30. Oktober – Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen
Seit 1991 wird der 30. Oktober als Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen begangen. An diesem Tag finden Begegnungen und verschiedene kulturelle Veranstaltungen statt, in deren Verlauf die Menschen derer gedenken, die unter den politischen Verfolgungen zu leiden hatten. In einigen Schulen werden „lebendige“ Geschichtsunterrichtsstunden organisiert, zu denen Zeitzeugen der tragischen Ereignisse eingeladen werden.
Gedenkstein für die Opfer politischer Repressionen auf dem
Roten Hügel in Motygino
Am 30. Oktober 1974 wurde auf Initiative Kronid Ljubarskijs und anderen Gefangenen mordwinischer und permer Lager der „Tag des politischen Häftlings“ begangen. Man Tat dies mit einem Hungerstreik und dem Entzünden von Kerzen zur Erinnerung an die unschuldig Umgekommenen. An jenem Tag hielt Sergej Kowaljow in der Wohnung von A.D. Sacharow in Moskau eine Presse-Konferenz ab, auf der man eine Erklärung zu der erfolgten Aktion gab, Dokumente aus dem Lager zeigte; außerdem wurden dort seitens der Moskauer Dissidenten Ansuchen vorgebracht sowie eine frische Ausgabe der „Chronik des Zeitgeschehens“ demonstriert (einem illegalen Menschenrechtsbulletin, das in den Jahren 1968-1983 erschien), in dem über jene Geschehnisse berichtet wurde. Einige Monate später wird diese Presse-Konferenz zu einem der Anklagepunkte gegen eben diesen Kowaljow.
Später fanden an jedem 30. Oktober Hungerstreiks politischer Gefangener statt und, ab 1987, Demonstrationen in Moskau, Leningrad, Lwow, Tbilissi und anderen Städten. Am 30. Oktober 1989 bildeten etwa 3000 Menschen mit Kerzen in den Händen eine „lebende Kette“ um das Gebäude des KGB der UdSSR. Nachdem sie sich von dort zum Puschkin-Platz begeben hatten, um dort eine Demonstration durchzuführen, wurden sie von der OMON (Kampftrupps des russischen Innenministeriums; Anm. d. Übers.) auseinander getrieben.
Die politischen Repressionen in Sowjet-Russland begannen unmittelbar nach der Oktober-Revolution im Jahre 1917. Dabei wurden nicht nur aktive politische Gegner der Bolschewiken Opfer der Repressionen, sondern auch Menschen, die sich einfach nur mit deren Politik nicht einverstanden erklärten. Ferner wurden die Repressionen aufgrund sozialer Merkmale durchgeführt (gegen ehemalige Angehörige der Polizeitruppen, Gendarmen, Beamte der Zarenregierung, Geistliche sowie ehemalige Arbeitgeber und Unternehmer).
Bereits im Jahr 1934 schrieb der Akademiker I.P. Pawlow an den Rat der Volkskommissare der UdSSR: „Wir lebten und leben unter einem unnachgiebigen Regime des Terrors und der Gewalt. Wenn man unsere bürgerliche Realität vollständig und lückenlos, mit all ihren alltäglichen Einzelheiten, wiedergeben wollte, entstünde daraus ein erschreckendes Bild, und der Eindruck würde sich bei den gegenwärtigen Menschen nicht einmal dann abschwächen, wenn man daneben ein anderes Bild entstehen ließe – mit wunderbaren, aus dem Boden gestampften Städten, Dnjepr-Bauprojekten, gigantischen Fabriken und unzähligen Lehr- und Ausbildungseinrichtungen“.
Mit Beginn der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der beschleunigten Industrialisierung Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre sowie der Festigung der persönlichen Macht Stalins nahmen die politischen Verfolgungen Massencharakter an. Ein ganz besonderes Ausmaß erreichten sie 1938 und 1938, als hunderttausende von Bürgern erschossen und in die Lager des GULAG geschickt wurden – angeklagt, weil sie angeblich politische Verbrechen begangen hatten.
Mit unterschiedlicher Intensität setzten sich die politischen Repressionen bis zu Stalins Tod im März 1953 fort.
