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Am meisten fürchteten sich die Verbannten vor den sibirischen Wintern

Wenn ich nach Hause komme, lese ich unbedingt immer unsere Bezirkszeitung „Land-Leben“. In der Zeitung begeistern mich Artikel, die über Menschen berichten, welche durch ihre Arbeit Ruhm erlangt haben. Ich bin der Meinung, dass mein Großvater Anatolij Grigorjewitsch Tschubai es verdient hat, dass die Bewohner unseres Bezirks auch seinen Lebensweg kennenlernen.

Seine Eltern lebten auf einem Vorwerk nahe der Ortschaft Chatyn, Sosnowsker Bezirk, Gebiet Rowno. Sie unterhielten eine Hofwirtschaft, bauten Getreide an. In der Familie wuchsen die Töchter Galina und Vera heran. Und im Vorkriegsjahr 1940 wurden die Zwillingssöhne Anatolij und Wassilij geboren.

Die Ortschaften der West-Ukraine gerieten als erste unter faschistische Besatzung.

- Flugzeuge überflogen die Gebiete, zerbombten die Dörfer und Ackerflächen, - erzählte der Großvater. –Wie durch ein Wunder blieb das Vorwerk, auf dem unsere Familie wohnte, unversehrt. Doch dahinter kamen die Truppen. Die Vorwerksbewohner mussten ihre Hofwirtschaft den Faschisten überlassen und in den Wald fortgehen. Etwa ein Jahr lang irrten sie durch die Wälder, doch dann ging der Vater trotzdem das Risiko ein, auf das Vorwerk zurückzukehren. Der Hof war natürlich verwüstet. Ganz allmählich, Schritt für Schritt, begann er ihn wieder her zu richten. Aber es gelang ihm nicht, irgendetwas vernünftig wieder aufzubauen – was kann man denn schon im Laufe von zwei Jahren, wenn Krieg herrscht, zustande bringen? 1944 kamen sowohl die zurückweichenden Faschisten, als auch die vormarschierenden Sowjet-Truppen durch Chatyn. Das Vorwerk wurde erneut Opfer der Zerstörung. Aber der Wiederaufbau oblag nun schon der Mutter und den Schwestern. Der Vater wurde sofort an die Front einberufen, wo er bald darauf fiel.

Vera, die Älteste war 16, Galina 12, die beiden Brüder jeweils 4 Jahre alt. Zerstörung, Hunger, Elend. Den ganzen Krieg über hütete die Familie ihr Pferdchen und die Kuh, die sie ernährte, wie einen Augapfel. Sie halfen ihnen auch dabei, die Nachkriegsjahre durchzustehen und zu überleben. Nie und nimmer war Maria Wassiljewna damit einverstanden, sie an die Kolchose abzugeben.

Im April 1950 kamen Soldaten ins Haus. Sie befahlen ihnen, das allernötigste mitzunehmen und begleiteten sie dann in die Gebietshauptstadt Rowno. Hier erfuhr Maria Wassiljewna dann auch, dass sie selbst und ihre Kinder Verbrecher waren, die mit der ukrainischen aufständischen Armee und den Nationalisten sympathisierten, und dass sie außerdem auch noch als Gegner der sowjetischen Kollektiv-Wirtschaft galten. Aus diesem Grunde unterlagen sie der Aussiedlung in die Region Krasnojarsk und der Konfiszierung ihres Besitzes.

Als Ort der Verbannung wurde für sie eine Waldwirtschaft im Vorgebirge des Sajan bestimmt, nahe der Siedlung Maina. Der Platz in den notdürftig zusammengehauenen Baracken reichte nicht für alle, deswegen hob man Erd-Hütten aus. Die West-Ukrainer, die ein angenehmes Klima gewohnt waren, fürchteten am meisten die sibirischen Winter. Mama und die Schwestern arbeiteten in der Holzbeschaffung, die Zwillinge gingen zur Schule.

Zum Unterricht mussten sie zu Fuß ins vier Kilometer entfernte Maina gehen. Mein Großvater absolvierte die 7-Klassen-Schule und besuchte dann die Gewerbeschule N° 5 in Minussinsk, um eine Ausbildung zum Maschinisten für Dampfanlagen zu machen. Später arbeitete er bei der Podtjessowsker Reparatur- und Operationsbasis der Flotte auf dem Posten des zweiten Mechaniker-Gehilfen auf dem Dampfer „Kulibin“. Und zwei Jahre später holten sie ihn in die Armee. Nach dem Wehrdienst kehrte er nach Kononowo zurück. Er war bis 2006 als Kapitän und Mechaniker tätig – mehr als 40 Jahre. Der Großvater besitzt zahlreiche Auszeichnungen für seine untadelige Arbeit. Unter anderem auch den Orden „Ehren-Zeichen“.

Für ihn, wie auch für tausende andere Menschen, wurde Sibirien zur Heimat. Anatolij Grigorjewitschs Schwestern sehnten sich nach den Orten, in denen sie ihre Kindheit verbracht hatten. Als sie das Recht erhielten, sich im Lande frei zu bewegen, reisten sie in die Ukraine. Aber die jüngsten Tschubais hatten sich an den rauen Jenissei gewöhnt. Kein Ort war ihren Herzen lieber, als die Ufer dieses mächtigen Flusses.

Alena Trofimtschenko,
Studentin der staatlichen pädagogischen Universität

„Land-Leben“, Suchobusimskoje, 23.10.2012


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