaturen“ zu sehen.

O.I. Skrobotowa, leitende Spezialistin der Bezirksverwaltung

 

„Politische Repressionen im Bolschemurtinsker Bezirk“

Die Geschichte unseres Bezirks ist untrennbar mit der Geschichte useres Landes verknüpft. Alles, was in Russland geschah, wirkte sich stets auch auf unsere kleine Heimat aus und spiegelte sich dort wider. Auch die stalinistischen, politischen Massen- Verfolgungen des vergangenen Jahrhunderts machten da keine Ausnahme.

„Der Bolschemurtinsker Bezirk – durch die Vergangenheit in die Zukunft“ – das ist die Kultur-Politik des Bolschemurtinsker Bezirks für den Zeitraum 2009-2020. Eine ihrer Zielrichtungen ist das Studium heimatkundlicher Materialien über Opfer der politischen Verfolgungen, die auf dem Territorium des Bezirks gelebt haben. In dieser Arbeit haben sich alle kulturellen Institute des Bezirks zusammen geschlossen: Bibliotheken, Klubs, die Kinder-Kunstschule, Museen.

Der Großteil der Repressierten waren ganz gewöhnliche Menschen, die sich niemals mit Politik beschäftigt hatten. Sie arbeiteten ehrlich und fleißig für den Staat und ließen sich nie etwas zu Schulden kommen.

Unter den Verfolgten gab es bekannte Leute, hochgebildete Fachleute, die ihr außergewöhnliches geistiges Potential in die Entwicklung des Bezirks einbrachten: Jeremej Matwejewitsch Schwetz, Hauptingenieur in der Fabrik „Russischer Diesel“ in Sormowo, Wladimir Iljitsch Kowin – Erzbischof von Lugansk und Tschernigow, Wladimir Augustowitsch Stepun, Schüler von Stanislawskij, Schauspieler am Akademischen Künstler-Theater in Moskau, Leiter des dramaturgischen Kollektivs am Bezirkskulturhaus, Michail Iwnowitsch Spiridonow, Musiker, Pädagoge, Begründer der Musikschule in der Siedlung Bolschaja Murta, Andrej Wasiljewitsch Maksjuk – Mal- und Zeichenlehrer, Leiter des Blasorchesters im Bezirkskulturhaus, Jekaterina Maksimowa – die Ehfrau des Helden der Sowjetunion Richard Sorge, Andrej Andrejewitsch Jewdakimow – Genossenschaftler, Wirtschaftsfachmann, Heimatkundler.

Der weltweit bekannte hervorragende Wissenschaftler, Professor der Chirurgie, Doktor der Medizin, Laureat der Stalinprämie und Erzbischof Luka – Walentin Feliksowitsch Wojno-Jasenezkij, verbrachte seine Verbannung in der Siedlung Bolschaja Murta ab März 1940 bis September 1941. Eineinhalb Jahre lang arbeitete er im Bezirkskrankenhaus, rettete Menschenleben, vermittelte den Menschen den Glauben und das Licht des Lebens.

Heute sind die unglaublich hohen Zahlen der Erschossenen, Verfolgten in Gefängnissen Inhaftierten und in Heimen abgelieferter und verstreuter Kinder bekannt. Allein nach unvollständigen Angaben übersteigt ihre Zahl die 10 Millionen. Das System kämpfte gegen vollkommen unschuldige Menschen, dachte sich irgendwelche Feinde aus und fing dann an, diese Menschen erbarmungslos zu vernichten.

