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Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen

Unverheilte Wunden

Liebe Freunde und Kollegen! Euch allen sind in der Vergangenheit sehr schwere Schicksalserprobungen zuteil geworden: Aberkennung der bürgerlichen Rechte, Waisendasein, Hunger, Kälte, Verlust des heimischen Herdes, Trennung (mitunter für immer) von Verwandten und Nahestehenden, körperliche Schwerstarbeit, die von Kränkungen und Demütigungen begleitet war. Und das alles ohne die geringste Schuld auf unserer Seite. So etwas kann man nicht vergessen, und die Erinnerung daran lebt in unseren Herzen als unverheilte Wunde weiter.

Am Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen bringe ich euch mein aufrichtiges Mitgefühl bezüglich der ertragenen, schlimmen Entbehrungen und Verluste von Verwandten und Nahestehenden zum Ausdruck bringen. Die Einen wurden erschossen, die Lebensdauer der Anderen wurde durch körperliche und moralische Leiden verkürzt. Und sie fanden keinen Schluss, kein Ende …

Was gab uns die Kraft, unter solchen Bedingungen zu überleben? Ich glaube es war – die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass früher oder später das Ende dieser Leiden kommen würde. Und wenn auch nicht uns, so sollte es wenigstens unseren Kindern einmal besser auf dieser Erde gehen. Wir begriffen, dass man alles daran setzten musste, damit nur nicht den Kindern auch so ein Schicksal wie das unsere zu Teil würde.

Und dann kam der Tag. Heute Gedenken wir jener, die diesen Tag nicht mehr erleben durften, und wir werden alles tun, um das Leben der Übriggebliebenen zu erleichtern. Von ganzem Herzen wünsche ich euch ganz viel Lebensmut! Freut euch über jeden einzelnen Tag und habt Mitleid miteinander.

Ich schlage den Lesern des „Krasnojarsker Arbeiters“ vor, sich mit einigen Briefen und Erinnerungen jener Leute vertraut zu machen, die am eigenen Leib erfahren haben, was es mit solchen Repressionen auf sich hat.

E. ZUZKAREWA, Vorsitzende der Vereinigung der Rehabilitierten in der Region Krasnojarsk.

***

Zum Aussterben verurteilt

Ich war 8 Jahre alt, als sie am 28. Februar 1938 meinen Vater Tit Grigorjewitsch Dolenko, Tischler und Zimmermann in der Baschenowsker Fleisch-Sowchose in der Region Krasnojarsk, einen Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, wegen antisowjetischer Propaganda verhafteten. Zurück blieb meine Mutter, Pelageja Grigorjewna Dolenko, Viehzüchterin in derselben Sowchose, mit neun Kindern an den Rockzipfeln.

Am 1. März 1938 wurde der Vater durch Urteilsbeschluss einer Troika in Kansk erschossen, sein Bestattungsort ist mir nicht bekannt. Und ich denke immer wieder: womit kann mein Vater, ein Analphabet, der Sowjetmacht und unserem Staat nur so geschadet haben, dass man ihn nicht einfach nur einsperrte, sondern gleich erschoss?! Denn mit einem solchen Urteil war unsere gesamte Familie praktisch dem Untergang geweiht.

Die Mutter wurde nach der Verhaftung des Vaters gelähmt. Sie verlor die Fähigkeit sich zu bewegen und zu sprechen. Das Etikett „Familie eines Volksfeindes“ entzog uns die Möglichkeit die Mutter behandeln zu lassen und materielle Hilfe zu erhalten. Was ihr durchgemacht habt, würde man seinem ärgsten Feind nicht wünschen.

Der älteste Bruder Iwan lebte allein und kam 1940 ums Leben – er ertrank im Fluss Kann. Der zweite Bruder, Nikolai, wurde im Herbst 1939 in die Armee einberufen. Im Sommer 1941 holten sie auch die Brüder Petr und Ilja zur Armee und schickten sie an die Front. Petr fiel, Ilja kehrte 1943 als Invalide zurück.

1941 waren außer der gelähmten Mutter nur noch fünf von uns Kindern übriggeblieben: Maria – von Geburt an behindert, sie war 15, Bruder Mitja – 14, Nadja – 7, Valentina – 3 und ich.

Die kinderreiche Familie hatte nun keinen Ernährer und keinerlei Existenzmittel mehr. Während des Krieges und der nachfolgenden drei Jahre lebten wir in großem Elend. Als noch Krieg herrschte, erledigten Maria und Mitja in der Sowchose ungelernte Arbeiten, die mitunter all ihre Kräfte überstiegen.

Meine Pflicht in diesen Jahren bestand in der Pflege der gelähmten Mutter sowie der Sorge um die Schwestern und den Bruder. Und außerdem wollte ich so gern zur Schule gehen. Und, soweit ich mich erinnern kann, wollte ich auch ständig essen. Im Sommer 1942 schickten sie mich zum Arbeiten in einen Viehzuchtbetrieb. Ganz gleich wie schwierig die Arbeit auch war – damals nahmen wir jede beliebige Tätigkeit an, um nur nicht vor lauter Hunger zu sterben.

Nach Beendigung der vier Klassen an der Grundschule des Dörfchens Leontjewka, musste ich mich für den Besuch der 5. Klasse ins Nachbardorf Taina begeben, wo es eine 7-Klassen-Schule gab. Die Kinder gingen viele Kilometer zu Fuß, um dorthin zu gelangen. Es gab weder Lehrbücher noch Schreibhefte. Aber meine Beharrlichkeit und Standhaftigkeit halfen mir dabei diese 7-Klassen-Schule zu absolvieren.