W.M. Molotow (Volkskommissar für Innere Angelegenheiten der UdSSR) erklärte die Gründe für den „Großen Terror“ folgendermaßen: „Das Jahr 1937 war unumgänglich. Wenn man berücksichtigt, dass wir nach der Revolution, ohne Rücksicht auf Verluste, nach rechts und links geschlagen haben, haben wir den Sieg davongetragen, aber es gab immer noch Überreste von Feinden unterschiedlicher Richtungen; und vor dem Angesicht der drohenden Gefahr einer faschistischen Aggression hätten sie sich zusammenschließen können. Denn es gab und gibt sogar unter den Bolschewiken solche, die gut und treu ergeben tun, so lange alles in Ordnung ist, so lange dem Land und der Partei keine Gefahr droht. Aber wenn irgendetwas dazwischen kommt, fangen sie an zu zittern und springen über. Meiner Meinung nach hat Stalin einen ganz richtige Linie verfolgt: lass den überflüssigen Kopf davon fliegen; dann gibt es während des Krieges und danach auch keine Schwankungen“. Nach Ansicht Molotows stellten die Massen-Repressionen eine „prophylaktische Säuberung“ ohne besondere Grenzen dar.
Die Massen-Verfolgungen brachten dem Land große Verluste: eine bedeutsamer Teil der wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Personenkreise wurde vernichtet. Der Terror gestatte es, das „Lager-Imperium“ noch weiter auszudehnen und in einem nie da gewesenen Maß die Rolle der Zwangsarbeit in der Ökonomie zu verstärken. Millionen sowjetischer Bürger, die aufgrund vollkommen unbegründeter Beschuldigungen verhaftet wurden, wurden in folge der Fälschung ihrer Starfakten ins GULAG geschickt. Insgesamt durchliefen nach manchen Angaben in den 1920er bis 1950er Jahren etwa 10 Millionen Menschen den GULAG.
Die Frage über die Anzahl der politisch Verfolgten ist bis heute Gegenstand scharfer Diskussionen geblieben. Heute ist nur eines ganz sicher – der Terror berührte Millionen Menschen in Form von Verhaftungen, Deportationen, Zwangsarbeit und Verbannung.
In dieser Zeit der Repressionen erscheinen in der Presse „enthüllende“, Artikel über angebliche „Volksfeinde“ und aufsehende Prozesse, welche gegen sie geführt werden. Hier das Beispiel einer Notiz von Arbeitern einer Maschinen- und Traktoren-Station im Gebiet Orenburg, die von der „sowjetische Aufklärung begeistert“ waren und in der Zeitung „Prawda“ (Wahrheit; Anm. de. Übers.) 1938 veröffentlicht wurde: „Die Feinde versuchten ihre blutige Hand gegen den Führer der Völker, den Genossen Stalin, zu erheben – gegen den Mann, der uns in ein helles, wohlständiges Leben geführt hat; sie wollten den ruhmreichen Volkskommissar und Genossen Jeschow umbringen und auf Führer von Partei und Regierung Attentate verüben. Die Versammelten sind begeistert von der sowjetischen Aufklärung und danken den Tschekisten, die unter der Leitung des Genossen Jeschow die verbrecherische trotzkistisch-bucharinsche Bande enthüllt haben“.
Einfache Staatsbürger heißen Todesurteile gut, ohne zu ahnen, dass die Geständnisse der Verurteilten nicht selten mit Foltermethoden und Drohungen aus ihnen herausgeprügelt wurden. Noch während der „Tauwetter“-Periode unter Chruschtschow realisierte die Staatsanwaltschaft die Revision einer Reihe von politischen Prozessen und Gruppen-Gerichtsfällen. In allen Fällen enthüllte die Überprüfung grobe Fälschungen, wenn „Geständnisse“ unter der Anwendung von Foltern herausgepresst worden waren.
Das menschliche Leben ist unbezahlbar. Der Mord an unschuldigen Menschen ist mit Nichts zu rechtfertigen – egal, ob es sich nur um einen einzigen Menschen handelt oder um eine Million. Und wir sollten unsere nicht eben einfache Vergangenheit nicht der Vergessenheit anheim fallen lassen.
Michail Sacharzow,
nach Materialien der Gesellschaft für Geschichtsaufklärung „Memorial“
„Angarsker Arbeiter“, 30.10.12