Nurmuchamet Musawirowitsch Abunagimow wurde 1916 in der Stadt Belebej, Baschkirien, geboren. Seine Familie lebte im Wohlstand: sein Vater besaß einen Verkaufsstand, und deswegen konnte seine Familie den Kindern auch eine gute Ausbildung sichern. Nurmuchamet Musawirowitsch absolvierte das Technikum in Moskau, arbeitete als Lehrer an der Baltatschewsker schule. 1938 wurde er aufgrund der Denunzierung einer Frau verhaftet, die in ihn verliebt war, deren Zuneigung er jedoch nicht erwiderte. Diese Frau hörte einmal, wie Abunaj (wie seine Freunde ihn zärtlich nannten) sich abstoßend über Stalin äußerte: er bezeichnete ihn als „Feigenblatt“. Er wurde nach § 58 zu 7 JUahren Freiheitsentzug verurteilt. Im Gefängnis liebte und verehrte man ihn, denn er war ein Meister auf allen Gebieten, ein Alleskönner: er stellte Porzellan her, modellierte aus Lehm und fertigte Holzschnitzereien an. Die zweite Verhaftung erfolgte am 22.04.1949, § 58 – Strafmaß: 3 Jahre Verbannung. Ab 1950 lebte er in der Siedlung Prediwinsk, arbeitete als Meister und Vorarbeiter in der Abteilung für kommunales Bauwesen und wurde bald darauf deren Chef. Unter seiner Leitung wurden die Molokow-Straße, die Komsomolskaja und andere Straßen gebaut. Er arbeitete bis zu seinem 75. Lebensjahr. Seine Rehabilitation erhielt er am 25. Oktober 1957.

Nikolaj Nikolajewitsch Wan-Wen-Ko wurde 1908 in China geboren. Ehemaliger Kundschafter der Fernöstlichen Sonder-Armee, Funker der Radiozentrale. Lebte in Chabarowsk. Am 6. November 1937 repressiert. Im August 1939 vom Militärgericht nach §58 angeklagt und zur Höchststrafe verurteilt – Erschießung. Der Aufenthalt im Gefängnis bis zur Vollstreckung der Strafe war schlimmer als Folter. Man trug den kranken, bewusstlosen Nikolaj Nikolajewitsch, den man für tot hielt, ins Leichenhaus, wo er mehrere Tage und Nächte unter Toten lag, bis er wieder zu sich kam. Auf Beschluss des Militär-Kollegiums vom 05.02.1940 wurde die Höchststrafe durch 15 Jahre Arbeits- und Erziehungslager ersetzt. Nachdem er die 15 Jahre in Lagern abgesessen hatte, wurde er in die Region Krasnojarsk verschleppt – zur unbefristeten Verbannung. Er lebte in dem Dorf Rossijka und arbeitete in der dortigen Kantine, im Bezirk Bolschaja Murta, ab 1958; danach lebte er in der Siedlung Bolschaja Murta und war als Leiter der Bolschemurtinsker Kantine tätig. Am 31. Mai 1958 wurde er rehabilitiert. Auf Beschluss des Militär-Kollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR wurde die Akte aus Mangel an Tatbeständen geschlossen.

U-Go-An wurde am 4. April 1915 in der Chinesischen Republik, in dem kleinen Dörfchen Erdogau, in die Familie eines armen Kleinbauern hinein geboren. Nach der Demobilisierung aus der Armee beschloss er mit einer Gruppe (6 Mann) die Grenze zu überschreiten, um sich anzusehen, wie die Menschen in der UdSSR lebten, denn er hatte über die sowjetische Republik schon viel gehört. Er konnte kein Wort Russisch. Am 28. Februar 1940 wurde die Gruppe von Grenzsoldaten aufgegriffen. Er wurde als Überläufer verurteilt – als Spion nach §58 und zur Höchststrafe verurteilt – der Todesstrafe. Im Gefängnis erzählte er dem Wachsoldaten, ebenfalls Chinese, von seinem Schicksal, und der gab ihm den Rat, einen Brief, ein Bittgesuch an Stalin nach Moskau zu schreiben. Nachdem U-Go-Ans Fall überprüft worden war, bekam er 10 Jahre Lagerhaft. Während dieser Zeit geriet er an viele Orte, arbeitete als ungelernter Hilfsarbeiter. 1949 wurde er im Alter von 34 Jahren freigelassen. In die Heimat fuhr er nicht zurück, sondern blieb in der UdSSR, in der Region Krasnojarsk. 1959 fuhr er mit seiner Familie nach China, lebte dort vier Jahre und kehrte dann zurück. U-Go-An besaß nie einen sowjetischen Pass; er war lediglich an seinem Wohnort gemeldet. Die Behörden versuchten ihn nach China zu deportieren, aber seine Kinder bestanden darauf, dass sie den Vater nicht fortschickten, da sich doch seine gesamte Familie in Russland befand. 1975 zog U-Go-An zu seiner ältesten Tochter nach Juksejewo.

