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Im Güterwaggon zum Mütterchen-Sibirien

Die Geschichte der russischen Erde ist eine lange, und viele Ereignisse stehen in ihrem Buch geschrieben – teils mit Blut, teils in goldenen Buchstaben. Hinter jeder Zeile steht ein ganz konkreter Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen, seinem Verstand, seinem Herzen und seiner Seele.

Die Historie lässt sich leider nicht umschreiben. Aber um eine Wiederholung der Fehler nicht noch einmal zuzulassen, muss man sie studieren, analysieren und versuchen zu verstehen. Mit meinen nächsten Angehörigen hat das Leben einen bösen Streich gespielt. Geschah das aufgrund einer ungerechten Anordnung der Landesregierung oder handelte es sich vielleicht um eine Fügung von Umständen, so dass es nicht möglich war, anders vorzugehen?

Meine Mutter wurde um 6 Uhr morgens geboren, an dem Tag, an dem das ganze Land einen Feiertag beging und zu den Kundgebungen ging. Wie Mamas Mutter Emilia Filippowna Miller (Ehename Schott) erzählte, hatte der glückliche Vater, Alexander Petrowitsch, aus diesem Anlass das Blasorchester ins Haus gebeten, das auf der Kundgebung spielte. Zu der Zeit arbeitete er als Vorsitzender des Dorfrats in dem Dorf Franzosen, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow, Deutsche Republik.

So feierten sie den Tag der Geburt des fünften Kindes – Minna, mit richtiger Musik. Damals gab es in der Familie bereits drei Jungs: Sascha, Leo, Reinhold sowie eine Tochter namens Eleonora. Sie lebten einträchtig miteinander und es ging ihnen gut, bis eine schreckliche Dürre das Land heimsuchte – die Ernte wurde vernichtet, die Menschen begannen zu hungern. Nach dem ersten Elend kam ein weiteres – eine Typhus- und Malaria-Epidemie brach aus. Wie in vielen anderen Familien ereignete sich auch bei uns ein Unglück – im Sommer 1931 starb Mamas Vater Alexander Petrowitsch Schott und eine Woche später Mamas Bruder Arnold. Emilia Filippowna blieb mit vier Kindern am Rockzipfel allein zurück. Um zu überleben, beschloss sie nach Kasachstan zu fahren.

Dort wohnten sie in irgendeiner Kolchose – zusammen mit mehreren Familien in einem großen Zelt, auf freiem Feld. Emilia Filippowna fand eine Arbeit in der Kolchose, um Brot zu bekommen, und die Familie ernähren zu können, und ihre Söhne und Töchter schickte sie in den Kindergarten. In jener Kolchose blieben sie nicht lange, nur zwei oder drei Monate. Nach dem durchgestandenen Hunger waren die Kinder schwächlich, ihre Organismen waren gegenüber Krankheiten nicht hinreichend widerstandsfähig. Nacheinander starben drei von ihnen; nur die Jüngste, meine Mama, blieb am Leben. Emilia Filippowna beschloss, um sie zu retten, in die Heimat zurück zu kehren.

In Franzosen ließen sie sich wieder in ihrem Haus nieder. Emilia Filippowna fand einen Arbeitsplatz in der Kolchose. Darüber schrieb sie ihrem Bruder Alexander Filippowitsch Miller, der mit seiner Familie in dem Dorf Grimm wohnte. Einmal kam der Bruder mit seinem Freund Alexander Andrejewitsch Rau zu Besuch. Und der schlug Emilia vor ihn zu heiraten. Sie hatten sich auch schon früher gekannt, denn in ihrer Kindheit hatten sie in der Nachbarschaft gelebt. Bei Alexander Andrejewitsch war zu der Zeit ihrer Begegnung gerade die Ehefrau gestorben und hatte ihn mit vier Kindern zurückgelassen.

Emilia Filippowna willigte in die Heirat ein und zog mit ihm nach Grimm. Auf diese Weise bekam meine Mama eine neue große Familie mit den Halbschwestern Irma, Maria, Emma und dem Bruder Sascha; später wurde noch Wolodja geboren. Und trotz dem suchte sich Emilia Filippowna eine Arbeit in der Kantine: das Geld war nötig, um die Ausbildung für die Kinder nach Abschluss der siebten Klasse zu bezahlen; die Kinder besuchten die deutsche Schule.

