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Der Norden wurde zur Heimat

30. Oktober – Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen

Das Mädchen, das im Hohen Norden in der Siedlung Worogowo, Turuchansker Bezirk, Region Krasnojarsk, im zweiten Kriegsjahr geboren wurde, hätte sich nicht träumen lassen, dass ihre Familie nicht zufällig hierher geriet.

Die rauen nördlichen Winter, der mächtige Jenissei, die unermesslichen Weiten der Taiga, die einen im Sommer und Herbst überreichlich mit Kronsbeeren, Moosbeeren, Pilzen, Zirbelnüssen beschenken – und der Fluss mit Fischen; all das war heimatlich-vertraut. Und sie wuchs im Umfeld ihrer lieben Angehörigen, ihr nahestehenden Menschen auf – Vater und Mutter, zwei Geschwister, Oma und Opa väterlicher- und mütterlicherseits.

Erst als Jugendliche erfuhr Sina Kornienko, dass ihre Großeltern zusammen mit den Kindern Anfang der 1930er Jahre verfolgt und aus dem Altai-Gebiet in den entlegenen Turuchansker Bezirk ausgewiesen wurden.
Schon lange heißt sie Sinaida Antonowna Reschetowa; seit vielen Jahren lebt sie mit ihrem Mann Nikolai Petrowitsch in Suchobusimskoe, beide sind in Rente. Davor hat sie im Postamt gearbeitet und ihr Mann in der Bezirksverwaltung.

Als sie uns ihre Erinnerungen an die Kindheit mitteilte, gestand Sinaida Antonowna, dass sie weder von den Eltern, noch von den Großvätern jemals etwas davon hörte, weshalb sie eigentlich zur Verbannung verurteilt worden waren – diese achtbaren, fleißigen Leute.

- Vielleicht deswegen, weil wir so fleißig waren, nie die Hände in den Schoß gelegt haben, bestrebt waren, aus dem Elend heraus zu kommen, wie alle Bauern, die keine Eile damit hatten, der Kolchose beizutreten, - stellt sie ihre Vermutungen an.

Die Familien der Verbannten Jefim und Jefrossinja Kornienko und Fjodor und Maria Panassenko mit ihren Kindern trafen gleichzeitig im Norden ein, lebten dort wieder auf, zogen ihre Kinder groß und verschwägerten sich im Laufe der Zeit. Anton Kornienko heiratete Jelisaweta Panassenko. Sie bekamen vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Das dritte Kind war Sinaida.

Sinaida Antonowna erinnert sich noch gut an ihren Großvater Jefim Aberjanowitsch. Er war ein hochgewachsener, schöner alter Mann mit Vollbart. Ein gediegener Ofensetzer. In Worogowo genoss der meisterliche Alleskönner großen Ruhm. Jeder, den es in seiner Hütte nach einem Ofen verlangte, bestellte Awerjanowitsch zu sich. Sie wussten, dass er seine Arbeit gut, ohne irgendwelche Fallen, machte. Er führte eine vernünftige Lebensweise und es fehlte bis zu seinem Tode nur noch ein Jahr, bis er hundert geworden wäre.

Sinaida Antonownas Vater – Anton Jefimowitsch – war in der Siedlung ein geachteter Mann. Nachdem er ausgelernt hatte, arbeitete er als Direktor der Waldwirtschaft – war dort rund um die Uhr tätig, während Mutter Jelisaweta Fjodorowna gezwungen war, die Arbeit im Speiseraum liegen zu lassen, wenn ihre vier Kinder ihr am Rockzipfel hingen. Ihre Familie lebte einträchtig und glücklich zusammen, die Kinder wuchsen mit Liebe auf; vielleicht wurden auch deswegen so gute Menschen aus ihnen, obwohl das Etikett der Verfolgten bis in die 1950er Jahre an ihnen hängen blieb. Gott sei Dank kam die Zeit, in der sie dann rehabilitiert wurden. Doch Sinaida Antonowna, damals ein elfjähriges Mädchen, erinnert sich noch gut an den kalten Sommer des Jahres 1953, in denen sich die Ereignisse überschlugen – wie in dem gleichnamigen Film.

Nach dem Todes des Führers aller Völker Josef Stalin kam ein Staatsdekret über die Rehabilitierung eines Teils der Gefangenen heraus. Der Freilassung aus den Lagern unterlagen auch viele Kriminelle, andere flohen einfach.

Auf dem Jenissej zogen Schiffe die Lastkähne mit den Häftlingen. Die Bewohner von Worogowo beobachteten vom Ufer aus, wie manche sich ihrer Kleidungsstücke entledigten und gegenüber der Siedlung ins Wasser sprangen, in der Hoffnung, bis ans Ufer schwimmen zu können. Einige ertranken in dem schnell dahin fließenden, kalten Wasser, anderen gelang es, das Ufer zu erreichen. Die Kriminellen, die am Leben blieben, begannen herum zu wüten: sie mordeten und beraubten mehrere Familien, die am Dorfrand wohnten, unter ihnen auch den ortsansässigen Uhrmacher. Sie versuchten auch, ins Haus der Kornienkos einzudringen, aber Großvater Jefim hatte an der Veranda Heugabeln aufgestellt. Schließlich verbargen sie sich im Wald. Zur Ergreifung der Banditen wurden Milizionäre losgeschickt; auch Freiwillige aus den Reihen der ortsansässigen Jäger rief man herbei. Die Kinder waren in der Schule, ihr Weg führte durch den Wald – für gewöhnlich wurden sie von bewaffneten Erwachsenen begleitet. Im Herbst wurden die entflohenen Gefangenen gefasst, und erst dann konnten die Bewohner der Siedlung wieder frei durchatmen.

Ein seltener Fall, doch das Leben in der Familie der Verfolgten fügte sich günstig. Die kleinen Kornienkos wuchsen heran, erhielten eine Ausbildung, gründeten ihre eigenen Familien. Die älteren Töchter wurden, nachdem sie das medizinische Institut absolviert hatten, Ärztinnen, der Sohn – Doktor-Anwärter, Dekan an der Sibirischen Technischen Universität. Die jüngste Schwester, Sinaida Antonowna absolvierte das Finanz-Technikum; sie lebt als einzige auf dem Lande.

Ludmila Dubakowa
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 26.10.2012


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