Polina Osipowna Malkewitsch wurde am 22. Oktober 1916 geboren. Ihre Familie wurde 1931 enteignet, weil sie 4 Kühe und 2 Pferde besaß. Die Familie wurde aus dem Gebiet Tschita, Schitkinsker Bezirk, Dorf Aleja, nach Sibirien deportiert. Der Vater – Osip Iwanowitsch Baulin – wurde sofort erschossen, die Mutter – Olga Stepanowa Baulina und der älteste Bruder wurden verhaftet. Polina Osipowa wurde zusammen mit den anderen 6 Kindern nach Sibirien verschleppt. In Krasnojarsk trafen sie mit der Mutter und dem älteren Bruder zusammen. Mit dem Motorschiff „Koster“ beförderte man sie weiter, auf dem Jenisej-Fluss. An der ersten Schiffswerft, 7 km von Prediwinsk entfernt, gingen sie von Bord. Zwei Nächte verbrachten sie unter offenem Himmel, dann wurden alle Ankömmlinge in einer Scheune untergebracht, wo jeder Familie 3m2 zugeteilt wurden, aber ihre Familie bestand aus 9 Personen. Die älteren Kinder arbeiteten auf der Werft oder im Wald, die jüngeren sammelten auf den Lastkähnen Holzspäne auf. Für den Winter befahl man ihnen sich Erdhütten aus zu graben, und in ihnen überwinterten sie dann auch. So lebten sie 2 Jahre, und im Jahre 1933 zogen sie nach Prediwinsk, wo Polina Osipowna auch heute noch wohnt. Gleich nach dem Krieg wurden sie rehabilitiert.

Wladimir Iwanowitsch Dawydenko. Über meine Familie weiß ich nur aus dem Munde meiner Mutter. Während des Krieges lebte die Familie im Gebiet Murmansk, der Vater war Offizier der Kriegsmarine. Im Juni 1941bereitete sich die Familie auf ihren Urlaub in der Heimat, im Gebiet Samara, vor, doch am Vorabend ihrer Abreise kamen NKWD-Mitarbeiter, führten in der Wohnung eine Haussuchung durch, bei der sich nichts fanden, und verhafteten den Vater, und fünf Tage später begann der Krieg. Bis 1948 bekamen wir keinerlei Nachricht über den Vater. Dann stellte sich heraus, dass er aufgrund einer Verleumdung des Chefs der Militärbasis in die Region Krasnojarsk verschleppt worden war; der hatte ausgesagt, er hätte sich angeblich unanständig über Stalin geäußert. Erst als der Vater offiziell seinen Rentenantrag einreichte, kamen auf Nachfrage der Rentenversicherung Dokumente aus Murmansk, aus denen hervorging, dass der Chef der Militärbasis seinen Offiziersposten für seinen Neffen hatte haben wollen, denn ihm hatte man einen Befreiungsschein für die Front gegeben, und da der Leiter ihn zu Unrecht bezichtigt…

Eine andere Seite in der Geschichte des Landes sind die „Gestraften Völker“. Wolga-Deutsch, Bewohner des Baltikums, Ukrainer, Kalmücken, Inguschen, Balkaren, Krim-Tataren und andere Völker wurden im Zeitraum zwischen 1941-1944 innerhalb von 24 Stunden aus ihren Heimatgegenden vertrieben. Eine derart gewaltige Umsiedlung hatte die Menschheit noch nie zuvor gesehen. Ganze Völker wurden „ohne Ausnahme der Zusammenarbeit mit dem Feind“ beschuldigt. Aber wen konnten sie denn schon anklagen, wenn zu Beginn des Krieges die gesamte männliche Bevölkerung an die Front gegangen war? Der Zorn des Staates stürzte über Kindern, Frauen und alten Menschen herein – sie machten mehr als die Hälfte aller Ausgesiedelten aus.