1944 übertrugen sie mir einen Arbeitsplatz als Tierarztgehilfin. Es war eine sehr schwere Arbeit. Die Farm diente als Isolierstation für an Brucellose erkranktes Vieh. Dennoch gefiel es mir an diesem Arbeitsplatz, und nach dem Besuch der Bezirkskolchos-Schule erhielt ich die Berufsbezeichnung eines tierärztlichen Mitarbeiters und arbeitete auf diesem Posten bis 1972.

Im Jahr 1972zogen die Familie und ich in die Siedlung Berjosowka um. Hier nahm ich eine Arbeit an der Sanitäts- und Epidemie-Station als Arzthelferin und Laborantin auf und ging von dort 2001 in Rente. Trotz allem ist mein Leben doch gut verlaufen. Für meine gewissenhafte Arbeit habe ich Belobigungen erhalten. Mein Mann und ich haben drei Töchter großgezogen, wir haben drei Enkelinnen und einen Urenkel.

2011 wurde in unserer Siedlung Berjosowka ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen errichtet. Wir, einst repressierte Einwohner, sind der Verwaltung dafür dankbar. Nun gibt es einen Ort, zu dem man gehen, seiner im Sturm der politischen Verfolgungen umgekommenen Väter gedenken, Blumen und Kränze niederlegen kann.

Gotte, bewahre unsere Kinder vor solchem Grauen, wie wir es durchgemacht haben.

Ljubow DOLENKO, Siedlung Berjosowka

***

Wir haben die Heimat gewechselt

1951 war ich 15 Jahre alt. Zu dieser Zeit wurde unsere Familie enteignet und zur Ansiedlung nach Sibirien geschickt. Wir hatten eine Hilfswirtschaft, unser Haus, Kühe und Pferde. Das wurde alles verstaatlicht.

Als wir die heimatlichen Gefilde verließen, nahmen wir lediglich ein Bündel mit den allernotwendigsten Dingen mit. Zuerst beförderte man uns mit Lastwagen, die eigentlich für den Transport von Vieh bestimmt waren, danach mit dem Zug, der aus 42 Waggon zusammengestellt worden war. Darin wurde ein ganzer Bezirk mit Einwohnern aus der Litauischen SSR untergebracht.

In den Viehwaggons war es furchtbar eng, denn sie waren mit Menschen völlig überladen. Während der Fahrt fahren die Waggontüren verschlossen, damit mir nicht fliehen konnten. Innerhalb von zwei Wochen bekamen wir nur ein einziges Mal zu essen, und Wasser gaben sie uns nur, wenn der Zug für längere Zeit hielt. Die Menschen hungerten, und diejenigen, di3e eine schwache Gesundheit hatten und an Entkräftung litten, starben unterwegs. An den Zughalten wurden die Leichen hinausgetragen

So kamen wir schließlich in Krasnojarsk an. Am Bahnsteig stiegen wir aus, und dann brachten sie uns mit Lastwagen zum Flussbahnhof. Als der Flussdampfer „Friedrich Engels“ anlegte, wurden wir unter der Bewachung von NKWD-Mitarbeitern in die Frachträume verladen. Auf dem Dampfer spielte Musik, und es waren sogar Kioske in Betrieb, an denen sie Wodka verkauften. Später allerdings verboten die NKWD-Leute den Verkauf alkoholischer Getränke.

Wir trafen an der Anlegestelle Saliw ein. Mit vor Leiterwagen gespannten Pferden und Ochsen beförderten sie anschließend unsere Sachen in die jeweiligen Dörfer; wir selber mussten zu Fuß gehen. In dem Dorf Saliw, das 50 Höfe zählt, übernachteten wir im Kontor der Kolchose, die den Namen Molotow trug.

Am nächsten Morgen wurden wir auf Häuser verteilt und dann zum Kolchosstützpunkt gebracht, wo wir Kartoffeln für uns sammelten. Ich kann mich noch daran erinnern, dass unsere Essvorräte zu dieser Zeit so gut wie zur Neige gegangen waren.

In der Kolchose machten wir Brennholz für die Dampfer der Organisation „Union-Gold“. Man gab uns spezielle Kleidung, und die Norm für die zu schaffende Brennholzmenge wurde pro Erwachsenen auf 4 Kubikmeter festgesetzt. Wir lebten bei Altgläubigen – in einem großen Haus. Einmal in der Woche gingen wir zu Fuß nach Hause nach Saliw. Und zurück liefen wir beladen mit Stofftaschen, in denen sich Lebensmitteln befanden.

Sie ließen uns am 28. März 1958 frei und erlaubten uns, die Sondersiedlung zu verlassen, aber zu der Zeit waren wir schon alle zu Sibirjaken geworden. Meine Eltern Jesos Tado Balinskas und One Jono Balinskas waren in Litauen Mittelbauern gewesen, aber in Sibirien mussten sie in einer Kolchose arbeiten. Sie träumten davon, in die Heimat zurückzukehren, aber sie sind hier gestorben. Und für meine Kinder und Enkelkinder wurde die Region Krasnojarsk zur kleinen Heimat.

Man kann überall leben. Aber besser ist es, wenn der Mensch seinen Wohnort selber wählt, und es nicht so kommt, dass man ihn, den Unschuldigen, von einem Ort zum anderen treibt, wie Vieh – aus irgendeiner Laune heraus.

S. BALINSKAS, Sosnowoborsk

„Krasnojarsker Arbeiter“, 30.10.2012


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