Sie lebten einträchtig miteinander. Alexander Andrejewitsch, das Familien-Oberhaupt, arbeitete in der Kolchose. Emilia Filippowna war, neben allen anderen Arbeiten, auch noch mit Handarbeiten beschäftigt – sie nähte Kleidung für die ganze Familie, stickte und strickte. Aber 1939 erkrankte meine Großmutter an einer Lungenentzündung; man brachte sie ins Krankenhaus der Stadt Balzer, wo sie am 11. August verstarb. Minna war damals noch keine 12 Jahre alt.

Emilia Filippownas Bruder half der Familie von Mamas Mutter die ganze Zeit so gut er konnte, obwohl er selber eine zehnköpfige Familie zu versorgen hatte: er und seine Frau, fünf Töchter – Bert, Theresa, Frieda, Irma und Eleonora, sowie drei Jungs – Leo, Reinhold und Sascha. Alexander Filippowitsch arbeitete als Uhrmacher; er war, genau wie Mutters Vater Alexander Petrowitsch Schott, ein überzeugter Kommunist. Aber 1935 wurde er auf Anordnung Berijas mitten in der Nacht verhaftet und mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Er wurde nie wieder gesehen. Bekannt ist nur eines: zu der Zeit wurden alle ehemaligen Offiziere der Zarenarmee erschossen.

Alexander Filippowitsch hatte einen Cousin namens Fjodor Fjodorowitsch Miller, der irgendwann einmal in der Zarenarmee als Offizier gedient hatte; ihnen hätten sie eigentlich auch verhaften und erschießen müssen. Aber während der Verhaftung war es Alexander Filippowitsch gelungen, seiner Ehefrau ins Ohr zu flüstern, dass diese ihn vorwarnen sollte. In der Nacht versteckte sich Fjodor Fjodorowitsch bei Nachbarn auf dem Heuboden, und am Morgen zog er sich ein Frauenkleid an, trat auf die Straße hinaus und fuhr auf irgendeine Art und Weise nach Stalingrad. Nach einiger Zeit zog seine Familie heimlich zu ihm um, und sie alle blieben am Leben.

Leider ist Fjodor Fjodorowitch inzwischen schon nicht mehr am Leben. Einer seiner Töchter lebt mit ihrer Familie in Kysyl, die anderen – in der Stadt Prokopjewsk im Gebiet Kemerowo. Mit diesen Familien traf Mama Minna zufällig im Jahre 1971 zusammen. In unser Dorf Worogowo kam Rosa Fjodorowna Miller,und meine Mama bemerkte, als sie begrüßen wollte, in ihrem Gesicht eine große Ähnlichkeit mit Fjodor Fjodorowitsch.

Am 22. Juni 1941 wurde die Deutsche Republik, ebenso wie ganz Russland, von einem großen Unglück heimgesucht, das niemand erwartet hatte – der Krieg brach aus. Im September wurden alle Wolga-Deutschen, ohne sie Essen oder Koffer mitnehmen zu lassen, wie Vieh auf Güterwaggons verladen und zum Mütterchen Sibirien abtransportiert – nach Nischnij Ingasch. Für den Winter wurden sie auf die nahegelegenen Dörfer verteilt. Meine Mutter Minna Alexandrowna kam in das Dorf Pokrowka. Ihr Arbeitsleben begann sie im Alter von 14 Jahren in einer Kolchose.

Im Sommer 1942 wurden alle Deutschen erneut gesammelt und zum Jenisej gebracht. Nachdem man die Familien auf Lastkähne verladen hatte, fuhren sie flussabwärts, wobei an jeder kleinen Siedlung ein paar Familienabgesetzt und dort zurückgelassen wurden. Mama und ihre Halbschwestern aus der Familie Rau kamen mit dem Kahn ins Dorf Ponomarjowo im Jenisejsker Bezirk. In aller Eile mussten sie sich Erdhütten und notdürftige Hütten bauen.