Erika Jakowlewna Rau. „Meine Eltern sind Bauern. Meinen Vater verhafteten sie 1941 in der Armee, an der Front, und in demselben Jahr wurde unsere Familie repressiert. Man transportierte uns aus unserem Heimatdorf in das uns unbekannte Dorf Chmelewo ab. Wir wohnten in einer kleinen Holzhütte. Ein paar Monate später fand unsere Mama Arbeit im Industriekombinat. Man gab uns sofort ein kleines Zimmer in einem großen Gemeinschaftshaus, und weil wir drei Kinder waren, hatten wir es sehr schwer, denn die Mama arbeitete ganz allein; der Vater kehrte aus dem Krieg nicht wieder zurück… Wir wurden politisch verfolgt, weil Krieg herrschte. Es war eine schwierige Zeit… Wir fuhren mit einer Fähre, man lud uns ab wie eine Herde Schafe. Die Menschen verhielten sich uns gegenüber wie es sich für Menschen gehört, die begreifen, was uns für ein Leid geschehen ist. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis zu den Russen, unter ihnen fand ich sogar meine erste Liebe; die ich allerdings sogleich wieder verlor – er zog in ein anderes Dorf “.

Luisa Luisa Kenrikowna. „Ich wurde am 23. März 1923 in einer Arbeiterfamilie geboren, die aus 9 Personen bestand. Mutter und Vater arbeiteten in der Kolchose. Und ich zog bereits meine eigenen Kinder groß. Mein Mann arbeitete ebenfalls in der Kolchose. Aber dann kam das Jahr des Schreckens – 1941, das Jahr des blutigen Krieges. Meinen Mann und den Vater holten sie in den Krieg, wo sie auch bald ums Leben kamen. Und dann begannen die Repressionen. Sämtliche Bewohner unseres Dorfes wurden auf dem Bahnhof versammelt und zu einem Zug gebracht, auf dem früher Vieh transportiert worden war. Wir fuhren 17 Tage und Nächte; während der Zeit wurden wir zwei oder drei Mal verpflegt. Aus dem Ford Friedenheim im Gebiet Saratow (das ist unsere Heimat) brachten sie uns nach Krasnojarsk, und von Krasnojarsk mit einem Lastkahn auf dem Jenisej in die Ortschaft Juksejewo; anschließend verteilten sie uns mit Pferden auf verschiedene Dörfer. Ich geriet in das Dorf Michajlowka. Man gab uns weder Haus noch Arbeit, wir zogen dort wie die Nomaden umher. Bis heute kann ich mich mit einem großen Gefühl des Dankes jener russischen Leute erinnern, die mir beim Überleben halfen, die Mitleid mit mir hatten, weil ich doch schließlich ein fünf Monate altes Mädchen auf dem Arm trug. So konnte ich auch keine Ausbildung machen, denn ich hatte kein Geld; ich gab sogar meine letzten Kleidungsstücke her, damit mir die Leute dafür wenigstens ein paar Kartoffeln gaben…“

„Das Volk ist nicht schlecht“. So sagte zu seiner Zeit der Schriftsteller Simonow. Die politisch verfolgten Völker verbitterten in der Verbannung und in den Lagern nicht. Sie halfen der Front.

Maria Petrowna Petrowa (Schmidt) wurde im Gebiet Saratow, in der Stadt Balzer geboren. Zusammen mit den Eltern arbeitete sie in der Textilfabrik. In der Stadt Balzer setzte sich die Bevölkerung zum größten Teil aus Deutschen zusammen. Deutsche waren sie lediglich aufgrund ihrer Nationalität, aber geboren waren sie in Russland. Aber als der Krieg begann, im Jahre 1941, da begann man sie mitsamt ihren Familien aus der Stadt abzutransportieren. Jede Nacht bis zu 20 Familien, und sie erlaubten einem nicht irgendetwas mitzunehmen. Ganze Züge mit Deutschen fuhren nach Kasachstan, in die Region Altai, nach Krasnojarsk. Alle waren mit dem gleichen Paragraphen behaftet - § 58 – „Volksfeinde“, und zwar nur deshalb, weil sie deutscher Nationalität waren. Verbannung – ohne das Recht auf Briefwechsel…

Jelena Nikolajewna Tscharuk wurde 1928 in der Ukraine geboren. Das Mädchen war 13 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Die ganze schwere Arbeit lastete auf den Schultern der Frauen und Kinder. Sie lebten in großer Armut, hungerten. Die in die Ortschaft einmarschierten Deutschen nahmen ihnen das Letzte und ließen nichts als niedergebrannte Dörfer zurück; sie nahmen die Menschen gefangen und jagten sie fort, nach Deutschland. Diejenigen, die Widerstand leisteten, wurden verbrannt oder erschossen. Die Menschen flohen vor den Deutschen in den Wald. Viele Bekannte, Angehörige gerieten in Gefangenschaft, viele gelten seitdem als verschollen. Sie selber wurde im Dezember 1945 verhaftet…

Anna Aleksandrowna Merk. „Meine Eltern waren einfache Arbeiter. 1941 starb mein Vater. Er hinterließ eine aus acht Personen bestehende Familie: Mama und sieben Kinder; doch schon bald darauf starben drei meiner Brüder. Als wir aus der Heimat abfuhren, mussten wir den gesamten Haushalt zurücklassen. Man repressierte uns in der Ortschaft Krutoje. Am neuen Wohnort arbeiten wir auf dem gleichen Niveau wie alle anderen. Allerdings gab es nichts zu essen. Ebenso wie die anderen politisch Verfolgten, gingen auch wir jeden Monat einmal zur Kommandantur, um uns dort zu melden und registrieren zu lassen; dafür nannten sie uns Faschisten und Deutsche; auf meiner Seele hat jene Zeit eine schwere Last hinterlassen…“

Hilda Christianowna Guber wurde 1927 im Gebiet Saratow, in der Ortschaft Friedenthal, geboren. Es war ein kleiner Ort, aber sie verfügte über eine gute Kolchose: es gab dort eine Schweinefarm, einen Rinderstall. Die Eltern und älteren Schwestern arbeiteten in der Kolchose. Sie arbeiteten so gut, dass beide Schwestern als Ansporn eine Reise nach Moskau geschenkt bekamen. Sie hatten ein gutes Leben und züchteten viele Wassermelonen. Als der Krieg ausbrach, war Hilda Christianowna gerade 14 Jahre alt. Im September 1941 wurde Hilda Christianownas Familie sowie andere Deutsche nach Sibirien verschickt. Bruder Christian war als Vorsitzender tätig, deswegen fuhr er als allerletzter ab, bis er die schriftliche Bestandsaufnahme und Abgabe des gesamten Besitzes, des Viehs und Getreides abgewickelt hatte…

Galina Alexandrowna Harutto wurde 1941 an der Wolga, im Gebiet Saratow, geboren. Als der Krieg ausbrach wurden die Eltern mit ihren drei kleinen Kindern von der Wolga nach Sibirien verschleppt. Alle Deutschen wurden in der Nacht(wie Vieh) auf Güterwaggons verladen, wo es keinerlei Möglichkeit gab, sich zum Schlafen nieder zu legen oder sich zu waschen, und ins Ungewisse abtransportiert…. Es war ein sehr schwieriges Leben – so viele Beleidigungen, Kränkungen und Demütigungen mussten sie von Seiten der Ortsansässigen ertragen. Sie, die Kinder, konnten nicht einmal auf die Straße hinausgehen – schon flogen ihnen Ziegelsteine hinterher, sie wurden als Faschisten beschimpft; aber was für Faschisten sollten sie denn schon sein? Sie Wren doch bloß kleine Kinder! …