Da die Menschen an warmes Klima gewöhnt waren, ertrugen sie die sibirischen Fröste nicht, und es besaß auch nicht jeder wärmende Kleidung. Sie wurden krank und starben wie die Fliegen – vor Hunger und Kälte.

Mama schickten sie zum Arbeiten an den Fluss Kas (ein Zufluss des Jenisej), in die Waldwirtschaft Schertschenko. Sie rollte Baumstämme vom Berg bis ans Wasser, damit daraus im weiteren Verlauf Flöße zusammengebaut werden konnten, die man den Jenisej flussabwärts, bis nach Dudinka, schickte. Von dort wurden sie für den Export ans Meer gebracht. Bald darauf erlitt Mama, aufgrund mangelnder Erfahrung und Fertigkeiten, eine Beinverletzung; man brachte sie ins Krankenhaus. Nach der Entlassung verlegte man sie an einen Arbeitsplatz in der Kantine, wo sie als Gehilfin des Kochs tätig war.

Im Herbst schichten sie Minna los, um eines der Flöße mit nach Dudinka zu begleiten. Mama hegte die Hoffnung, dass sie unterwegs die übrigen Verwandten oder wenigstens ein paar ehemalige Dorfbewohner von der Wolga ausfindig machen könnte, aber ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht. Während sie mit dem Dampfer auf dem Rückweg von Dudinka war, erkrankte sie an Tuberkulose, und man ließ sie im Krankenhaus in Jarzewo. Mama war gerade erst 15 Jahre alt. Drei Monate lag sie im Krankenhaus; dann fand sie wieder eine Arbeit in der Kantine, aber die NKWD-Mitarbeiter erlaubten ihr nicht dort zu bleiben. Verbannte durften damals nur Schwerstarbeiten verrichten – im Wald oder in der Kolchose. So kam Mama in der Kolchose unter und blieb dort bis 1951, wobei sie sich ständig in der Kommandantur melden und registrieren lassen musste. Es war verboten den Ort zu verlassen.

1951 schickten sie Mama in Begleitung des Revierhauptmanns der Miliz, Alexander Alexandrowitsch Makejew, in die Waldwirtschaft von Jarzewo, in das Dorf Worogowo. Man hatte ihm befohlen auf sie Acht zu geben. Mama musste im Wald und an der Senkin-Flößstelle Hilfsarbeiten ausführen. 1952 lernte Minna Alexandrowna meinen Papa kennen – Nikolaj Aleksejewitsch Jelisarjew.

Anfangs traten die Ortsbewohner den Repressierten mit gespannter Vorsicht entgegen; man hielt sie für Volksfeinde. Papa wurde noch nicht einmal erlaubt Mama zu heiraten; er musste dafür seinen Komsomolzen-Mitgliedsausweis opfern. Alle politisch Verfolgten und Enteigneten lebten von der alteingesessenen Bevölkerung des Dorfes Worogowo getrennt, an der Strelka, einem entlegenen Nebenfluss mit dem Namen Schar. Hier wurde zum ersten Mal eine Schule mit acht Klassen errichtet, und die Kinder aus Worogowo besuchten dort den Unterricht. Heute höre ich von den Menschen, die damals mit den Repressierten zusammenlebten, über die Verbannten nur Gutes.

Meine Eltern, Nikolaj Aleksejewitsch und Minna Alexandrowna haben drei Kinder großgezogen: Olga, Wladimir und mich. Sie kehrten nach der Verabschiedung des Ukas über die Rehabilitation nicht an die Wolga zurück, sondern blieben zum Leben und Arbeiten auf sibirischem Boden, der für sie bereits zur Heimat geworden war.

Valentina Jelisarjewa, Buchhalterin, Krasnojarsk.

Auf dem Foto: Die Deportation der Wolga-Deutschen nach Sibirien. (Anm. d. Red.: nach den Schulterstücken zu urteilen, handelt es sich um eine spätere Aufnahme).

„Krasnojarsker Arbeiter“, 17.11.2012

 


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