Maria Filippowna Schitz (Schütz?). Ich wurde in einer deutschen Arbeiterfamilie geboren, im Gebiet Saratow, und ich kann bis heute nicht die Gründe für unsere politischen Verfolgungen begreifen. Bis heute sind mir all dieser Ereignisse in der Erinnerung geblieben. Ich weiß noch, wie sie uns mit dem Zug aus dem Wolgagebiet nach Krasnojarsk abtransportiert haben. Und von dort brachten sie uns auf Lastkähnen bis nach Juksejewo, wo sie uns anschließend auf verschiedene Dörfer verteilten. Unsere Familie geriet in das Dorf Krutaja. Wir bekamen weder eine Behausung noch Kleidung, nicht einmal etwas zu essen; wir konnten nicht zur Schule gehen, die Mutter war verpflichtet, in der Kolchose zu arbeiten, während die Kinder, unter ihnen auch ich, bei fremden (materiell gesicherten) Leuten arbeiten mussten – als Hausangestellte. Die Ortsbewohner verspotteten uns, nannten uns Deutsche, Faschisten, obwohl wir überhaupt nicht begriffen, weshalb sie uns so beschimpften, und wir wussten nicht einmal, was das Wort Faschisten bedeutet. Ich möchte mich daran nicht erinnern, denn damals gab es nichts Gutes“.

Wija Robertowna Schaklina wurde 1937 in Lettland geboren. 1941 geriet sie in die Region Krasnojarsk. Sie wurden in einer Baracke untergebracht. Alle persönlichen Dinge, die sie vion Zuhause mitgenommen hatten, tauschten sie gegen Nahrungsmittel ein. Bereits im Alter von vier Jahren half sie der Mutter bei allen anfallenden Arbeiten – sie schleppte Wasser aus den Eislöchern, war auf dem Viehhof behilflich, fütterte die Kühe, trug schwere Fässer. Im Sommer hütete die Kindern gemeinsam das Vieh auf den Weideplätzen, sammelten Beeren und Pilze und trockneten sie für den Winter. Am schlimmsten war immer der Winter – sie hatten schlechte, ungeeignete Kleidung; anstelle von Filzstiefeln trugen sie selbstgemachte Schuhe mit kurzen Schäften aus einfachem Schweineleder und Wollstrümpfe, die ständig piekten und kratzten… Im Dorf gab es eine Lesehütte mit einigen Büchern, und man durfte sie auch nur dort lesen. Dorthin gelangten auch Flugblätter mit Nachrichten von der Front, aber man gab sie den Kindern nicht zum Lesen …

Alexander Alexandrowitsch Schitz (Schütz?). „Unsere Familie war groß; sie bestand aus 10 Personen. Unsere Mama arbeitete nicht, denn sie war Invalidin; der Vater war als einfacher Arbeiter tätig. Wir waren acht Kinder, aber leider starb einer der Brüder. 1941 kamen sie zu uns nach Hause und gaben uns 10 Minuten, um unsere Sachen zu packen. Alles, was wir tragen konnten, packten wir ein, alles andere mussten wir zurücklassen. Bis zur Bahnstation brachten sie uns mit einem Auto, später ging es mit dem Zug weiter, danach mit dem Schiff und schließlich, nach all den schon erlittenen Qualen, mit Pferden. Uns brachten sie ins Dorf Krutoje. Vieles haben wir in diesem Krieg durchgemacht. Heute werden Tiere besser durchgefüttert als wir damals. Das Leben war sehr leidvoll. Jeden Monat gingen wir einmal in die Kommandantur, um uns dort zu melden und registrieren zu lassen; das war äußerst demütigend, denn selbst kleine Kinder mussten dieser Pflicht nachkommen. Im Winter war es sehr kalt; wir schleppten Baumstämme heran und zersägten sie direkt im Haus mit Hilfe von kleinen Sägen“.

Jelisaweta Aleksandrowna Strischak. „Geboren wurde ich im Gebiet Saratow, wo ich auch eine Zeit lang lebte. Unsere Familie lebte im Wohlstand; der Vater arbeitete in der Kolchose, und wir Kinder gingen in die Schule. Aber an einem Tag des Jahres 1941 kamen Milizionäre zu uns nach Hause und sagten: „Wir bringen euch fort“, aber wohin und aus welchem Grund – das erklärten sie uns nicht. In aller Eile begannen wir unsere Sachen in Koffer zu packen, und dann stellten wir sie innerhalb der Einzäunung ab. Als wir in die Wagenkästen der Lastwagen hinaufkletterten, sagten sie uns, dass es dort keinen Platz für die ganzen Sachen gäbe und dass sie sie uns später nachbringen würden. Aber wir sahen diese Koffer nie wieder. Sie brachten uns zum Bahnhof, wo wir in Güterwaggons einsteigen mussten; darin waren wir und andere Leute zusammen mit Vieh insgesamt 17 Tage und Nächte unterwegs. Während dieser Zeit aßen wir praktisch nichts. Sie transportierten uns nach Krasnojarsk, von dort aus mit einem Lastkahn weiter bis in die Ortschaft Juksejewo – und dann mit Pferden ins Dorf Krutaja. Dort stellten sie uns einen verfallenen Pferdestall zur Verfügung, unser sogenanntes Haus. Die Mutter war nicht arbeitsfähig (Invalidin 1. Grades), die älteste Schwester fand Arbeit auf der Farm. Unser Essen beschafften wir uns selber; wir aßen Bärlauch, Brennnesseln, Türkenbund-Lilien. Um uns etwas Essbares sowie Brennholz zu beschaffen, gingen wir zu Fuß 6 Kilometer weit und schleppten das Holz mit unseren eigenen Händen heim. Wir gingen von Haus zu Haus und baten um Lebensmittel (Kartoffeln, Brot). Ein paar Jahre später zogen wir in die Siedlung Bolschaja Murta um. Hier hatten wir dann schon unser eigenes Haus und erhielten zudem einen 25/100 großen Gemüsegarten, der vollkommen mit Unkraut überwuchert war. Und diesen Garten gruben wir alle gemeinsam mit unseren bloßen Händen um. Als die erste Kartoffel wuchs, wurde das Leben ein wenig leichter. Zu der Zeit vollendete ich mein 18. Lebensjahr und fand eine Arbeitsstelle im Krankenhaus (Wäsche bügeln), wo ich dann auch ganze 45 Jahre blieb. Die Russen zeigen sich mir gegenüber respektvoll, und ich schaue bis heute ab und zu im Krankenhaus vorbei, als wäre es mein Elternhaus. Das, was ich erlebt habe, möchte ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünschen“…

Repressiert… Rehabilitiert…

Welche menschliche Tragödie steht zwischen diesen beiden Worten! Eine lange menschliche Lebenstragödie.

Inzwischen können die Menschen sich schon seit einigen Jahren frei versammeln und das Gedenken an unschuldig Verurteilte ehren, ohne sich für ihre Vergangenheit zu schämen. Auch in Bolschaja Murta gibt es mittlerweile einen Ort, an den man kommen und Blumen niederlegen, sich verneigen und schweigend vor einem bescheidenen Obelisk verharren kann.

O.N. Seljutina – Direktorin des Heimatkunde-Museums in Bolschaja Murta.

(Verwendet wurden Materialien aus dem Archiv des Heimatkunde-Museums in Bolschaja Murta sowie Forschungsarbeiten aus dem Bezirkswettbewerb „Den verbindenden Faden der Erinnerung bewahren“)

Seite von Bolschaja Murta, 31.10.2012


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